Viel mehr als vier Wände

Seit gut 80 Jahren steht der Nachname ­unseres Autors an einer Tür in München. Seit Kurzem wohnt er selbst dort. Eine Geschichte über einen Opa, der nie ­umziehen wollte, eine Oma, die keinen Pulli verloren gab – und die Wohnung, die sich an alles erinnert.

Neues Leben im alten: Unser Autor am Esstisch seiner Großeltern.

Ohne meine Oma wäre mein Lieblingspullover spätestens 2012 in der Altkleidersammlung oder im Müll­eimer gelandet. Es ist ein schwarzer Wollpullover. Der Stoff ist so fein, dass man durchsehen kann. Zu fein für seinen Besitzer. Schon mehrmals war er eigentlich nicht mehr zu retten. Aber sie gab ihn nicht verloren. Immer wieder hat sie ihn notoperiert. Die durch­löcherten Ärmel am Ellbogen hat sie so lange gestopft, bis sich der Stoff anfühlte wie eine zweite Hornhaut. Als wirklich gar nichts mehr ging, hat sie die Problemregion mit großen Aufnähern aus Leder gestärkt. Insgesamt zähle ich 23 Ausbesserungen, an der Brust, am Rücken, am Kragen, viele davon so fein gearbeitet, dass man sie erst beim zweiten Hinsehen entdeckt. Zurückbekommen habe ich den Pullover stets nicht nur geflickt, sondern auch nach Wollwaschmittel duftend.

Es ist der 14. Dezember 2020. Der Pullover hat vier neue Löcher. Drei Monate zuvor ist meine Oma gestorben. Kurz vor ihrem Tod ist sie noch mal umgezogen. Zum zweiten Mal in ihrem Leben. Ins Pflegeheim, zusammen mit meinem Opa, der nie wegwollte aus der Wohnung, in der er fast sein ganzes Leben lang gewohnt hatte. 82 Jahre am selben Ort. Ich bin 29 Jahre alt und bisher zwölf Mal umgezogen, diverse Drei- oder Sechsmonatsaufenthalte irgendwo nicht mit-gerechnet.

Geboren wurde meine Oma am 11. Dezember 1930 im damaligen Sudetenland, einem Gebiet, das heute in der Tschechischen Republik liegt. Nach dem Kriegsende 1945 kam sie als Vertriebene nach München. Sie war 15 Jahre alt. Auf der Suche nach Arbeit klingelte sie einfach an verschiedenen Türen. Auch an der Tür eines Hauses in der Dreimühlenstraße. Ein reich stuckierter Altbau aus dem Jahr 1902.

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Im Keller war lange Zeit eine Bäckerei. Dort fing meine Oma an zu arbeiten. Mein Opa wohnte mit seinen Eltern im ersten Stock. Er kaufte bei ihr eine Semmel. Bald darauf zog sie zu ihm in den ersten Stock.

Mein Papa kam 1960 zur Welt. Mit ihm waren meine Großeltern dreimal im Ausland im Urlaub. In Italien, in Jugoslawien und auf Mallorca, ausgesprochen mit einem hörbaren Doppel-L, wie in Ballermann. Es war die einzige Flugreise ihres Lebens.

Mein Lieblingspullover wurde in Rumänien hergestellt, aus 100 Prozent Extrafine Wool, und landete in einem Modeladen in der Kaufingerstraße. Der Laden verkauft Kleidung, die nicht länger als ein Jahr halten soll. Innerhalb von einem Jahr baut man keine Beziehung zu einem Pulli auf. Aber mit einer handwerklich begnadeten Oma, die Gott sei Dank nie etwas von dem Begriff »Fast Fashion« gehört hat, fährt man damit mehrmals in den Urlaub: Ich war mit dem Pulli in Istanbul, Beirut, Skopje, Sofia, Thessaloniki, Rom und Rio de Janeiro. Orte, von denen ich später im Esszimmer der Großeltern erzählt habe und die meine Oma danach im Atlas angemalt hat.

Meine Großeltern verbrachten viel Zeit in ihrem Schrebergarten beim Maria-Einsiedel-Bad und radelten den Bodensee entlang. Mein Opa arbeitete sein ganzes Berufsleben lang bei der Firma Linde am Fließband. Er bekam einen Tremor in den Händen, vermutlich vom Asbest, und zum 40. Dienstjubiläum eine gusseiserne Plakette. Meine Oma rollte Matratzen bei der Firma Salewa und kümmerte sich um den Haushalt.

