Die Klaviatur des Erfolgs

Klassische Musik lebt von der Lüge, dass Geld hier keine Rolle spielt. Dahinter stecken eine gut geölte Maschine - und Stars wie Cameron Carpenter und Jonas Kaufmann.

Erstaunlich, ja, befremdlich, dass es das überhaupt gibt: Klassik-Charts.

Immerhin reden wir da über Musik, die einer Zeit entstammt, in der die Welt noch Schwarz-Weiß (beziehungsweise in Öl gemalt) war. Und deren Schöpfer größtenteils schon so lange tot sind, dass für die Aufführung ihrer Werke keine Tantiemen mehr fällig werden (ein paar Ausnahmen gibt es, an dieser Stelle: herzliche Grüße!). In dieser Welt wird die Zeit nicht in Tagen und Wochen, sondern in Epochen und Jahrhunderten gezählt. Hier geht es nicht um die Gegenwart, sondern die Ewigkeit, amen.

Hinter dieser Fassade ist die Klassik-Welt natürlich längst so durchkommerzialisiert wie jede andere Sparte, und zwar nicht erst seit Erfindung der Hitparade. Den Großteil der Sonaten, Sinfonien, Solo-Suiten, Etüden, Konzertwalzer und Opern gibt es ja nicht etwa deshalb, weil sie ein überirdisch begabter Musiker in tagelangem Kampf dem Universum abtrotzte, aus dem Pflichtgefühl heraus, sie dem späteren Konzertpublikum hinterlassen zu müssen. Sondern einfach deshalb, weil sie ein Fürst, ein Erzbischof oder ein anderweitig zu Geld gekommener Mensch bestellt hat, aus verschiedensten Motiven, zumeist: Langeweile, Lust an der Angeberei oder schlechtem Gewissen gegenüber Gott. Und dann setzten sich die Musiker halt hin und komponierten was. Später traten an die Stelle der Fürsten die Operndirektoren, danach die Bosse der großen Plattenlabel, wer ihnen nachfolgt, wenn sie den Thron verlassen, ist noch nicht so ganz absehbar.

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Aber bis es soweit ist, zieht die Klassik – noch viel mehr als Schlager und Deutsch-Rap – ihren gewinnbringenden Glanz aus der Illusion, dass Geld hier nun wirklich keine Rolle spielt. Weil es vordergründig um etwas anderes geht, in erster Linie: Schönheit, Genie und Exzentrik. Und deshalb ist es kein Wunder, dass auf den Spitzenplätzen der offiziellen Klassik-Charts jetzt gerade Cameron Carpenter und Jonas Kaufmann stehen.

Ein interessanter Gegensatz, an dem man die Mechanik der Branche wunderbar ablesen kann:


Cameron Carpenter, ein muskelbepackter und trotzdem androgyner Virtuose, der aussieht wie eine männliche Fee, spielt das unintimste, maschinenhafteste Instrument, das man sich vorstellen kann: Orgel. Und zwar brauchen wenige Instrumente beim Spielen so viel Körpereinsatz wie dieses (Die Register! Die Tasten! Die Pedale!), gleichzeitig aber verschwindet der Körper des Musikers schon allein quantitativ unter der Wucht der Pfeifen. Im Vergleich zur Orgel ist sogar eine Piccoloflöte körperbetont (Kesselpauke und Kontrabasstuba sind ohnehin purer Sex). Und weil so eine Orgel zum Klingen einen riesigen Raum braucht, in dem sich die Schallwellen freischwingen können, stehen bei einer Plattenaufnahme die Mikrofone nicht nah am Musiker, sondern im ganzen Raum verteilt – und also ist das Album »All you need is Bach« ungefähr so intim wie ein zugeworfener Kuss im Großflughafen. Aber das macht nichts, denn genau darum geht es ja: Meine Damen und Herren, Cameron »The Machine« Carpenter versus Johann Sebastian Bach, ein Mann ringt mit der Ewigkeit, man kann sie atmen hören aus den Orgelpfeifen. Carpenter hat seine ganze Jugend darauf verwendet, sich auf diesen Kampf vorzubereiten. Wer gewinnt, darf jeder selbst entscheiden (es ist das Label, natürlich).


Dagegen: Jonas Kaufmann, der zum Musizieren keine Riesenmaschine benötigt, er braucht nur seinen Körper. Er verschwindet nicht als Mensch hinter dem Klang, nein: Sein Körper IST Musik, und man nimmt ihm sofort ab, dass er seine Jugend und auch die folgenden Jahre anders verbracht hat als damit, sich auf überirdische Kämpfe gegen tote Giganten vorzubereiten. Auf seinem Album »Nessun dorma« singt Kaufmann Puccini-Arien, es ist sehr muskulöse Musik, allein das titelgebende Stück »Nessun dorma« schraubt sich unauslöschlich ins Gemüt. Es hat schon vielen Star-Tenören vor ihm zu Ruhm in den Herzen und Wohnzimmern seiner Fans verholfen, auch jenen Kollegen, die sonst eher nicht so viele Erfolge auf der Opernbühne hatten. Kaufmanns Bart hat schon charismatisch graue Stellen, seine Stimme ist dunkel, hinter ihm spielt ein riesiges Orchester, aber man hört vor allem: ihn. Also: seinen Körper. »All'alba vincero«, singt Kaufmann, »Bei Tagesanbruch werde ich siegen«, aber das ist Quatsch, er weiß das selbst am besten, weil er ja längst schon gewonnen hat. Und das Label, natürlich.

Fotos: Sony Music/Gavin Evans