Das ursprüngliche Interesse von Albrecht Vorster, 34, galt dem Bewusstsein. Da man eine Frage erst durch deren Negation begreifen könne, landete er beim Schlaf – der Zustand, in dem der Mensch auf natürliche Weise das Bewusstsein verliert. Seine Erkenntnisse hat er in dem Buch Warum wir schlafen, erschienen im Heyne Verlag, aufgeschrieben.
SZ-Magazin: Sie sind Schlafforscher. Welche Frage wird Ihnen auf Partys am häufigsten gestellt?
Albrecht Vorster: Wie viele Stunden Schlaf brauche ich wirklich?
Und?
Auf diese Frage gibt es keine pauschale Antwort, genauso wie nicht jeder dieselbe Kleidergröße trägt. Jeder braucht einfach das, was er braucht, um ausgeschlafen zu sein. Das sind bei 90 Prozent der Menschen sechs bis neun Stunden Schlaf. Um das für sich herauszufinden, schläft man am besten mal eine Woche lang so viel, wie man braucht, und rechnet dann den Durchschnitt aus.
Muss man sich dafür Urlaub nehmen?
Am besten zwei Wochen. In der ersten sollte man sich ausschlafen und die zweite dann zum Berechnen der durchschnittlichen Schlafdauer nutzen. Seit ich zum Thema Schlaf forsche, schlafe ich eigentlich täglich aus, da wir keine festgelegten Bürozeiten haben. Ich benötige 7,5 bis 8 Stunden, um rundum glücklich und produktiv zu sein.
Wo haben Schlafforscher einen blinden Fleck?
Es stimmt, dass Schlafforscher manchmal einen engen Blick auf ihr Gebiet haben. Zähneknirschen und Träume zum Beispiel werden fast gar nicht erforscht.
Glauben Sie, dass Träume tiefere Bedeutungen haben?
Ich glaube, dass wir aus Träumen durchaus etwas lernen können. Sie können uns dazu bringen, uns mit unserem Inneren zu beschäftigen. Das ist ein bisschen wie mit dem Tintenklecks beim Psychologen. Man deutet eben das, was einen gerade als Thema beschäftigt. Aber ich glaube nicht, dass Träume die Funktion haben, uns etwas Besonderes zu sagen. Die meisten Träume sind sehr banal. So banal, dass wir sie direkt vergessen. Das finden wir heraus, wenn wir im Schlaflabor Menschen aus den unterschiedlichen Schlafphasen aufwecken. Die Menschen erinnern sich nicht mehr.
Menschen mit Schlafproblemen haben wahnsinnigen Stress, weil sie nicht schlafen können, was alles nur schlimmer macht. Welche Möglichkeit gibt es, aus diesem Teufelskreis auszubrechen?
Es gibt mittlerweile eine sehr gute Behandlung von Schlafproblemen, die ohne Medikamente auskommt und dauerhaft wirkt: die kognitive Verhaltenstherapie. In acht bis zehn Sitzungen erlernt man mit einem Psychologen einfache Strategien, mit Schlafproblemen umzugehen. Dazu gehören zum Beispiel die Schlafrestriktion, Entspannungs- und Gedanken-Stopp-Techniken. Menschen mit einer Insomnie schlafen in den allermeisten Fällen nicht viel weniger als Menschen ohne Schlafstörungen, durchschnittlich 30 Minuten weniger. Der Schlaf von einem Insomnie-Patienten ist nur leider zerstückelt. Dadurch werden auch Schlafphasen als Wachphasen wahrgenommen. Wenn man nämlich alle 15 Minuten aufwacht, hat man das Gefühl, nicht geschlafen zu haben.
Was kann man bei leichten Schlafproblemen machen?
Wer eine halbe Stunde Morgensonne abkriegt, kann abends besser schlafen. Tageslicht ist auch bei einem bewölkten Himmel immer das stärkste Licht, dass es gibt. Wenn man das mit ein bisschen Sport verbindet, ein Spaziergang reicht, dann ist das das Beste, was man für seinen Körper tun kann.
Arbeiten die Menschen heutzutage zu wenig körperlich, um richtig müde zu sein?
Schlafstörungen haben nur bedingt etwas mit körperlicher Ertüchtigung zu tun. Sicherlich hilft Bewegung bei leichten Schlafproblemen. Aber wenn Leute an Insomnie leiden, dann sind sie fix und fertig, richtig gebeutelt, zum Umfallen müde und den ganzen Tag fallen ihnen die Augen zu. Und kaum sind sie im Bett: Bumm! Sind sie hellwach. Da können sie sich auch bewegt haben. Kaum sind sie im Bett, denkt der Körper: Achtung, das ist was Bedrohliches, die Nacht wird wieder fürchterlich.
