Auch wenn man es sich kaum vorstellen mag, es ist nicht lange her, da galt ein Espresso in Deutschland als exotisch. Bis kurz vor Ende des 20. Jahrhunderts hielten die meisten Menschen Segafredo für einen Stürmer von Juventus Turin, ließen sich nicht von einem Barista, sondern einem Ober oder Fräulein bedienen, und bestellten keine französische Apfeltarte, sondern eine Schwarzwälder Kirschtorte. Und auch wenn sie im Rückblick bieder erscheinen, eigentlich waren es keine schlechten Jahre, schon allein weil man dreißig Jahre jünger war und es in Italien noch Dinge zu entdecken gab, die man von zu Hause nicht kannte.
Kurz vor der Jahrtausendwende ging es steil bergauf mit dem Espressokonsum in Deutschland, Jahr für Jahr wurde mehr davon getrunken, ja eigentlich kann man sagen, der Espresso hat sich in gleichem Maße an dem Ort festgesetzt, wie sich die SPD aus ihm zurückgezogen hat: der gesellschaftlichen Mitte. Es scheint tatsächlich so, dass kaum ein Getränk die Bedürfnisse des zeitgemäßen Deutschen derart perfekt bedient wie der heiße Schluck Kaffee mit der goldbraunen Schaumschicht obendrauf.
Erstens: Man kann Zeit sparen, weil – zumindest sagen das Baristi – der perfekte Espresso in 25 Sekunden zubereitet und in einer Sekunde getrunken werden sollte. Damit lässt er sich passgenau in unsere kleiner werdenden Zeitfenster und länger werdenden To-do-Listen quetschen. Ein Cappuccino, eine Tasse Tee, braucht alles mehrere Minuten, unter Umständen muss man sich auch noch unterhalten, das kann zum Problem werden, weil wir doch ständig in Eile, auf dem Sprung, praktisch schon wieder weg sind. Aber 26 Sekunden für einen Espresso im Stehen, die hat fast jeder – außer der Typ im Anzug, der neulich vor mir einen Espresso to go bestellt und auch noch bekommen hat.
Zweitens: Man kann sich südländisch vorkommen – von jeher eine Lieblingsbeschäftigung der Deutschen –, weil die Geste, an einem Tresen zu lehnen, im Espresso zu rühren und ihn dann, von einem Moment auf den anderen, mit konzentriertem und genussbereitem Blick runterzukippen, immer noch als lässig und weltläufig durchgeht, also genau als das, was die Deutschen jahrhundertelang eher nicht waren. Aber wir haben dazugelernt, was man nicht nur, aber auch daran sieht, dass Jogi Löw regelmäßig im weißen T-Shirt beim Espressotrinken in Freiburg gesichtet wird.
Drittens: Man kann wunderbar damit angeben, weil aus der an sich simplen Sache, dass heißes Wasser mit hohem Druck durch feingemahlenes Kaffeemehl gepresst wird, längst eine Ideologie geworden ist. So gibt es Espresso als macchiato (mit Milchschaum), ristretto (mit 2/3 der üblichen Wassermenge), americano (mit heißem Wasser verdünnt) oder freddo (eiskalt und im Glas serviert), und das sind nur ein paar Varianten. Das Arsenal an teueren Espressomaschinen lädt zur Repräsentation förmlich ein, was dazu führt, dass man in größeren Städten Menschen tatsächlich über den Unterschied von Handhebelmaschinen zu Kaffeevollautomaten oder die richtige Konsistenz der Crema debattieren hört. Das Ganze ist eine Wissenschaft geworden, in der es um die passende Röstung, den Mahlgrad der Bohnen und den Härtegrad des Wassers geht. Professionelle Baristi haben übrigens eine Formel für den perfekten Espresso entwickelt. Sie geht so: 3,5 cm Siebradius, 30 ml Wasser, 6,5 ± 1,5 g Kaffeepulver, im Sieb angepresst mit rund 200 N, bei einem Druck von 9 ± 2 bar und einer Temperatur von 90 ± 5 °C.