Wir haben uns in dieser Kolumne schon mit allem möglichen beschäftigt. Mit der Frage, wie altmodisch Dance-Beats sein müssen, um besonders modern zu wirken. Warum Sido melancholische Refrains braucht, um Hits zu landen. Was die ersten Plätze der Charts über deutsche Musikfans oder vielleicht sogar die Gesellschaft als Ganzes aussagen. Und dann kommen plötzlich die aktuellen Album-Charts auf den Tisch, und wir sind – ratlos. Neueinsteiger, ohne Umweg auf Platz eins, direkt an der Spitze: die Kastelruther Spatzen mit Heimat – deine Lieder. Eine Truppe, die..., eine Band, mit der... naja, am schönsten hat es ein sehr genauer Autor bei Wikipedia formuliert: »eine Musikgruppe aus Südtirol auf dem Gebiet des volkstümlichen Schlagers«. Korrekt. Und wie kommen die plötzlich auf Platz eins? Mit welchem geheimen Codewort wurden da Tausende von Schlager-Schläfern geweckt, auf dass sie losmarschieren und dieses Album kaufen? Hatte man nicht den Eindruck, das »Gebiet des volkstümlichen Schlagers« sei langsam eine eher menschenleere Gegend? Eine windige Wüste, durch die einsame Buschballen rollen? Da waren doch Meldungen: überaltertes Publikum beim Musikantenstadl, Nachwuchsprobleme bei den Stars, Quoten und Verkaufszahlen wacklig.
Und dann das. Die Kastelruther Spatzen, seit über 30 Jahren im Geschäft, auf Platz eins. Zum ersten Mal übrigens. Es scheint einen Grund für den Erfolg zu geben: Die Gruppe hat für dieses Album 20 Lieder zusammengestellt, die in der Schlagerwelt längst jeder kennt - »La Montanara«, »Muss i denn zum Städtele hinaus« und so weiter -, da finden sich die verbliebenen Schlagerfans zurecht, da kriegen sie noch mal ein Potpourri ihrer Lieblingsmelodien. Schön. Den noch wichtigeren Grund verraten die Spatzen aber auf ihrer Homepage: »Diese Lieder gab es von uns noch nie!« Und da muss man sagen: Hut ab. Genialer Schachzug. Schließlich hat sich vor drei Jahren rausgestellt, dass die Kastelruther Spatzen jahrelang auf ihren Platten gar nicht selber musiziert haben, sondern in schöner Milli-Vanilli-Tradition einen Haufen Studiomusiker spielen ließen. Und wenn der Satz »Diese Lieder gab es von uns noch nie!« jetzt als Verkaufsargument dermaßen zieht, dann schaffen Norbert, Albin, Walter, Valentin, Karl, Rüdiger und Kurt auch mit den nächsten zehn Alben Platz eins. Sie müssen einfach nur alle Höhepunkte ihrer letzten 30 Jahre noch mal veröffentlichen, diesmal selber gespielt - und immer mit diesem einen genialen Werbespruch versehen. »Diese Lieder gab es von uns noch nie!« Auf die Idee hätten Milli Vanilli damals vielleicht mal kommen sollen.
Erinnert an Fototapeten.
Wer kauft das? Wir werden versuchen, es rauszukriegen. Versprochen.
Was dem Album gut tun würde? Viel hochprozentiger Tiroler Schnaps (für den Hörer).
Foto: DPA