Wie entstehen Schlafstörungen überhaupt?
Das ist ganz unterschiedlich. Das kann schon im Kindesalter beginnen, zum Beispiel, wenn ein Kind, das ein geborener Kurzschläfer ist, also nur sechs, sieben Stunden Schlaf pro Tag braucht, viel mehr Zeit im Bett verbringt, als es eigentlich müsste. Ausgeschlafen oder noch nicht müde im Bett liegen zu müssen ist unangenehm. Wenn das häufig der Fall ist, dann lernt das Kind, dass Schlaf etwas Problematisches ist. Bei einem anderen großen Teil der Insomniker steht ein lebensveränderndes Ereignis am Anfang der Schlafprobleme. Zum Beispiel eine Trennung, ein Todesfall, eine schwere Krankheit oder eine Schwangerschaft. Ereignisse, bei denen auch gesunde Menschen einige Wochen schlecht schlafen. Die bleiben dann ein bisschen drauf hängen, lernen, dass Schlaf nicht einfach funktioniert und bekommen Angst davor – der Teufelskreis.
Was kann ich tun, wenn ich Sorgen habe und deswegen nicht schlafen kann?
Schlaf kommt, wenn wir sorgenfrei und müde sind. Und wenn ich Sorgen habe, ist das Beste, diese Sorgen aufzuschreiben – was die Probleme noch nicht löst, das ist klar. Aber wenn wir die Sorgen den ganzen Tag vor uns herschieben, werden sie abends vorstellig, wenn wir schlafen möchten. Wenn sie notiert sind, muss man sich im Bett nicht noch kreative Lösungen herausspinnen. Das kann entlasten. Es ist erwiesen, dass das diese »Sorgen-Inventur« zu einem schnelleren Einschlafen führt. Man sollte es generell vermeiden, nachts ins Grübeln zu kommen. Da kommen einem Probleme wie große Tiger vor, die in Wirklichkeit kleine Mäuse sind. Das hängt mit einer nächtlich verschobenen Botenstoff-Konstellation im Gehirn zusammen.
Wenn das Smartphone gleichzeitig der Wecker ist, hat man dann schon alles falsch gemacht?
Nein. Ich nutze auch mein Handy als Wecker. Die Strahlung beeinflusst den Schlaf nicht, da gibt es keine belastbaren Hinweise aus Studien. Auch das Bildschirmlicht hält nicht wirklich wach. Aber: Wenn wir abends kurz vor dem Einschlafen noch Mails und Nachrichten verschicken, dann wühlt uns das in den meisten Fällen emotional auf. Alles, was an Arbeit und Stress erinnert, führt dazu, dass wir krampfen, der Muskeltonus steigt, wir wollen in der Welt noch etwas erledigen. Kreisende Gedanken sind der natürliche Feind eines guten Schlafes. Aber das Handy als Wecker zu nehmen ist nicht das Problem.
Wie sieht der Arbeitsalltag eines Schlafforschers aus?
Erstaunlich unspektakulär. Den größten Teil meiner Arbeit verbringe ich am Schreibtisch, lese viele wissenschaftliche Paper und werte Daten aus. Im Keller habe ich zwei Räume mit Aquarien, in denen meine Schnecken leben, mit denen ich meine Experimente mache. Danach schaue ich mir auch mal tagelang Schneckenvideos an, dokumentiere und bewerte das Verhalten der Tiere.
Was lernen Sie von den Schnecken?
Ich lerne viel über das Gedächtnis und den Schlaf. Die Meeresschnecke hat nur 20 000 Nervenzellen, die zu den größten im Tierreich gehören und deshalb relativ einfach zu untersuchen sind. Zum Vergleich: eine Fruchtfliege hat bereits 100 000 Nervenzellen. Forscher gehen heute davon aus, dass im Schlaf vor allem die Gedächtnisfestigung stattfindet. Wenn wir nicht schlafen, haben wir als erstes Konzentrationsprobleme. Also müssen wir schlafen, um neu Gelerntes fest zu verankern und auch quer zu vernetzen. Im Schlaf werden wir ein bisschen zum Sherlock Holmes.
