Wer hat Angst vorm Mann ohne Kopf?

Der kleine Sohn unseres Autors fürchtet sich vor einem Schausteller – so sehr, dass er kaum noch in die Stadt möchte. Wie gehen Eltern mit Ängsten um, gegen die keine rationalen Argumente helfen? 

Illustrationen: Sarah Mazzetti

Niemand weiß, wann genau der Mann in unsere Stadt kam. Ob es vor der großen Seuche war oder mittendrin. Kein Komet oder anderes Omen kündigte ihn an. Auch weiß niemand, woher er kam. Eines Tages war er einfach da, ließ sich vor den Toren der Heilig-Geist-Kirche am Viktualienmarkt in München nieder und ging nicht mehr weg.

Auf den ersten Blick ist nichts Besonderes an dem Mann. Er sitzt auf einem Hocker und trägt einen schwarzen, etwas klobigen Anzug. Er besitzt zwei Beine und zwei Arme. Er hat auch zwei Hände, deren Finger flink über die Tastatur einer Ziehharmonika fliegen. Und eine weiße Tupperbox, in die Menschen ab und zu Münzen werfen. Kalinka, kalinka, kalinka, maya! Was er nicht hat, ist ein Kopf. Und das ist ein Problem. Nicht für ihn, aber für meinen Sohn.

Irgendwann in der Spätphase der Pandemie, als die Straßen sich wieder füllten, radelten wir zum ersten Mal an ihm vorbei. Ein paar Passanten standen um ihn herum. Auch kleine Kinder mit großen Augen, die ihn gebannt musterten, so wie Kinder die Gruselgestalten am Eingang von Geisterbahnen mustern: mit Neugier, aber auch mit wohligem Schaudern.

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Die Fußgängerzonen des reichen Münchens sind ein umkämpfter Ort für Gaukler und Schausteller. Sie schmettern Arien, führen Kunststücke mit Fußbällen vor, sitzen scheinbar in der Luft oder spucken Feuer. Unser Mann (ist es überhaupt ein Mann?) hatte dagegen wenig zu bieten, außer eine billige optische Täuschung und abgestandene Akkordeon-Schlager. Sein Oberkörper samt Kopf steckte in einer Box, darüber ein Anzug. Eine Stange, am Rücken der Box befestigt, hielt einen Hut in der Luft. Dazwischen, da, wo sein Gesicht sein sollte, war Luft. Ich dachte noch: Welches Schicksal hat ihn wohl zu uns und diesem Dasein verschlagen? Wir hielten nicht mal an.

»Aber der Mann!« Er stand jetzt zwischen uns.

Doch der böse Zauber des Mannes begann da schon seine Wirkung zu entfalten. Wir wussten es nur noch nicht. Bis dahin hatte es der Kleine geliebt, mit seinem Rad, auf das er so stolz war (sieben Gänge!), in die Stadt zu fahren, aber nun war da plötzlich diese Reserviertheit, ja Beklemmung. Wollten wir fortan unsere Runde drehen, was besorgen, hieß es: »Aber der Mann!« Er stand jetzt zwischen uns. Und von da an begann die Sache, nun ja, kopflos zu werden.

Nach einigen unfreiwilligen Begegnungen mit vielen Tränen und Verwünschungen fuhr nun stets einer voraus, um die Lage zu sondieren. Irgendwann gingen wir dazu über, den Mann großräumig zu umfahren. Schließlich behalfen wir uns mit Notlügen: Er sei weitergezogen, in eine andere Stadt, doch, ganz bestimmt! Und machten alles nur noch schlimmer, weil wir das Urvertrauen in die elterliche Allwissenheit verspielten, denn dem Mann gefiel es gut in München.

Im Winter war er dann tatsächlich verschwunden, der Sohn atmete auf, wir fingen an, ihn zu vergessen. Doch mit den ersten warmen Tagen schlug er wieder seinen Platz auf. Wir erkannten ihn schon von Weitem am Klang der Ziehharmonika. Dem Sound, aus dem die Albträume sind.

Der Viktualienmarkt war nun eine verbotene Zone, die uns nur noch ohne Kind offenstand. In die Stadt wollte unser Sohn gar nicht mehr, schon der Gedanke daran versetzte ihn in Schrecken, denn dem Mann war irgendwann eingefallen, auch an anderen Stellen der Innenstadt seine Kunst aufzuführen. Er war un-berechenbar geworden, konnte jederzeit hinter jeder Ecke lauern. Eine Figur aus einem Stephen-King-Thriller. Eine Fratze des Nichts, aus der einem der horror vacui entgegenspringt.

