Nicht leiden können

Renate Wallert, Jürgen Chrobog, Susanne Osthoff und jetzt die Ingenieure aus Leipzig: Unsere Geiseln haben's doppelt schwer. Denn die Deutschen zeigen nur ungern Mitgefühl.

99 Tage dauerte das Martyrium von René Bräunlich und Thomas Nitzschke, bis sie am Dienstag vergangener Woche endlich aus der Geiselhaft im Irak entlassen wurden. Der Tag war auch das glückliche Ende einer Reihe von Entführungen, wie sie die Bundesrepublik seit fast dreißig Jahren nicht mehr erlebt hatte. Es begann Ende November 2005, als die Archäologin Susanne Osthoff während einer Autofahrt durch den Irak entführt wurde; im Dezember kidnappten Angehörige eines jemenitischen Stammes den deutschen Ex-Diplomaten Jürgen Chrobog und seine Familie; kaum einen Monat später fielen dann die zwei jungen Männer aus Sachsen in die Hände irakischer Geiselnehmer. Das Gefühl machte sich breit, Deutschland – obwohl nicht direkt militärisch im Irak engagiert – müsste plötzlich das Schicksal kriegführender Staaten wie der USA, Großbritanniens oder Italiens teilen. Und hörte man ganz genau hin, war in manchen Berichten auch ein klein wenig Stolz zu bemerken, nun zum Kreis der ganz Großen zu gehören.

Die Charaktere dieser deutschen Entführungsopfer sind so unterschiedlich, wie man sie sich unterschiedlicher kaum vorstellen kann: Susanne Osthoff, eine sehr engagierte, aber auch sehr widersprüchliche Persönlichkeit, die immer auch einen verlorenen Eindruck machte; Jürgen Chrobog, der preußisch anmutende ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, der mitsamt Familie auf Bildungsreise in den Jemen gefahren war; René Bräunlich und Thomas Nitzschke, die in der irakischen Stadt Beidschi eine Maschine für so etwas Erstaunliches wie Luftzerteilung installieren sollten.

Aber so verschieden die Lebenswege der Entführten auch sind, die Rezeption ihrer Schicksale in der Öffentlichkeit verlief nach einem verblüffend ähnlichen Muster: Dem ersten Schreck folgte eine schwache Solidarisierung, schon nach kurzer Zeit aber wurde Kritik an den Motiven des Auslandsaufenthalts der Opfer laut. Am Ende begegnete ihnen die Öffentlichkeit mit Gleichgültigkeit (Bräunlich, Nitzschke), Misstrauen (Chrobog) oder gar Feindseligkeit (Osthoff). Während in Italien oder Frankreich zeitweise bis zu einer halben Million Menschen für die entführten Landsleute auf die Straße gingen, schmolz die Gruppe derer, die in Leipzig für die beiden Sachsen demonstrierten, schon nach wenigen Tagen auf ein paar Hundert zusammen. »Vergessen?«, titelte die Bild am fünfzigsten Tag der Geiselnahme von René Bräunlich und Thomas Nitzschke.

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Dabei können die beiden von Glück sprechen, dass sie mit einem Arbeitsauftrag im Irak unterwegs waren. Hilfreich bestimmt auch, dass sie dem hierzulande hoch geschätzten Berufsstand der Ingenieure angehören. Denn wie es einem sonst in der deutschen Öffentlichkeit ergehen kann, zeigt der Umgang mit Susanne Osthoff. Binnen kürzester Zeit mutierte die 43-Jährige von der tapferen, unschuldigen Frau wahlweise zur Verrückten oder zur Rabenmutter. Schließlich, als angeblich 3000 Dollar des Lösegeldes bei ihr gefunden worden waren, galt sie als Betrügerin. Keine Behauptung schien der Öffentlichkeit mehr zu kühn, überprüft wurde nur wenig.

Neun Tage nach ihrer Freilassung wurde Jürgen Chrobog entführt, und die Stimmung in Deutschland war so aufgeheizt, dass sich manche Medien geradezu lüstern auf sein Schicksal stürzten. Es war ja auch eine paradoxe Konstellation: Hatte Chrobog doch – im Auswärtigen Amt einst für Verhandlungen mit Geiselnehmern zuständig – erst kurz vor der eigenen Entführung in einem Interview Reisende kritisiert, die sich in Gefahr begeben, dann aber »eine Rundumversicherung des Staates« erwarteten. So wurden noch während seiner Geiselnahme erste Stimmen laut, er möge sich an den Kosten für seine Befreiung beteiligen. Penibel dokumentierte der Spiegel die Zahlungsmoral des deutschen Beamten: 459,42 Euro habe Chrobog für den Rückflug in einer Regierungsmaschine gezahlt, vermeldete das Nachrichtenmagazin und monierte: »Das entspricht einem einfachen Holzklasseticket nach Deutschland.«

