Die Frage steht im Raum, als der Barkeeper die Negronis über den Tresen schiebt: Belohnen wir uns jetzt für das Demonstrieren gegen Nazis? Also für das absolut Mindeste, was ein Demokrat ein paar Mal im Jahr tun sollte, um sich so überhaupt nennen zu dürfen? Ist das verdient nach diesem Niedrigeinsatz? Dusselig in der Menge laufen und dann mit Eiswürfeln auf fast gar nichts anstoßen?
Das Gefühl, etwas getan zu haben, wich dem Gefühl, fast gar nichts getan zu haben. Meinen Freunden aus anderen Städten ging es genauso. Es gab einen regelrechten Demo-Kater. Viele hatten das Gefühl, dass so wenig Einsatz zu viel Resonanz erzeugt hatte: Tagesschau und Oma-Lob, Likes für ein schnödes Plakat, und was war es denn gewesen? Doch eigentlich nur ein Spaziergang an einem Sonntag. Oder je nach Stadt, Kleinstadt oder Landkreis auch an einem anderen Tag.
Die Demos sind groß, von Hamburg, Berlin bis München, immer mehr als 100.000 Menschen, aber auch die kleinen Orte von West bis Ost überzeugen mit ortsmöglichen Menschenmassen: 5000 in Ahrweiler, 16.000 in Marburg, von Ibbenbüren über Neustrelitz nach Trier, überall wir.
Auf einem Demo-Plakat in Köln stand der schöne Spruch: »Wenn die AfD die Antwort ist, wie dumm war dann die Frage?« Das ist lustig, aber ich frage mich: Wenn diese Riesendemos die Antwort sind, wie klein ist dann der Nenner? Irgendwie ist da diese Ahnung, dass viele einfach nur finden, dass die AfD es jetzt langsam übertreibt. Nur das. Dass Remigration von Deutschen zu weit geht, der tumbe Sound nervt und man schon allein aus Prinzip verfassungsfeindliche Geheimtreffen in der Demokratie nicht hinnehmen will. Die auf einer Demo vorgetragene Forderung nach einer Welt ohne Grenzen jedenfalls war nicht mehr konsensfähig. Auf einem Plakat in Düsseldorf stand: »10.000 Schritte gegen die AfD«. Also quasi das Tagesziel: fit und nicht rechtsextrem sein. In München hielten zwei junge Frauen ein Plakat: »Braun passt nicht zur schwarzen Gucci-Tasche«. Nazis sind einfach ein Scheiß-Accessoire. Und ja, selbst komplett unpolitische Demonstranten sind denkbar, die Motivationen vielfältig: Spaziergang bei blauem Himmel, bisschen Leute gucken, ein Bier vor vier, heimische Bands, die man gut findet, singen für umsonst, es wird geschunkelt und ein gutes Gefühl gibt es gratis. Ja. Und trotzdem.
Vielleicht darf man sich eine Demo nicht als das Ergebnis vorstellen, sondern als einen Anfang. Und nicht den Vergleich setzen zu einer perfekten sozialen Revolution. Man muss sie im Vergleich zu dem bewerten, was passieren würde, wenn nicht demonstriert würde: nämlich gar nichts. Demos sind nur ein erster Moment der Vergewisserung. Und alles nur aufgrund des Bemerkens der anderen, auf den breiten Straßen, dieses Gestärktseins, dieses Zusammenseins und des Mehrseins – ja, auch für den Preis, dass links von der AfD eben sehr viel Platz ist. Jeder Wähler, jede Wählerin muss sich beim nächsten Mal in der Wahlkabine gegen eine sichtbare, laute Mehrheit stellen, wenn er oder sie die AfD wählt. Das wird manche abschrecken.
Und von dem gutmenschlichen Gewissensbiss, eine breite Berichterstattung für ein bisschen Herumlaufen nicht verdient zu haben, darf man sich auch befreien. Jeder Blödsinn kriegt Aufmerksamkeit. Hier dient sie wenigstens dem guten Zweck.
Jede stabile Beziehung hat ihren Gründungsmythos. Die Geschichte, die erzählt wird, wenn andere Paare fragen: Und wie habt ihr euch kennengelernt? Auch politische Bewegungen brauchen das. Schritte gehen, ohne den Ertrag zu kennen. Nur aus dieser noch frei wirbelnden, spontanen Energie kann etwas entstehen. Erst die, sich einzumischen. Und dann aus der Energie eine Bewegung. Wir haben dann also doch angestoßen. Nicht auf uns. Auf euch.