Die Pfaueninsel

Fünf Jahre berichtete unser Autor für die Süddeutsche Zeitung aus dem Regierungsviertel in Berlin. Hier nimmt er Abschied von den zehn Typen, die er am meisten vermissen wird.

1–Der Ottokrat
Mein Lieblingsminister ist der Ottokrat. »Kratein« heißt auf Griechisch »herrschen« und »ottô« wird im Bochumer Anthroposophenpsalter von 1132 im Sinne von »ohne Einschränkung, ohne Rücksicht« benutzt. Der Ottokrat wurde vor mehr als 72 Jahren in die großbürgerliche Schily-Familie hineingeboren und herrscht seit 1998 sehr ottomäßig über das Innenminis-terium. Seine Mitarbeiter fürchten ihn, weil er keine Zweifel daran lässt, dass ihn ein höheres Wesen, so es überhaupt ein Wesen gibt, das höher sein kann als der Ottokrat, an die Amtsspitze gesandt hat. Gerhard Schröder, nominell der Chef des Ottokraten, weiß sehr wohl, dass er dieses höhere Wesen nicht ist. Wenn der Ottokrat gut gelaunt ist, setzt er seine Ledermaske auf und peitscht seinen Pressesprecher ein wenig. Ist er schlecht gelaunt, erfindet er schnell mal Lager für Asylbewerber in Nordafrika. Unvergessen ist jene Bundespressekonferenz anlässlich des vom Innenministerium versaubeutelten NPD-Verbots. Da schleppte der Ottokrat drei hochrangige Mitarbeiter, darunter einen Staatssekretär, vor die Journalisten und erklärte denen, dass die um ihn sitzenden Mitarbeiter zwar unglaublich großen Unsinn gebaut hätten, er sie aber wegen früherer Leistungen noch am Leben, das heißt im Amt, belassen wolle. Die Gnade des Ottokraten kann fürchterlich sein. Als Mensch, zum Beispiel wenn er allein im »Einstein« sitzt, ist der Ottokrat manchmal heiter und immer angenehm ironisch. Im Dienst ist der Ottokrat fast nie Mensch.

2–Die anonyme Quelle
In Berlin kann man als Journalist nicht so recht überleben, wenn man keine anony-men Quellen kennt. Das scheint zwar zunächst ein Widerspruch in sich zu sein, denn wer bekannt ist, kann eigentlich nicht anonym sein. Der Widerspruch aber löst sich leicht auf, denn praktisch jeder, der glaubt, etwas zu sagen zu haben, und das sind in Berlin ganz viele, wechselt bereitwillig und lustvoll zwischen der Rolle als Abgeordneter, Parteivorsitzender, Ministerpräsident und der Rolle als anonyme Quelle hin und her. Kein Unions-Ministerpräsident zum Beispiel würde öffentlich sagen, dass Angela Merkel eine nur mittelmäßige Parteivorsitzende ist. Sichert man dem Herrn Ministerpräsidenten aber zu, dass man schreiben wird: »In Führungskreisen der Union heißt es…«, dann sprudelt die anonyme Quelle: »…die Merkel hat es nicht drauf, sie ist viel zu misstrauisch, eine Physikerin aus dem Osten eben…« Der Journalist liebt anonyme Quellen. Die wiederum lieben den Journalisten, weil alles Schlechte, was sie über die Merkel denken, in die Zeitung kommt, ohne dass sie es dementieren müssen. Das ist das ideale parasitäre Verhältnis, wobei man oft nicht weiß, wer in welchem Fall jeweils der Wirt und wer der Parasit ist.

3–Michael Glos
Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag ist Franke, wofür er aber nichts kann. Er ist einer der wenigen, bei denen man den Eindruck hat, Politik mache ihnen immer noch Spaß, obwohl der Stoiber dauernd in Berlin herumfuhrwerkt. Wenn Glos zu einer großen Rede im Bundestag anhebt, fürchtet er sich vor nichts, nicht einmal vor sich selbst. Manchmal trifft auf den Redner Glos zu, was einmal der Herausgeber von Konkret, Hermann Gremliza, über den Zeit-Leitartikler Theo Sommer geschrieben hat: der König der Zulu-Metaphern. Macht aber nichts, jedenfalls meistens nicht, denn Glos bringt Farbe, wenn auch manchmal grelle, in den Reichstag. Als Angehöriger einer in Bayern nicht ohne Grund diskriminierten ethnischen Minderheit beherrscht er die Kunst des politischen Überlebens auch und gerade mit dem Mittel der fein ziselierten Weißwurst-Intrige. Glos liebt Bayern, ist aber froh, dass die Staatskanzlei 600 Kilometer entfernt von Berlin liegt.

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4–Der dicke Polizist
Kaum irgendwo auf der Welt gibt es dickere Polizisten als in Berlin, höchstens noch auf den Fidschiinseln und in manchen Landkreisen der amerikanischen Südstaaten. Die meisten dicken Berliner Polizisten stehen im Regierungsviertel Wache vor gefährdeten Gebäuden, zum Beispiel vor der britischen Botschaft oder Joschka Fischers Wohnung. Im Frühling haben sie grüne Pullover über den Kugelbäuchen und davor hängen Maschinenpistolen. Damit sehen sie eher melancholisch als wehrhaft aus. Irgendwie symbolisieren die dicken Polizisten sehr gut den Geist der Bundeshauptstadt Berlin. Man bemüht sich, ganz ungeheuer hauptstädtisch zu sein und, wenn es sein muss, auch martialisch. Was aber dann dabei herauskommt, sind dicke Polizisten, die stark an die Blechdosenarmee der Augsburger Puppenkiste erinnern.

