Die Krüge: hooooch!

Unser Kolumnist fiebert seiner ersten Wiesn entgegen, experimentiert mit Tracht – und entdeckt eine bislang unveröffentlichte Version von »Angels«.

Das Maß aller Dinge: der Maßkrug (gesprochen: Masssss)

Foto: Erli Grünzweil

Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich bei einem bayerischen Magazin anfangen würde, machte sie sich Sorgen, ich müsste nach München ziehen. So weit weg! Dass sie in meinem Alter fast 8700 Kilometer von Shanghai aus nach Hessen ausgewandert ist, ignoriert sie. Mütter eben. Einige Mitschülerinnen zog es nach dem Abitur nach Australien, wo sie sich beim Zucchiniernten den Rücken bucklig zupften. Mich aber faszinierte schon immer Bayern. Jenes wundersame Biotop, auf das die restlichen 15 Bundesländer gucken wie Kinder auf den gestriegelten Klassenkameraden mit den glutenfreien Pausenbroten, der immer vom Porsche Cayenne bis an den Schulhof gebracht wird. Bayern ist ja ein bisschen wie Amerika: Alles ist größer. Die Portionen, die Bäuche, die Gläser erst! Vor allem die Krüge auf dem Oktoberfest. Ich war noch nie dort. Vielen ist es ja zu trubelig, aber genau das liebe ich. Beeindruckend, wie die Kellnerinnen anscheinend ein Vielfaches ihres Körpergewichts als Bierkrüge ­heben können. Das können sonst nur Ameisen.

Einmal nahm mich eine bayerische Freundin auf ein Volksfest mit. Zur Vorbereitung auf ausgiebiges Frohlocken musste natürlich passende Kleidung her. When in Rome, do as the Romans do! Wir wühlten uns durch die alten Lederhosen des Onkels, die mir leider nicht passten. Stattdessen hüllte ich meinen Körper in ein kariertes Hemd, sah aus wie eine Tischdecke und fühlte mich so verkleidet wie der Außerirdische Alf in seinem Trenchcoat. Das war die zuckerfreie Light-Version. Seitdem sehne ich mich nach der großen, ungesunden Variante. Wie es dort wohl so ist? Gerne lausche ich den Geschichten meines Freundes S., wir treffen uns in einem Münchner Wirtshaus. Auf einem Schild steht »Mir platziern eich«. Sehr gut. In einem internationalen Touristenguide las ich einst, dass man für gute Küche nur in jenen Etablissements einkehren soll, wo kein Deutsch gesprochen wird. Immer ein gutes Zeichen. »Ob die hier wohl auch ein Maß Bier haben?«, frage ich. – »Mass«, sagt er. – »Sag ich doch«, sage ich. – »Nein, nicht ›Maaaß‹ wie Heiko Maas. Mass. Wie Fass.« – »Mmmasss«, mache ich. »Mmmass.«

Er atmet tief ein und aus. Ich schaue mich um. Wieso starrt der Kellner so? Sein Augenlid hat eben schon so gezuckt, als ich »Wiese« statt »Wiesn« gesagt hab. Schon schwer, dieses Bairisch. Und ich dachte Chinesisch sei knifflig. Kein Problem, im Satz »Māmā mà maˇ« Bedeutung zu finden. Aber als die bayerische Freundin mal versuchte, mir den Satz »Spozerl, mogst schmusn, Diridari hob i fei a!« beizubringen, schäme ich mich nicht zuzugeben, dass mir ein paar Tränen kamen.

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S. erzählt, dass die ganze Stadt schon in Aufruhr ist. Alles beginne mit einer guten Lederhosn. Rind sei billig, Hirsch sei besser. Eng, aber nicht zu eng, muss sie sitzen. Münchner tragen dazu ein weißes Hemd, Karo sei nur was für Touristen und Landeier. Verschmäht seien auch Turnschuhe zur Tracht, es sei denn, man scheißt auf Geschmack oder verdient als Sportler Millionen.

Nach dem Essen spazieren wir über die Theresienwiese. Da! Der berühmte Hügel, der gedüngt mit den Körperflüssigkeiten vergangener Helden ist. Da! Das Augustiner-Zelt! Vor mir entsteht eine Stadt. Männer schleppen Balken, bauen ganze Gasthäuser, in der Ferne türmt schon der Paulaner-Krug wie das Trinkgefäß eines Riesen. In wenigen Wochen ist es so weit. Wahnsinn. Oder wie einer der Kerle gerade brüllt: »Mi leckst am Arsch!« Wir setzen uns auf die Stufen am Fuß der Bavaria und ich denke an die tröstenden Worte von Robert Peter Williams, der wie die Schutzpatronin über den Geist der Wiesn wacht: »I sitz und wart. / Schaut a Engel auf mei Schicksal? / Und kennans de Orte, wo ma hingeht, / wenn ma grau und oid san? / Weil ma hod’s ma g’sagt, / dass de Erlösung eanere Flügel ausbreitet.«