Wie finden Sie heraus, was die Schnecke lernt und wie gut sie schläft?
Zum einen durch Messungen der Nervenaktivität im wachen und im schlafenden Zustand. Dafür habe ich Elektroden an die Nervenbahnen geklebt. Das andere sind Verhaltenstests. Ich packe Futter in ein Netz, auf dem die Schnecken dann herumbeißen. Nach 30 Minuten merkt aber auch die dümmste Schnecke: Hier komme ich nicht weiter. Wenn man die Schnecke aber die ganze Nacht wachhält, dann beißt sie am nächsten Tag doppelt so lange wie die ausgeschlafene Schnecke auf dem Seegras-Bonbon herum, bei dem nichts zu holen ist. Sie hat eben nicht so gut gelernt.
Wenn ich schlafe, sortiert sich also das Gedächtnis – was passiert sonst noch?
Nebenher wird das Gehirn einmal komplett durchgespült – die Räume zwischen den Nervenzellen vergrößern sich um etwa 60 Prozent und kleine Proteinablagerungen werden weggespült, die mit Alzheimer in Verbindung gebracht werden. Erste Studien weisen darauf hin, dass Menschen, die dauerhaft zu wenig schlafen, eher zu Alzheimer neigen. Auch Mäuse, die aufgrund ihrer Gene eine ineffiziente nächtliche Gehirnwäsche haben, haben mehr von diesen Ablagerungen. Das heißt: Ausreichend Schlaf beugt neurodegenerativen Erkrankungen vor.
Und wie verhält es sich mit weniger dramatischen Erkrankungen wie einem Schnupfen?
Schlaf ist immens wichtig für das Immunsystem. Wer mehrere Tage nicht ordentlich geschlafen hat, neigt dazu, stärkere Krankheitssymptome zu zeigen. Der Schlaf ist auch für die Bildung des immunologischen Gedächtnisses wichtig. Eine durchgemachte Nacht nach einer Impfung schwächt unseren Impfschutz auch ein Jahr nach der Impfung.
Wie hängen Schlaf und Gewicht zusammen?
Der Schlaf ist essentiell für den Fett- und Zuckerstoffwechsel. Wenn wir die Nacht durchmachen, sind wir morgens ein klein wenig wie Diabetiker und das vom Körper ausgeschüttete Insulin wirkt nicht mehr so gut. Zudem haben wir am nächsten Morgen Heißhunger auf Kalorienbomben. Das wissen wir, weil wir Probanden morgens von einem Frühstücksbuffet auswählen lassen. Die Probanden, die durchgemacht haben, greifen dann oft zu sowas wie Snickers und Pombären. Während die, die eine gute Nacht hatten, sich eher bei Smoothie und Gemüsesticks bedienen. Wer nachhaltig abnehmen will, sollte neben Sport auf ausreichend guten Schlaf achten.
Darf man einen Mittagsschlaf machen?
Wenn man danach wieder gut hochkommt und wenn man nachts gut schlafen kann, kann ein kurzer Mittagsschlaf von 20 Minuten Energie für die zweite Tageshälfte geben. Wer schon Schlafprobleme hat, dem raten Schlafmediziner aber ab, einen Mittagsschlaf zu halten. Das erhöht den Schlafdruck für die Nacht und fördert das Ein- und Durchschlafen.
Fenster auf oder zu?
Oh, auf! Ich persönlich schlafe zwar gerne bei geschlossenem Fenster, aber offene Fenster sind eigentlich besser. Denn der Temperaturabfall der Außentemperatur ist für den Körper ein klares Signal, dass jetzt Schlafenszeit ist, auch wenn das Schlafzimmer nicht frostig sein muss. So synchronisieren wir auch etwas unsere innere Uhr. Ursprünglich wacht der Mensch auf, wenn der Zeitpunkt der niedrigsten Außentemperatur überschritten ist und es wieder wärmer wird.
Hatten Neandertaler auch Schlafprobleme oder sind Schlafprobleme ein modernes Phänomen?
Auf der einen Seite würde ich sagen, ja, hatten sie, weil sie sehr harte Unterlagen hatten. Und wir wissen, dass Menschen aus Naturvölkern, die auf harten Unterlagen schlafen, schlechter durchschlafen. Die sehen das aber nicht als Schlafproblem, dass sie bis zu zehn Mal in der Nacht aufstehen.
Schläft man besser allein oder zu zweit?
