Um melancholisch zu werden, ist mir kein Ort zu banal. Neulich schlenderte ich im Rewe an einer Flasche Birkensaft vorbei und musste an eine Geschichte aus meiner Jugend denken, die mich bis heute verfolgt. In meiner Heimat, ein paar Kilometer westlich der tschechischen Grenze, gibt es den Brauch, dass junge Männer dem Mädchen, in das sie – oft heimlich – verliebt sind, am 1. Mai eine geschmückte Birke aufs Dach ihres Elternhauses stecken. Und obwohl ich mich der Sitte jahrelang verweigert hatte – damals hatte ich noch nicht kapiert, wie charmant und bedeutsam Traditionen sein können –, hat es mich mit zwanzig dermaßen erwischt, dass ich, da ich nicht mehr zu Hause wohnte, 240 Kilometer von meinem Studienort in die Heimat fuhr, mit einer Axt in den Wald schlich, eine stattliche Birke fällte, liebevoll mit Bändern aus Krepppapier schmückte und zwischen zwei und drei Uhr in der Nacht mithilfe einer Leiter, eines Freundes und mehrerer Bierflaschen aufs Dach schleppte und in die Regenrinne stopfte.
Irgendwann waren der gewaltige Baum oben und ich wieder unten, durchaus stolz, weil ich eigentlich der Typ bin, der lieber unter einer Wolldecke rumliegt. Am nächsten Tag der Schreck: Mein Baum war der mickrigste im Ort. Während auf den anderen Dächern gigantische Birken meterhoch in den Himmel ragten, war mein Baum von der Straße aus kaum zu erkennen. Er sah aus, als hätte ihn jemand da oben vergessen, die viel zu kurzen bunten Bänder flatterten freudlos im Wind. Tagelang machte man sich über mich und mein »Studentenbäumchen« lustig, das wieder mal beweise, dass Typen wie ich an einer Universität bestens aufgehoben seien, da man sie für die entscheidenden Dinge des Lebens nicht gebrauchen könne.
Schon die Germanen sollen mit Honig gesüßten Birkenwein gesoffen haben
Knapp dreißig Jahre später sieht es so aus, als hätten sich die Herrschaften getäuscht, immerhin werde ich dafür bezahlt, was sie abends im Wirtshaus machen, nämlich trinken. Dass ich auch noch darüber schreiben muss? Geschenkt! Ich lerne eine Menge dabei. Diesmal: dass Birken erstaunliche Gewächse sind. Nicht nur dass sie die ersten Pflanzen sind, die sich nach einem Brand oder Kahlschlag zerstörte Freiflächen zurückerobern, in Skandinavien und Osteuropa wird ihr Saft seit Jahrhunderten getrunken, und zwar pur oder als Wein vergoren. Schon die Germanen sollen mit Honig gesüßten Birkenwein gesoffen haben, um Schwung in ihre kultischen Feste zu bringen, später zapften ihn Waldarbeiter direkt aus dem Stamm als Erfrischung zwischendurch, in Schweden gilt die Birke bis heute als »Kuh der armen Leute«, die gemolken wird, indem man sie fünf Zentimeter tief anbohrt und ein Röhrchen hineinsteckt, um den Saft abzufangen.
Heute schwören gesundheitsbewusste Städter auf Birkensaft. Mit seinen Aminosäuren, Vitaminen und Mineralstoffen soll er entzündungshemmend, cholesterinsenkend und entgiftend wirken, außerdem Schuppen, Haarausfall, Cellulite und unreiner Haut vorbeugen. Wissenschaftlich erwiesen ist das alles nicht. Dazu kommt, dass man auch an die Birke denken sollte. Waldökologen sagen, eine Birke falsch anzuzapfen, ja womöglich mit dem Akkubohrer auf sie loszugehen, sei mindestens so schädlich wie ein Herz in ihre Rinde zu ritzen. Übrigens schmeckt Birkensaft nach gar nichts, okay, mit etwas Fantasie: leicht süßlich. Im Grunde ist er nichts anderes als Wasser, das von den Wurzeln in die Krone gepumpt und nebenbei gefiltert wird. Entscheiden Sie selbst, ob Sie probieren oder doch beim Leitungswasser bleiben.
Ach ja, das Mädchen von damals hat mich zwei Jahre später verlassen. Ich war monatelang traurig. Und frage mich bis heute, was passiert wäre, wenn dieser verdammte Baum zwei Meter höher gewesen wäre.