»Kein Recht auf Mitleid?«, fragte der Politologe Wolfgang Kraushaar in der Zeit angesichts solcher Pedanterie. Auch Karin Berndt, Prokuristin der Firma Cryotec, bei der René Bräunlich und Thomas Nitzschke angestellt sind, ließ diese Frage offenbar keine Ruhe. Im vergangenen März fuhr sie nach Rom, um Giuliana Sgrena zu treffen, die Journalistin also, für deren Freilassung im Februar 2005 Hunderttausende in Italien gekämpft hatten. Zurück in Leipzig blieb ihr nur die Erkenntnis: »Hier in Deutschland ist so was ja leider nicht möglich.«

Die Deutschen und ihre Geiseln – es scheint ein schwieriges Verhältnis. Ist einer unserer Landsleute entführt, wird heftig diskutiert, scharf gerichtet und penibel nachgerechnet – bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma. Spontane Solidarität aber gibt es kaum. Mögen die Deutschen ihre Geiseln am Ende einfach nicht?

Vielleicht hilft ein Blick auf die Entführungen der letzten Jahre. Die Chronologie verzeichnet eine Reihe von Geiselnahmen Deutscher im Ausland, mindestens zwölf Fälle mit mehr als dreißig Betroffenen. Darunter so tragische Schicksale wie das des Höchst-Managers Rudolf Cordes, der 1987 in Beirut verschleppt und erst nach 605 Tagen wieder freigelassen wurde. Seinen Namen hat man vielleicht schon einmal gehört, an die näheren Umstände seiner Entführung aber erinnert sich kaum jemand. Denn wirklichen Widerhall in der Öffentlichkeit fanden nur wenige Geiselnahmen. Und dann meist negativ.

2003 wurde eine Gruppe von Abenteuerurlaubern, darunter insgesamt 16 Deutsche, in der Sahara verschleppt. In Deutschland entspann sich – nicht nur an den Stammtischen – eine Diskussion darüber, wie weit der Staat hier helfen muss. Politiker erinnerten »an die Verantwortung des Einzelnen bei der Wahl seines Urlaubsortes für die persönliche Sicherheitslage«, andere kritisierten die Haltung mancher Extrem-Touristen als »Vollkasko-Mentalität«. Eine ähnliche Tonlage herrschte schon drei Jahre zuvor, als im April 2000 auf der Ferieninsel Sipadan im Osten Malaysias die Rebellengruppe Abu Sayyaf 21 Menschen als Geiseln nahm, darunter die deutsche Familie Wallert. Mitte Juli kam die erkrankte Renate Wallert frei, im Herbst dann auch ihr Mann Walter und ihr Sohn Marc.

Es war die Hoch-Zeit des Big-Brother-Containers, und in einer perversen Ähnlichkeit berichteten die Medien monatelang nahezu live aus dem Entführercamp. Die Rollen waren schnell verteilt, die undankbarste wurde Renate Wallert, der »Heulsuse«, zugesprochen. Am Ende stand die Forderung in deutschen Feuilletons, sie doch endlich aus dem Geiselcamp »rauszuwählen«.

Ganz anders die Ansprache bei der wohl bekanntesten Geiselnahme Deutscher im Ausland, knapp 25 Jahre zuvor, bei der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut. Am 5. September 1977, im »Deutschen Herbst«, hatten Terroristen der RAF den damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer entführt, um verurteilte, in Stuttgart-Stammheim einsitzende Gesinnungsgenossen freizupressen. Die Bundesregierung weigerte sich, den Forderungen nachzugeben und am 13. Oktober brachte ein palästinensisches Kommando die Landshut auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt in seine Gewalt. Eine tagelange Odyssee begann, führte über Rom, Zypern, Dubai, Bahrein, Jemen, wo der Anführer des Terrorkommandos Flugkapitän Jürgen Schumann durch einen gezielten Kopfschuss ermordete, und endete in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Dort stürmte ein Kommando der deutschen Anti-Terror-Einheit GSG 9 das Flugzeug, tötete drei der vier Geiselnehmer und befreite die Geiseln. Das Mitgefühl in der Bevölkerung für den ermordeten Flugkapitän war ebenso groß wie das für die Geiseln; der Leiter der GSG 9, Ulrich Wegener, und Krisenmanager »Ben Wisch«, Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski, wurden als Helden von Mogadischu bekannt. Als die RAF zwei Tage später den Fundort der Leiche Hanns-Martin Schleyers bekannt gab, wich die Freude über die Befreiung der Geiseln aufrichtiger Bestürzung.

Weshalb begleitete die gesamte Nation 1977 mit echter Anteilnahme das Schicksal der Entführten, während Opfer wie die Wallerts, die so genannten Sahara-Geiseln oder auch Jürgen Chrobog auf Ablehnung stießen? Sicherlich lag im Deutschen Herbst eine allgemein sensibilisierte Situation vor. Daneben lässt aber auch die Flugroute der Landshut aufhorchen. Sie sollte von Palma de Mallorca nach Frankfurt führen. Selbst wenn damals Mallorca noch nicht wie heute fast als 17. Bundesland zu betrachten, also prak-tisch ein Inlandsflug anzunehmen war, bleibt es auf jeden Fall eine Reise, die viele Deutsche unternehmen konnten oder schon unternommen hatten.