Wann ich zum ersten Mal in ihrer Wohnung war, weiß ich nicht. Vermutlich noch im Jahr meiner Geburt, 1991. Wann ich zum letzten Mal dort war, weiß ich genau. Es war am 3. September 2020.

Ein paar Tage vorher hatte mein Papa mir gesagt, dass meine Großeltern einen Platz im Pflegeheim bekommen hatten. Ein Doppelzimmer mit Blick auf Bäume und einen Sportplatz. Ob ich Interesse hätte, die Wohnung zu übernehmen. Ich fand die Vorstellung schön. Dann könnten die Großeltern noch ab und zu vorbeikommen, und der Einschnitt wäre nicht so endgültig für sie, und auch nicht für mich. Immerhin steht seit mehr als 80 Jahren der Name Heckler an der Wohnungstür. »R. Heckler«, eingraviert in ein Messingschild. Mein Opa heißt Richard. Meine Oma hieß Alice. A. stand nie an der Tür.

Zum ersten Mal betrete ich an jenem 3. September die Wohnung mit den Augen des Nachmieters. Noch nie zuvor habe ich auf die Lichtverhältnisse geachtet. Ach wirklich, keine Zentralheizung? Es gibt Brotzeit und einen Obstler. Unter normalen Umständen hätte ich etwas Warmes bekommen, aber die Umzugsvorbereitungen kosten viel Zeit. Als wir ­fertig gegessen haben, holt meine Oma wie immer aus der Küche einen Zettel mit Fragen. Die notiert sie immer, damit sie nicht vergisst, sie zu stellen. Wenn es trotz Zettel doch mal passiert, ärgert sie sich. Die erste Frage: »Hast du noch genug Unterhosen?«

Das Bild der Großeltern lehnt an einer alten Briefwaage auf dem Fensterbrett.

Das Schlüsselbrett hat der Großvater selbst gebastelt.

Der Nähtisch ist jetzt der Platz für den WLAN-Router.

Sie will das Tilidin nicht mehr nehmen. Schmerzen im Rücken und in den Beinen hin oder her. Das Tilidin haut sie um. Vor ein paar Tagen, erzählt sie, ist sie am Morgen einfach nicht aufgewacht. Der Opa und die 24-Stunden-Hilfe haben sie nicht wach bekommen. Beide wussten nicht, wie man den Johanniter-Notrufknopf bedient. Sie haben einen Nachbarn zu Hilfe geholt. Als sie fertig erzählt hat, tätschelt meine Oma die Hand vom Opa, lächelt und sagt: »Viel zerreiß ma nimmer.«

Zum Abschied umarme ich sie vorsichtig. Sie ist ganz schmal und klein unter ihrem Kapuzenpulli. An der Tür steckt sie mir noch 200 Euro für den Urlaub zu.

Meine Großeltern sind keine reichen Leute. Sie wohnen schon immer zur Miete, haben beide eine kleine Rente und kaum Ersparnisse. Aber immer wenn sie mit uns aus-wärts essen gehen, geben sie ein großzügiges, manchmal absurd hohes Trinkgeld. Sie spenden jedes Jahr an das SOS-Kinderdorf. Und schenken mir und meiner Schwester buchstäblich jeden übrigen Cent. Mir mehr als meiner Schwester. Das ist ungerecht. Ich war der Bub. An mir war alles perfekt. Meine Schwester wurde genauso geliebt, aber strenger be-wertet.

Die Abschiedsumarmung ist, zumindest von meiner Seite, betont unsentimental, schließlich ist der Umzug ins Heim ein Neuanfang, auf den sich meine Oma trotz aller Aufregung auch freut, glaube ich zumindest. Endlich muss sie nicht mehr die Verantwortung tragen. Für den Opa. Einmal ist er auf der Toilette gestürzt, und die Feuerwehr musste ihn befreien, weil die Tür nicht mehr zu öffnen war. Und für die 24-Stunden-Pflegekräfte, von denen viele herzlich und kom

petent und manche katastrophal waren. Oft waren es Frauen, die sehr wenig bis kein Deutsch sprachen. Man verständigte sich mit Händen und Füßen, und sobald man sich aneinander gewöhnt hatte, kam die nächste Pflegekraft.

