Es gibt sie noch, die guten Stimmen

Im Meer der vielen DJ-Hits und Plastik-Remixes gibt es derzeit einen Chartssong, der heraussticht: »Human« von Rag'n'Bone Man. Der Sänger setzt auf das Manufactum-Prinzip.

Von der Stimme reden sie immer zuerst. »Total soulig«, »richtig schön bluesig«, so moderieren sie das Lied jeden Morgen im Hitradio an. Und die kurze Irritation, wenn man dort überhaupt mal solche Adjekive hört, zeigt ja schon, wie ungewöhnlich dieser Hit ist. In Deutschland und Österreich steht Rag’n’Bone Man, der Mann hinter der Stimme, gerade auf Platz 1. Die zweite Woche in Folge. Ein hierzulande völlig unbekannter Sänger mit ziemlich merkwürdigem Künstlernamen. Keine Frage, »Human« ist ein gut gemachter, packender Song, aber: dass sich gerade alle auf diesen Song einigen können, liegt nicht nur an der Stimme. Da muss noch mehr sein.

Da wäre einmal das Markendesign: Rory Graham, wie der Mann heißt, ist überall selbst zu sehen, auf jedem seiner bisherigen Plattencover und in jedem der Videos, ein schwerer Mann mit Fusselbart und Halstattoo. Guckt her, sagt diese Optik, hier ist ein kerniger Typ, der für euch singt. Es gibt sie noch, die guten Sänger, ganz ohne Photoshop und Autotune. In jedem Interview erklärt er, wie ihn die Blues-Schallplatten seiner Eltern, von JJ Cale bis BB King, geprägt haben. Rag’n’Bone Man inszeniert sich als eine Art Manufactum-Star.

Wie wichtig das für seinen Erfolg ist, erkennt man, wenn man sich den Rest der Charts anschaut. Platz 2 diese Woche: DJ Snake feat. Justin Bieber, Platz 3: The Chainsmokers feat. Halsey, Platz 4: Sia feat. Kendrick Lamar, und so weiter. Die erfolgreichsten Hits sind ein einziges Kooperieren, Optimieren, Covern, Neumischen. Ein Song ist heute nur so gut wie sein knalligster Remix.

Da fällt schon sehr direkt auf, was Rag’n’Bone Man anders macht. In einem Meer an immer neuen Features, bei denen eigentlich niemand mehr so genau weiß, wer da nun singt und wer nur remixt und ob dahinter überhaupt noch ein Mensch steckt oder nur noch ein Spotify-Algorithmus – da ist Rag’n’Bone Man eine Art Felsen, flach bewachsen, gut überschaubar und stabil. Jemand, der zur Abwechslung mal selber singt und die Songs schreibt. Der sich tatsächlich, wie in der guten alten Zeit, über kleine Bühnen in Brighton nach oben gespielt hat (tolles Detail für die Morningshow-Moderatoren!). Plus diese Stimme - wer Hitradio hört, muss da einfach hängen bleiben. Huch, ein echter Mensch in den Charts! Und dann heißt der Song auch noch »Human«, das ist schon fast gespenstisch clever.

Erinnert an: Aloe Blacc und Everlast
Wer kauft das? Leute, die sagen, dass sie an Schallplatten »das schöne Knistern« mögen.
Was dem Song gut tun würde: Vielleicht ein etwas knackigerer Remix von DJ Snake feat. ... - nein, nur Spaß.

Foto: Gettyimages / Andy Sheppard