Als Kind der westlichen Welt leide ich selbstverständlich unter zahlreichen Zivilisationskrankheiten, am schlimmsten unter Insomnia, der Schlaflosigkeit. Wenn Sie zu den Menschen gehören, die nach den Tagesthemen eine sanfte Müdigkeit verspüren, seien Sie dankbar. Bei mir geht vor 1 Uhr nichts. Ich bin aufgewühlt, zerstreut, neugierig, nachdenklich, wütend, melancholisch, in meinen Fingern und Zehen kribbelt es, ich weiß nicht genau, wie Hormone und Synapsen funktionieren, aber so muss es sich anfühlen, wenn sie in Hochform sind. Und wenn ich mich gegen eins endlich hinlege, schlafe ich noch lange nicht. Es ist die Zeit, in der sich meine Rückenschmerzen melden, flankiert von zahlreichen Ideen, die ich nie umsetzen und am nächsten Morgen vergessen haben werde. Bis 2 oder 3 Uhr wälze ich mich hin und her, manchmal laufe ich um den Block, nehme ein Bad, höre eine Sinfonie oder wecke die Katzen auf, um mich von ihnen trösten zu lassen; es kommt immer wieder vor, dass die ersten Vögel singen, wenn ich einschlafe. Mein Osteopath sagt: »So wie Sie Ihre Schlaflosigkeit kultivieren, werden Sie sie nie los.« Und weiter: »Sie müssen dagegen ankämpfen, nicht damit angeben.«
Ich habe ein paar Sachen ausprobiert: Rotwein, Schlaftabletten, Kräutertee, Nackenmassagen, geholfen hat nichts, bis ich in einer durchwachten Nacht das Wörtchen »Einschlafen« bei Youtube eingegeben habe. Ich stieß auf mehrere geführte Einschlafmeditationen und klickte eine an, 30 Minuten lang, ins Netz gestellt von einer Frau, die sich Mojo Di nennt: Zufall, hätte ich damals gesagt, ein halbes Jahr später bin ich mir nicht mehr sicher.
Was machen wir eigentlich, wenn wir uns treffen? Worüber sprechen wir?
Ich bin nicht geheilt und schlafe immer noch zu oft zu spät ein, aber es ist besser geworden, manchmal klappt es sogar kurz nach Mitternacht. Ich habe noch nie in meinem Leben meditiert oder schamanische Rituale vollzogen, aber inzwischen höre ich dieser Frau so regelmäßig zu, dass ich manche ihrer Meditationen fast auswendig kann. Natürlich mache ich, was sie sagt, Handflächen nach oben, tief in den Bauch atmen, Beine leicht gespreizt, aber vor allem ist es ihre Stimme, die mich tröstet und ruhig werden lässt; sie ist sanft und elfenhaft, manche würden sie erotisch nennen, aber für mich hat sie nichts Sexuelles, ich fühle mich eher in den Arm genommen und sachte hin- und hergeschaukelt. »Lass los«, sagt diese Stimme, »morgen ist ein neuer Tag, morgen geht es weiter.« Wie gesagt, es funktioniert nicht immer, aber manchmal eben schon und deswegen wollte ich diese Frau kennenlernen, zu deren Stimme ich Abend für Abend in den Schlaf gleite. Wer verbirgt sich hinter diesem komischen Namen? Wo lebt diese Frau? Verdient sie Geld mit den Videos, macht sie es aus Spaß oder womöglich um Leuten wie mir zu helfen?
Ich schrieb ihr eine Mail, zwei Wochen kam die Antwort: »Vielen Dank für Ihr Interesse. Gern können wir uns treffen, Ihre Fabienne Rose.« Klar ist: Die Frau hätte keinen Künstlernamen gebraucht. Nicht klar ist: Was machen wir eigentlich, wenn wir uns treffen? Worüber sprechen wir? Sollen wir einen Kaffee trinken oder einen Spaziergang machen und was, wenn die Tür aufgeht und wir uns nichts zu sagen haben oder noch schlimmer: unsympathisch finden? Für sie bin ich einfach nur ein fremder Mann. Für mich ist sie einfach nur eine fremde Frau. Es ist allein ihre Stimme, die uns Nacht für Nacht verbindet, und sie wusste bis vor ein paar Momenten noch nicht mal davon.
Als sie ein paar Tage später vor mir steht, in einem Treppenhaus in Frankfurt-Sachsenhausen, weiß ich, dass alles gut ist: Ich mag ihre riesigen warm leuchtenden Augen, mag den Nasenring, das Lippenpiercing und klar: ihre Stimme. Es ist erstaunlich, was eine Stimme bewirken kann. Diese fremde Frau sagt »Hallo, komm erstmal rein« und ich fühle mich augenblicklich wohl, ja mehr noch: geborgen. Londoner Wissenschaftler haben in aufwändigen Tests herauszufinden versucht, wie die Stimme einer Frau sein muss, damit sie als anziehend empfunden wird. Das Resultat: eher hoch als tief, ein bisschen gehaucht, aber nicht zu sehr, auf keinen Fall kreischend oder piepsig. Fabienne selbst empfindet ihre Stimme gar nicht als etwas Besonderes. Ob man eine Stimme als angenehm oder unangenehm empfinde, sei extrem subjektiv, sagt sie. Sie müsse nur die Kommentare zu ihren Videos durchgehen, da sei alles dabei, von »wunderschön sanft« bis »furchteinflößend«.