Mit dem Umzug ins Heim hätte meine Oma vielleicht wieder mehr Zeit für sich, zum Lesen oder zum Nähen, genug Nachschub in beiden Bereichen gäbe es immer, dafür würde ich sorgen. Und die Wohnung, die sie schon früher hätte loslassen wollen, an der sie aber dem Opa zuliebe festgehalten hat, wüsste sie in guten Händen.

So weit meine Vorstellung. Ich laufe das Treppenhaus hinunter, winke der Oma zu, höre das sachte Klicken der sich schließenden Tür, denke mir, das wird sicher komisch, die Großeltern das nächste Mal im Heim zu besuchen, und fahre in den Urlaub.

Am 7. September besichtige ich die Sixtinische Kapelle, während die Großeltern umziehen. Sie schauen vielleicht noch mal kurz nach oben durch das geräumige, schöne Treppenhaus zu der Wohnung, in der sie ihr gemeinsames Leben verbracht haben. Im Abschiednehmen sind sie jetzt geübt. Zuerst haben sie sich von ihrem Auto verabschiedet, einem blauen VW Golf. Dann von ihrem Schrebergarten. Schließlich von den Spaziergängen an der frischen Luft. Nie mit Bitterkeit. Meine Großeltern sind pragmatische, ganz und gar nicht wehleidige Leute.

Als der Umzug geschafft ist, legt sich meine Oma ins Bett und schläft einen ganzen Tag durch. Die Pfleger bemerken am nächsten Tag ihr hohes Fieber. Zwei Tage nach dem Umzug kommt sie auf die Intensivstation. Mein Papa schreibt mir am 12. September: »Die Lokioma musste leider ins Krankenhaus. Sie hat einen Harnwegsinfekt und hat einen Anti-biotikatropf. Sie ist durch die Aufregung des Umzugs doch geschwächt und wird jetzt dort aufgepeppt.«

Lokioma, weil in der Dreimühlenstraße eine Lok fährt. Die anderen Großeltern heißen Radlgroßeltern, weil Fahrräder in ihrer Garage stehen. Die Lokigroßeltern sind mit Sicherheit mehr Fahrrad gefahren als die Radlgroßeltern. Mit über 70 Jahren sind sie noch am Bodensee von Konstanz über Bregenz nach Meersburg geradelt, an einem Tag. 120 Kilometer.

Das Grab meiner Oma könnte passender nicht sein. Ein kleines Grab in der zweiten Reihe, es macht, genau wie sie, nicht viel Aufhebens um sich und strahlt doch

Die Oma ist geschwächt, sie wird aufgepeppt: Das klingt nicht dramatisch. Trotzdem heule ich in der Bucht von Sorrent, wo ich die Nachricht lese, sofort Rotz und Wasser. Ich habe schon mal so reagiert. Im Frühjahr 2019, als mein Papa mir geschrieben hat, dass die Oma im Flur gestürzt war und sich den Arm gebrochen hatte. Sie hat sich davon noch halbwegs erholt, trotzdem wurde nach dem Unfall die erste 24-Stunden-Pflegekraft nötig.

Am 15. September geht der Rückflug von Rom. Kurz vor dem Start ruft meine Mama an. Während die Flugbegleiterin mich auffordert, das Handy in den Flugmodus zu schalten, ruft meine Mama in mein Ohr: »Die Oma packt zam.«

Die Oma packt zam. Was für ein brutaler Satz. Unter mir sind die Dolomiten. Das wird kein leichtes Heimkommen.

In den letzten Tagen hat sich ihr Zustand stark verschlechtert. Auf der Intensivstation konnte man nichts mehr für sie tun. Sie wurde in ein ruhiges Zimmer auf eine normale Station verlegt.

Gleich am Morgen nach der Landung fahre ich ins Krankenhaus. Es ist der letzte Tag, an dem sie ansprechbar ist. Sprechen fällt ihr schwer. Sie wirkt sehr beschäftigt. Sie packt zam, im wahrsten Sinne, die Erinnerungen ihres Lebens streifen sie, und die wichtigen packt sie. Im Blumenladen des Krankenhauses kaufe ich ihr einen Strauß Blumen und einen kleinen Stoffhund.