Wir wissen, dass Männer besser und tiefer schlafen, wenn eine Frau neben ihnen schläft. Frauen wiederum schlafen eigentlich ein bisschen schlechter, wenn der Mann neben ihnen schläft, weil sie das Gefühl haben, für ihn verantwortlich zu sein.
Manche finden es unromantisch, wenn Paare getrennt schlafen. Was meinen Sie?
Ich meine, dass geruhsamer Schlaf der Garant für ein ausgeglichenes Gemüt ist und ein ausgeglichenes Gemüt für die romantischen Stunden besonders wichtig ist. Wenn wir schlecht geschlafen haben, sind wir dünnhäutig und gereizt – und keiner möchte einen dünnhäutigen und gereizten Partner um sich haben. Und wenn einer von beiden laut schnarcht und der andere schlecht schlafen kann, dann kann es sinnvoll sein, die Schlafzimmer zu trennen. Das gilt auch, wenn man unterschiedliche Schlafrhythmen hat. Wenn sich beispielsweise ein Früh-Typ in einen Spät-Typ verliebt. Wenn der eine sich jedes Mal gestört fühlt, wenn der andere zu ihm ins Bett krabbelt, das muss ja nicht sein. Alles, was Paare beim Schlafen glücklich macht, ist gut.
»Wer sich zu stark auf den Schlaf konzentriert, verpasst das Leben«
Ab wann darf ich keinen Kaffee mehr trinken?
Das ist eine Typ- und Altersfrage. Mit dem Alter baut der Körper Stoffe langsamer ab. So kann es sein, dass jemand jahrelang gewohnt war, nachmittags um 17 Uhr Kaffee zu trinken und plötzlich, mit 50, 60 Jahren nicht mehr gut einschlafen oder durchschlafen kann. Das können die Menschen dann kaum glauben, dass das an ihrem Kaffee liegen könnte, den sie schon immer um die Uhrzeit getrunken haben.
Wahre Begebenheit: Ein Abiturient geht nicht auf den Abschlussball, weil das seinen Schlafrhythmus durcheinanderbringt. Was meinen Sie?
Ich glaube, ihm ist ein wichtiger Moment in seinem Leben entgangen.
Aber braucht man nicht feste Einschlaf- und Aufwachzeiten?
Ja, die sind gut für den Schlaf, aber es ist wahrlich nicht schlimm, wenn der Schlaf hier und da mal durch eine Feier durcheinandergebracht wird. Der Organismus hat sich nach ein, zwei Tagen erholt und die Erinnerung an eine fantastische Nacht bleibt. Wer sich zu stark auf den Schlaf konzentriert, verpasst das Leben.
Sie haben auch zur Schichtarbeit recherchiert – mit welchem Ergebnis?
Mir ist aufgefallen, wie unglaublich gefährlich und gesundheitsschädlich Schichtarbeit ist. Schichtarbeit entspricht in etwa zehn Zigaretten pro Tag und verkürzt das Leben um durchschnittlich sechs bis acht Jahre bei 40 Jahren Schichtarbeit. Man kann sagen, dass jede Minute, die ich Schicht arbeite, mich eine Minute meines Lebens kostet. Da frage ich mich, ist es moralisch vertretbar, Menschen zur Gewinnmaximierung, etwa zur Auslastung der Produktionsstraße, vermeidbaren gesundheitlichen Gefahren auszusetzen? Die Menschen werden nicht gut aufgeklärt, bevor sie sich zur Schichtarbeit verpflichten.
Was fordern Sie?
Schichtarbeit sollte stärker begrenzt sein. Wenn man mal ein paar Jahre raucht, ist das weit weniger tragisch, als wenn man 40 Jahre durchquarzt. Und wenn man mal ein paar Jahre Schicht arbeitet, ist das auch nicht unbedingt bedrohlich. Man sollte es aber nicht sein ganzes Berufsleben machen. Schichtarbeit sollte maximal sieben Jahre erlaubt sein. Weil dann auch die schweren Gesundheitsprobleme anfangen. Daneben sollte die Arbeitszeit von Schichtarbeitern, insbesondere von Nachtarbeitern, begrenzt werden. Es sollte mehr Freizeitausgleich geben. Ein Schichtarbeiter, der statt 35 Stunden die Woche nur 25 Stunden arbeitet, kann aufgrund der besseren Erholung viele Gesundheitsschäden vermeiden. Wir setzen die Menschen ja auch so wenig wie möglich giftigem Feinstaub oder bösen Chemikalien aus, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.