Fabienne Rose ist auf eine unorthodoxe Art hübsch, kein Model, aber man sieht sie gern an, es gehen Tiefe, Wärme und Liebe von ihr aus, nichts an ihr ist hektisch oder gekünstelt, alles herzlich, sie wirkt auf beruhigende Art ehrlich; eine Frau, die sich nicht nach den Moden der Welt richtet, sondern Zusammenhänge meidet, die sie nicht so sein lassen wie sie ist.
Nach zehn Minuten – längst sitzt ihre Sphinx-Katze Yoda, die so heißt, weil sie so aussieht, zwischen uns auf dem Sofa – ist klar, wir mögen uns, aber sind sehr unterschiedlich, ja eigentlich funktionieren wir konträr zueinander: Sie ist ruhig, ich bin hibbelig, sie liebt Menschen, ich finde fast alle Menschen langweilig oder nervig, sie agiert instinktiv, ich eher analytisch, nach dem Frühstück malt sie Bilder, »um den Geist anzuregen«, ich frühstücke gar nicht, weil ich viel zu getrieben bin, als dass ich mich morgens an einen gedeckten Tisch setzen könnte. Man könnte auch sagen: Sie stellt sich, ich flüchte. Oder: Sie handelt. Ich ertrage.
Fabienne – man kann diese Frau irgendwie nicht siezen – stellt Wasser mit Zitronenscheiben, Erdbeeren und Kirschtomaten auf den Tisch, die sie selbst auf dem Balkon anpflanzt. Dann erzählt sie von sich: Dass sie als Kind gemobbt und von ihren Mitschülern geschlagen worden sei. Dass sie nach dem Tod ihres Vaters eine Angststörung bekommen, ihren Job als Programmiererin gekündigt und ihren Freund verlassen habe. Dass sie in ihrer Verzweiflung mit Yoga und Meditation begonnen und sich irgendwann gedacht habe, das könnte doch auch anderen guttun, ihren Freunden zum Beispiel. Dass sie dann angefangen habe, diese Meditationen aufzunehmen und auf Youtube zu stellen; Zeit habe sie schließlich genug gehabt, weil man, wenn man ständig Angst habe, nicht viel unternehmen könne. Und dann habe sich die Sache entwickelt: Es kamen Mails, Briefe, Lob, Anregungen. Immer mehr Menschen klickten ihre Videos. Es kamen Abrechnungen, erst nur über ein paar Cent, dann über ein paar hundert Euro im Monat. Das reicht nicht zum Leben, aber sie gibt ja auch Workshops und jobbt im Fitness-Studio und überhaupt denkt Fabienne Rose nicht so viel über Geld nach. »Mein Vater war in der Geschäftsführung von Siemens«, sagt sie, »der hat nur gearbeitet, bis er mit 58 an Lungenkrebs gestorben ist.« Eine Zeitlang habe sie in der Goa-Szene rumgetrieben, Musik, Natur, bewusstseinserweiternde Drogen, es sei schnell klar gewesen, dass das nicht der richtige Weg sein könne.
Heute, sagt sie, könne sie diese Erfahrungen durch Meditation nachbilden – ohne die gefährliche Abkürzung durch Drogen. Und klar, man könnte überlegen, diese Sache mit den Youtube-Videos noch viel professioneller aufzuziehen, aber ganz ehrlich, sie denke da gar nicht so oft drüber nach, die Dinge hätten sich so schön und natürlich entwickelt, warum die Strategie ändern oder besser: warum überhaupt eine Strategie anwenden? Immerhin habe sie inzwischen eine Webseite, ab und zu rufe ein Journalist an und ich hocke ja auch auf ihrem Sofa, ohne dass sie drum gebeten habe.
Nach einer Stunde weicht meine Sympathie einem anderen Gefühl, man könnte es Respekt nennen. Respekt dafür, wie diese Frau es geschafft hat, widrige Umstände zu überwinden und in positive Energie umzuwandeln. Es lief nicht glatt in Fabiennes Leben, aber sie war stärker, viel stärker. Man spürt, wie sensibel diese Frau ist, und man kann sich gut vorstellen, dass diese Feinfühligkeit ein Leben im 21. Jahrhundert nicht unbedingt leichter macht. Es ist nicht so, dass ich etwas gegen Esoterik oder Spiritualität habe, (ich glaube selbst an Gott und meine Freundin glaubt sogar an Geister, sie kommt aus Vietnam und zusammen gehen wir regelmäßig zu ihrer Lieblingswahrsagerin in Saigon), trotzdem bin ich skeptisch, wenn Menschen esoterischen Praktiken zu viel Raum einräumen, wenn sie ihnen wichtige Entscheidungen anvertrauen.
