Möwengold gegen das Loch im Herzen

Seit der Opa unserer Autorin gestorben ist, hält sie die Erinnerung an ihn am Leben – und zu dieser gehören auch Möwen. Wie gut, dass es eine Bar in Hamburg gibt, die einen Drink macht, der zu diesem Gefühlsmix passt.

Foto: Maurizio Di Iorio

Mein Großvater starb, als ich acht Jahre alt war, ich liebte ihn mit ziemlicher Heftigkeit, die Nachricht seines Todes nahm ich mit einem gespielt tapferen »Ich bin ja schon groß, ich verstehe das« entgegen, dann ging ich in mein Zimmer und schlug meinen Kopf gegen das Fenster. Seitdem klafft ein Loch in meinem Herzen.

Das Loch versuche ich, so gut es eben geht, mit Erinnerungen zu stopfen. An seine tiefe Stimme, mit der er mir Einschlaflieder sang, meistens auf der Rückbank unseres VW Käfers, mein Kopf lag dann in seinem Schoß, die Lichter der entgegenkommenden Wagen malten Kreise an die helle Autodecke. Seine trockene, immerzu warme Hand, in der er meine hielt, während wir spazieren gingen. Seine blöden Witze, die ich für komplett bare Münze nahm, einfach weil er es war, der mir diesen Scheiß erzählte. Bis heute glaube ich Männern mit tiefen Stimmen und warmen Händen erst mal alles.

Auf eine rätselhafte Art hat die Liebe zu meinem Großvater zu einer Übersprungsliebe für Wasservögel geführt, wobei sich auch da was ganz leicht in die Schräge verlagert hat, wie so manches in meinem Leben. Mein Großvater hatte es nämlich mit Schwänen. Wenn wir Hand in Hand an der Alster entlangliefen, redete er auf jeden Schwan ein, der unseren Weg kreuzte – angeblich war er ihrer Sprache mächtig, was für mich selbstverständlich der Wahrheit entsprach. Ich finde Schwäne so weit in Ordnung, aber sie lösen keine Gefühlsstürme in mir aus, ganz anders als Möwen.

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Möwen sind die besten Tiere überhaupt. Wie sie durch die Luft segeln, wie sie im Sturm stehen, wie sie in den Wind rufen, wie sie mit wichtigem Zug um den Schnabel über den nassen Asphalt laufen, wie sie ihre Pausen auf unseren schäbigen Straßenlaternen machen, wie sie an meinem Balkon vorbeifliegen, um mich zu ­grüßen, wie sie den Touristen den Fisch aus den Brötchen klauen, ich verehre sie. Räudige Anarchisten der Lüfte.

Es gibt ein Bild von meinem Großvater und mir, da bin ich vielleicht vier oder fünf Jahre alt, wir sind auf einer Fähre nach Helgoland. Die norddeutsche Sonne brezelt uns in die Gesichter, seine Elbseglermütze rutscht mir in die Stirn, über unseren Köpfen sind jede Menge Möwen zu sehen, und offenbar hab ich so einen Spaß, dass ich vor Freude kreische. Ich sehe aus wie die frechste Möwe überhaupt. Vielleicht ist es ja da passiert.

Mein Großvater liebte Butterfahrten nach Helgoland, weil man da so schön billigen Alkohol kaufen konnte. Ich liebe Möwen, und gegen Schiffe und billigen Alkohol hab ich auch nichts einzuwenden.

Wenn ich versuche, das alles zusammenzubinden, die Liebe zu meinem Opa, zu Wasservögeln, zu Schiffen und erschwinglichem Rausch, dann kommt genau ein Getränk dabei raus: Möwengold, und zwar zum Mitnehmen, bitte. Es gibt eine tolle Bar auf St. ­Pauli, die heißt »Möwe Sturzflug« und ist wahrscheinlich der einzige Ort, an dem man Möwengold kaufen kann – einen Longdrink aus ­Wodka, Holunderblüte, Apfelsaft, Zitrone und Basilikum. Ich ­würde den Drink immer in der To-go-Variante bestellen, denn von der »Möwe Sturzflug« aus sind es nur 15 Minuten bis zum Hafen, genau die Zeit also, die ich brauche, um einen Longdrink zu trinken. An den Landungsbrücken dann, umschwirrt von Möwen und Schiffen und ihren Geräuschen, ist vielleicht auch nicht alles Gold, aber mein Großvater ist mir in diesen Momenten ganz nah. Den letzten Rest Möwengold kippe ich für ihn in die Elbe und erzähle den Touristen, dass ich mit dem Fluss reden kann.