Noch kann niemand sagen, welche Spuren der Mann im Leben unseres Sohnes hinterlassen wird.

Angst ist ein elementares Gefühl, eine Alarmanlage und Lebensversicherung, ohne die es uns gar nicht gäbe. Die Evolution bestraft Arglosigkeit mit dem Tod. Gerade Kinder haben oft Angst: vor der Dunkelheit, vor Gewittern, vor Geistern, vor diesem unheimlichen Mann. Die Kinderpsychologie spricht von der »magischen Phase«. Sie dauert für gewöhnlich bis zur Einschulung. Bei manchem hört sie nie auf. Zum Problem wird Angst, wenn sie der Bedrohung nicht angemessen ist. Ist diese übersteigerte Angst an ein Objekt oder eine Person gebunden, spricht man von Phobie. Und damit hatten wir es inzwischen zu tun.

Das so verschattete Kind weckt in den Eltern natürlich Beschützerinstinkte. Also beschwichtigt man. Schau mal, das ist nur eine Verkleidung. Der will nur spielen! Geholfen hat es wenig. Auf die Frage, was genau so fürchterlich am Mann sei, pflegt er zu sagen: »Weil er da ist.« Dem kann man schwer widersprechen.

So ist das mit den Ängsten. Einmal da, gehen sie so schnell nicht wieder weg. Jeder Mensch bringt eine für ihn typische Angst-disposition von Geburt an mit, weiß die Psychologie. Wie sie sich ausgestaltet, entscheiden die Umstände, die Prägungen des Lebens. Und: Ängste zielen ohne Umwege über das Hirn in die Seele, daher kann man ihnen auch so schwer mit Argumenten beikommen. Oder ist je einer von seiner Spinnenangst geheilt worden mit den Worten: Die ist nicht giftig?

Noch kann niemand sagen, welche Spuren der Mann im Leben unseres Sohnes hinterlassen wird. Wird er ihn vergessen oder nie wieder los, so wie ich den Spruch, den meine Oma mir immer mitgab, wenn ich nachts durch die stockfinstere Siedlung nach Hause musste: »Pass auf, dass dich der Nachtvogel nicht holt!« Machen wir es als Eltern gerade richtig? Soll man die Dinge laufen lassen oder eingreifen? Würde es der Mann verstehen und gehen, wenn man ihm den Hut vom nicht vorhandenen Kopf fegen würde und sagte, dass es in dieser Stadt nur Platz für einen von uns geben kann?

Die Kinderseele ist eine Welt für sich, zu der die Erwachsenen nur bedingt Zutritt haben sollten.

Was einem alles geraten wird: Geht doch mal zum Arzt! Oder: Ich kenn da einen Psychologen! Wir haben uns für Gelassenheit entschieden. Ich glaube, die Kinderseele ist eine Welt für sich, zu der die Erwachsenen nur bedingt Zutritt haben sollten. Sie ist undurchschaubar. Mal staunt man, wie schnell die Kleinen glücklich sind, mal sagen sie Dinge, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Erst neulich, aus dem Nichts, der Satz des Sohnes beim Frühstück: »Ich find’s so cool, dass ich geboren bin!« Ein andermal, ich wollte gerade Gute Nacht sagen, die todernst gemeinte Frage, ob ich wirklich der Papa sei. Denn manchmal, jetzt zum Beispiel, denke er, ich sei nur als sein Vater verkleidet und in Wirklichkeit jemand ganz anderes. Stoff für schlaflose elterliche Nächte.

Ängste überwindet man, indem man sich ihnen stellt, heißt es. Goethe stieg auf den höchsten Turm des Straßburger Münsters, um seine Höhenangst zu überwinden. Deswegen müssen Kinder ständig so viel ausprobieren, ihre Grenzen austesten, all die Mutproben machen, um zu wissen, was wirklich gefährlich ist und was nicht. Erwachsenwerden heißt Entzauberung, heißt Dahinterkommen. Das können sie nur selbst.

Neulich hatten wir im samstäglichen Getümmel zu langsam geschaltet, unser Sohn stieg in die Bremsen, aber es war zu spät.

Kalinka, kalinka, maya.

Diesmal kehrte er nicht um. Die eine Hand zum Schutz vors Gesicht gehalten, den Blick auf den Boden gerichtet, alle Muskelfasern angespannt, rollte er, ganz langsam, am Mann vorbei.

Und nichts passierte. Aus dem kleinen war ein großer Mann geworden. Und der Mann ohne Kopf spielte Ziehharmonika dazu.