Mein Papa holt den Opa aus dem Pflegeheim. Der Opa geht den ganzen Weg vom Auto zum Stationszimmer zu Fuß. Als er da ist, nehmen sich meine beiden Großeltern an den Händen und weinen. In diesem Moment mit im Zimmer zu sein ist eine der berührendsten Erfahrungen meines Lebens.

Als der Opa das Zimmer wieder verlassen hat, ist meine Oma sehr aufgeregt. Um sie zu beruhigen, sage ich: »Es ist alles gut. Es gibt nichts mehr zu tun. Du hast alles gut gemacht.«

»Gut gemacht?«, fragt sie. »Gut gemacht«, wiederhole ich. So lange, bis sie ruhiger wird. Sie zuckt und wehrt sich gegen das Einschlafen. Die Pfleger sagen, sie habe seit zwei Tagen kaum geschlafen. Ich verstehe das gut. Das Einschlafen ist jetzt vielleicht endgültig. Es erfordert viel Mut.

Am 22. September schreibt mein Papa: »Hallo Bernhard, heute morgen konnte die Lokioma loslassen und ist verstorben. Du kannst mich am Handy anrufen.«

Auf der Beerdigung trage ich den schwarzen Wollpulli.

Er hat mich durch das Nachtleben begleitet, durch das Studium, durch das Ende der ersten Liebe und den Anfang der zweiten, und er war auf drei Beerdigungen. Er war immer dabei, wenn es wichtig war. Seine Gebrauchsspuren sind auch meine. Und all seine ausgebesserten Stellen sind Erinnerungen an eine Frau, die auch für die großen Löcher das passende Garn in der Schublade hatte.

Etwas Kaputtes reparieren, das ist Liebe. Da braucht es nicht mehr viele Worte. Nur: »Jetzt kannstn wieder oziagn.«

Mein Papa bittet mich, die Urne zu tragen. Sie ist ziemlich schwer, und ich habe Angst, sie fallen zu lassen. Aber es macht mich auch stolz.

Das Grab meiner Oma könnte passender nicht sein. Ein kleines Grab in der zweiten Reihe, es macht, genau wie sie, nicht viel Aufhebens um sich und strahlt doch. Es ist überhäuft mit Blumen. Die Hausgemeinschaft aus der Dreimühlenstraße hat zusammengelegt für einen wunderschönen Kranz. Die Besitzerin des »Eiscafé Italia«, wo ich oft mit meiner Oma war, um einen Affogato zu essen, hat mir zehn Euro gegeben, damit ich ein paar Blumen aufs Grab lege. Alle Nachbarn, die kondolieren, sind ehrlich bewegt.

Der Gasofen im Wohn­zimmer heizt alle Räume.

Eine weitere Besonderheit der Wohnung: ein antiker Spülkasten.

Der Name bleibt: Das Türschild nach dem Einzug unseres Autors und seiner Freundin.

Zwei Wochen später beginnt für mich das Loslassenmüssen. Es ist der Tag, an dem die Entrümpler kommen. Sieben Männer fürs Grobe und eine zierliche Frau, die nichts trägt, dafür aber sehr aufmerksam in den übrig gebliebenen Schmuckkästchen wühlt. Binnen drei Stunden hat der Trupp ein ganzes Leben nach Baustoffen sortiert, Holz, Metall, Glas, alles zerkleinert, in verschiedene Tonnen geworfen und entsorgt. Ich stehe im Flur und denke: Und für diese Grausamkeit zahle ich auch noch.

Mit den Möbeln verschwindet auch der Geruch meiner Großeltern aus der Wohnung. Übrig bleibt nur die Handvoll Möbel, die wir mit blauen Post-its beklebt haben. Die Schrankwände, die Nähmaschine, die Einbauschränke aus Pressspan: alles weg. 90 Quadratmeter voller Lücken.