Fabienne Roses Leben dreht sich fast nur um Meditation, Yoga, Kartenlegen und Klangschalen, auf ihren Arm hat sie sich einen Lebensbaum tätowieren lassen, an einem Ast hängt eine Feder, »mein Papa«, sagt sie, gleichzeitig wirkt sie patent und diesseitig; man traut ihr ohne Probleme die Bewältigung einer Steuererklärung zu. Und im Gegensatz zu anderen esoterischen Menschen aus meinem Bekanntenkreis strahlt sie zu keinem Zeitpunkt das Gefühl aus, mich missionieren oder umkrempeln zu wollen, sie fühlt sich auch nicht moralisch überlegen oder auf einer höheren Bewusstseinsebene, sie spricht überhaupt nicht in diesen Kategorien, es ist eher so, dass man sie erlebt und denkt: Hmm, irgendwas macht diese Person fulminant richtig.
Sie wirkt nicht neurotisch oder verzweifelt oder als würde sie irgendwas kompensieren, es ist eher, als wäre sie der Beweis dafür, dass sie richtig liegt, so herzlich und gesund wirkt sie, als würde sie intensiver, ehrlicher, wahrhaftiger leben als der Rest, weniger abgelenkt, konzentrierter, mit den richtigen Prioritäten. Ehrlich gesagt ist es sogar ein bisschen irritierend, einem Menschen zu begegnen, der jede Menge Zeit und so gar keine Angst vor der Zukunft hat, sondern jeden Tag überlegt, wie er sich und den Menschen um sich herum etwas Gutes tun könnte. Natürlich bekomme sie Hass-Mails, »Scheiß-Stimme« habe einer mal geschrieben, ein anderer: »geh sterben!«, aber die erreichen sie gar nicht. »Ach«, sagt sie, »denen geht es halt nicht gut.« Sie nimmt es nicht persönlich. Hier ein paar Sätze, die sie während meines Besuchs gesagt hat, die sich in meinem Kopf festgesetzt haben:
1. »Ich wusste lange nicht, was für eine intensive Zeit man mit sich alleine haben kann.«
2. »Ich habe bei einer Firma für Suchmaschinenoptimierung gearbeitet. Irgendwann wollte ich nicht mehr von einem Unternehmen ausgebeutet werden.«
3. »Ich habe schon als Kind mit Engeln geredet. Meine Eltern meinten, es seien imaginäre Freunde, aber für mich waren es Engel.«
4. »Mir geht es auch nicht immer gut, aber die meiste Zeit bin ich zufrieden.«
5. »Wenn ich einem anderen Menschen begegne, erwarte ich nur das Beste. Wenn er mich enttäuscht, erwarte ich bei der nächsten Begegnung wieder nur das Beste.«
Die meisten Menschen meiden Personen, die anders sind als sie selbst
Als ich Stunden später im ICE-Bordrestaurant sitze, bin ich beschwingt, inspiriert, fast glücklich. Bei einem Weißbier frage ich mich, ob wir uns wiedersehen werden. Der Nachmittag war schön, wir hätten stundenlang weiterreden können, über Entfremdung am Arbeitsplatz, gestresste Menschen, den Zauber von Berührungen und unsere einzige gemeinsame Leidenschaft: Katzen. Wir haben sogar noch einen Kaffee in der Sonne zusammen getrunken. Trotzdem, ganz ehrlich, ich glaube: Nein. Sie lebt in Frankfurt, ich in München, unsere Wege werden sich nie wieder kreuzen, aber eine Verbindung ist da, die hoffentlich nachwirkt. Ich glaube durchaus an solche Dinge, Energie zwischen Menschen, eine Aura, die eine andere streift. Fabienne Rose geht es gut, wir sind uns begegnet, sie hat eine schöne Seele. Allein das ist tröstlich. Und ich weiß ja, wo ich Sie erreichen, wo ich ihre Stimme hören kann, wenn es mal nötig sein sollte.
Die meisten Menschen meiden Personen, die anders sind als sie selbst. Die meisten Menschen suchen eher Bestätigung als Irritation, eher Sicherheit statt Unsicherheit. Die meisten Menschen begegnen in der Bar und bei Facebook vor allem Menschen, die ähnlich leben, denken, einkaufen, ausgehen wie sie. Die meisten Menschen denken, dass die Welt so ist, wie sie sie wahrnehmen. Nach meiner Begegnung mit Fabienne Rose spüre ich wieder mal ganz heftig, wie falsch (und verfälschend) das ist. Und man sich viel öfter hilflos und verletzlich fühlen und mit voller Wucht in unbekannte Zusammenhänge und Begegnungen und Erfahrungen werfen sollte. Und ja, das ist ein Plädoyer dafür, nicht schon wieder in die Toskana zu fahren, sich bei der nächsten Hochzeit nicht an den Tisch mit den besten Kumpels zu setzen und überhaupt viel öfter Dinge zu machen, von denen man vorher nicht weiß, wie sie ausgehen.
Ich bin an diesem Tag in Frankfurt-Sachsenhausen einem Engel begegnet. Freunde von mir sagen, es sei halt eine besondere Frau gewesen, aber ich glaube, dass es ein Engel war.