Ähnlich die Situation bei Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer sowie dem Tabakerben und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, dem bekanntesten Geiselopfer der vergangenen Jahre: Beide erfuhren große Anteilnahme, beide wurden aus dem alltäglichen Leben heraus verschleppt, aus Situationen, in denen sich letztlich jeder wiederfinden kann. Dagegen haben bis heute nur wenige Deutsche schon einmal die Sahara durchquert oder, wie die Wallerts, einen Urlaub auf einer malaysischen Trauminsel verbracht.

Eng verbunden mit dem Unterschied von Heimatgefühl und Fernweh ist ein anderer Umstand für das öffentliche Missbehagen, das die deutschen Entführungsopfer immer begleitete: ihr Lebenswandel. Das Misstrauen gegenüber dem Mut, aber vor allem der Unabhängigkeit einer Susanne Osthoff, die in der Talkshow Beckmann sagte: »Ich weiß morgens nicht, wo ich abends schlafe.« Die ihre Tochter in einem Internat untergebracht hat. Die nach ihrer Freilassung nicht sogleich sehnsüchtig in die ihr verordnete Heimat, Deutschland, fuhr. Dabei hatten die Deutschen doch für sie bezahlt.

Warum aber reagieren dann die Menschen in Frankreich, Italien oder Großbritannien so anders? Wieso wird die italienische Journalistin Giuliana Sgrena in ihrem Heimatland als Heldin begrüßt? Weshalb führt die Geiselnahme des Ingenieurs Kenneth Bigley in Großbritannien landesweit zu Entsetzen? Es geht um Unterschwelliges, schwer Greifbares. Aber zeugt es nicht von einem Unterschied, wenn ein Land in Bezug auf die weite Welt »Britannia rules the Waves« singt, es in Deutschland aber heißt: »Muss i denn zum Städtele hinaus?« Die einen sehen es als Aufgabe oder Berufung an, die Landesgrenzen zu überschreiten, die anderen bedauern, nicht zu Hause bleiben zu können. Das Sprichwort »Bleibe im Lande und nähre dich redlich« kommt nicht von ungefähr, es drückt auch ein Lebensgefühl aus. Und man kann es auch anders herum betrachten: Wenn das Im-Lande-Bleiben redlich nährt, muss man wohl das Fortgehen als unredlich empfinden. Selbst in »der« nationalen hanseatischen Kaufmannsfamilie, Thomas Manns Buddenbrooks, macht der Protagonist Christian, den es in die Ferne nach London zieht, nicht wirklich die beste Figur: Er erkrankt an einem Nervenleiden und macht mit seiner Firma Bankrott.

Deutschland ist weder eine Seefahrernation noch verfügt es über eine nennenswerte koloniale Tradition. In einem Land wie Groß-britannien, in dem über lange Zeit die jungen Männer ganz selbstverständlich einige Jahre in die Kolonien gingen, würde sich die Frage »Was hat Frau Osthoff im Irak verloren und was geht uns das an?« kaum stellen. Als Kenneth Bigley im Irak entführt wurde, dominierte das Thema den Labourparteitag, die britische Politik wurde hinterfragt, kaum aber Bigleys Aufenthalt im Krisengebiet. In Deutschland dagegen forderte der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach angesichts der Entführung mehrerer Deutscher: »Wenn jemand mit einer Motorradtour durch die Eifel nicht mehr zufrieden ist und unbedingt in die Sahara will, dann muss er zumindest symbolisch für die Folgekosten einstehen.«

Es ist vermutlich auch ein stärkerer Bezug zur eigenen Nation, der die Menschen im Ausland öffentlich Solidarität mit ihren entführten Landsleuten zeigen lässt. Solidarität, schreibt der französische Philosoph André Comte-Sponville, habe eigentlich egoistische Motive: Über sie verteidige man eine Gemeinschaft, aber damit auch sich selbst. Doch, so Compte-Sponville, Solidarität entstehe nur durch Identifikation.

So scheint es kaum verwunderlich, dass es landesweit kaum spontane Solidaritätsbekundungen mit den deutschen Geiseln gab. In Leipzig aber fanden sie statt. Das mag mit einem ausgeprägten Heimatgefühl zu tun haben. Aber es hat auch mit Pfarrer Christian Führer zu tun. Mit seinen Friedensgebeten nahmen die Montagsdemonstrationen, die schließlich zum Fall der Mauer führten, ihren Anfang. Weshalb zeigte sich in Leipzig, was in Deutschland vermisst wurde? »Das hängt natürlich auch mit 89 zusammen«, sagt Pfarrer Führer.