Mit Kinderaugen gehe ich durch die leere Wohnung. Im Flur hat meine Oma mit mir Fußball gespielt bis zur Erschöpfung. Mit einem Styroporball. Einmal hat sie sich in einem engen Match einen Zeh gebrochen. Die arme Frau musste einiges mit mir mitmachen. Der Zeh war noch nicht ganz geheilt, da habe ich sie schon im Vollsprint hinter dem abfahrenden Bus hergehetzt, mit dem wir zum Kaufhof fahren wollten, um mir neue CDs zu kaufen.

In einem der Küchenschränke steht ihre überdimensionierte Bratpfanne, aus der es ihre berühmten Schnitzel, genannt »Schnitzerl«, gab. Die Pfanne kam randvoll mit in Butterschmalz geschwenkten, panierten Schweinelenden auf den Tisch, fast alle gewaltig groß, ungefähr so sehr »Schnitzerl«, wie der unglaubliche Hulk ein »Helderl« ist. Wenn die Pfanne am Schluss nicht leer war, musste ich mir den Vorwurf gefallen lassen, ein »schlechter Esser« zu sein.

Im Wohnzimmer habe ich viele Nachmittage ferngesehen und sie unwirsch rausgescheucht, als sie mir filetierte Orangenscheiben gebracht hat – sogar die feine innere Haut hat sie entfernt –, weil Richterin Barbara Salesch gerade so spannend war.

Als es daran geht, die Türen zu schließen, überlagert der Blick des Erwachsenen den Kinderblick. Im Wohnzimmer lag in den vergangenen Jahren immer der Opa auf der Couch und schlief. Nach dem Frühstück hat er sich hingelegt, nach dem Mittagessen noch mal, und nach dem Abendessen wieder. Die Oma hat ihm den Gasofen angemacht, damit er nicht friert. Wohnzimmertür zu. In der Küche haben am Schluss die wechselnden 24-Stunden-Pflegekräfte gekocht, nie den höchsten Ansprüchen meiner Oma genügend. Küchentür zu.

Im Flur sehe ich sie immer noch stehen nach unserer letzten Umarmung, auf den Rollator gestützt. Wohnungstür zu. Das Messingschild mit der Gravur »R. Heckler«. A. stand nicht an der Tür, aber ihr Leben ist in jeden Raum der Wohnung graviert.

In den nächsten zwei Wochen renovieren wir. Die braunen Küchenschränke werden eukalyptusblau. Die braunen Fliesen weiß. Das Schlafzimmer wird zum Wohnzimmer und das Wohnzimmer zum Schlafzimmer. Ich verwalte ein Vermächtnis. Jede einzelne Veränderung fällt mir schwer.

Am 1. November 2020 ziehe ich mit meiner Freundin ein. Mit der Zeit gewöhne ich mich daran, dass ich jetzt hier wohne. So, wie sich langsam die Fäden meines schwarzen Pullovers auflösen, diesmal wohl endgültig, beginnt sich die konkrete Erinnerung in mir aufzulösen. Ich schreibe diesen Text, damit etwas bleibt. Ich schreibe ihn im ehemaligen Schlafzimmer meiner Großeltern, wo jetzt mein Schreibtisch steht.

Die Kündigungsfrist, während der wir hier wohnen, läuft Ende Oktober 2021 aus. Zwölf Monate beträgt sie, weil der Mietvertrag so alt ist. Lange ist unklar, wie es dann weitergeht. Wird kernsaniert? Können wir uns die neue Miete danach noch leisten? Anfang September 2021 bekommen wir schließlich einen eigenen, unbefristeten Mietvertrag. Der Deal: Die Miete steigt moderat, in der Wohnung bleibt weitgehend alles, wie es ist. Der Gasofen. Die uralten Stromsicherungen. Der dauerdefekte Durchlauferhitzer im Bad immerhin soll erneuert werden. Wir haben ein paar Möbel gekauft, seit sich abzeichnet, dass wir länger bleiben. Das Alte und das Neue mischen sich. Der Name Heckler bleibt auf dem Türschild.

In einem Haus in der Dreimühlenstraße hat Alice Heckler gewohnt. Sie hatte einen Sohn und zwei Enkel. Sie hat in einer Bäckerei und später in einem Bekleidungsgeschäft gearbeitet. Sie war eine erstklassige Köchin. Ihr Enkel war leider ein schlechter Esser. Sie hat ihren Mann gepflegt, bis sie nicht mehr konnte. Als er versorgt war, ist sie gegangen.