5–Katrin Göring-Eckardt
Wie es sich für eine ostdeutsche Theologin gehört, ist KGE mit einem pferdeschwän-
zigen Pastor verheiratet. Anonyme Quellen (siehe oben) halten die grüne Halb-Fraktionschefin für politisch zu leichtgewichtig. Aber was heißt das schon in einer Partei, deren beide Vorsitzende phänotypisch auch Berliner Polizisten (siehe oben) sein könnten, während die andere Halb-Fraktionschefin eindeutig zu norddeutsch ist? KGE hat etwas Präraffaelitisches, eine Art wenn nicht Mutter-, so doch Schwester-Maria-Ausstrahlung. Sie wirkt, man entschuldige den altmodischen Ausdruck, frisch und nicht unbedingt so, als lege sie großen Wert darauf, mit alternden Männern stundenlang Rotwein zu trinken. Dies mag einer der Gründe dafür sein, warum der Kanzler mit KGE nicht so furchtbar viel anfangen kann. Andersherum ist das ganz ähnlich. Jedenfalls gehört KGE zu jenen Grünen in der Bundespolitik, die auf angenehme Weise das alte Realo-Fundi-Fischer-Partei-Vorurteil widerlegen. Wirklich bemerkenswert ist die Tatsache, dass sie trotz ihres ostischen Theologentums in keiner Weise schorlemmert oder auch nur thierset.

6–Der glatzköpfige Steg
Einerseits ist der glatzköpfige Steg eine konkrete Person, nämlich der stellvertretende Regierungssprecher Dr. Thomas Steg. Andererseits steht der glatzköpfige Steg aber auch für eine Berliner Gattung von durchaus zu bedauernden Wesen, die als Pressesprecher, Redenschreiber und Mitarbeiter im Schatten ihrer meist egomanischen Chefs und Chefinnen werkeln (siehe auch: Der Ottokrat, Joschka Fischer). Wenn Erfolge zu verzeichnen sind, war es der Chef. Gibt es Misserfolge, sagt der Chef, die Kommunikation war schlecht, und dann sind die glatzköpfigen Stegs schuld daran. Wie in allen Branchen gibt es auch unter den glatzköpfigen Stegs solche und solche. Die einen sind diejenigen, die viel reden, ohne etwas zu sagen, die sich selbst für die besseren Politiker halten und/oder Journalisten tendenziell als schleimgeborene Übelwoller betrachten. Die anderen glatzköpfigen Stegs aber, darunter ihr Namensgeber, sind aufrechte Menschen, denen man, eingedenk ihrer schwierigen Situation, vertrauen kann und die einen nur dann anlügen, wenn es ihnen der Chef befiehlt. Man findet die guten Stegs in allen Parteien und in vielen Ministerien. Die schlechten leider auch. Wie es so ist im Leben, sind die schlechten oft die Chefs der jeweiligen Abteilungen, weil man als katzbucklerisches Wortgebläse ganz oben besser angesehen ist. Als Journalist verbringt man mit den glatzköpfigen Stegs sehr viel Zeit – in der Bundespressekonferenz, am Telefon, in Hintergrundgesprächen, auf Reisen. Ein paar wenige sind so, dass man sie auch privat trifft. Die sind dann eindeutig zu den Lieblingsberlinern zu rechnen.

7–Laurenz Meyer und andere Loser
In Berlin ist man von ganz vielen Wichtigheimern umgeben, die noch dazu wahnsinnig selbstsicher tun. (Nein, keine Angst, es geht im Folgenden nicht um Guido Wes-terwelle.) Sie bevölkern die einschlägigen Lokalitäten und reden sehr laut über die Dummheit aller anderen oder über ihren letzten tollen Auftritt im Presseclub. Mir waren schon immer die wenigen viel lieber, die stets erkannt haben, wie nahe am Abgrund jeder Einzelne steht. Laurenz Meyer, der mit dem billigen Strom, gehört zwar eigentlich ganz klar zur Pfauenfraktion, hat aber trotzdem tief in den Abgrund geblickt. Ähnliches gilt für Leute wie Rudolf Scharping, Cem Özdemir und demnächst wohl auch Cornelia Pieper. »Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen«, hat Wilhelm Hauff schon 1824 in Reiters Morgenlied gedichtet. Der Hauff’sche Kavallerist wurde danach zu Grabe getragen. Diejenigen aber, die in der politischen Klasse stolpern, stürzen oder gestürzt werden, können sich oft nicht von der Bühne trennen, auf der sie jahrelang im Rampenlicht gestanden haben. Man begegnet ihnen auf Empfängen, wo sie, die früher umdrängt
waren, plötzlich nach Gesprächspartnern suchen müssen. Irgendwann habe ich beim Italiener in einer Ecke einen sehr dicken Mann mit vier weiteren Männern sitzen sehen. Ich dachte: »Das da hinten ist doch der Kohl. Aber wer sind die anderen an seinem Tisch?« Ich finde sie fast sympathisch, die Loser, die nicht loslassen können. Schon allein deswegen, weil jeder von uns früher oder später allein oder mit irgendwelchen Lemuren in einer Ecke sitzen und den glory days nachweinen wird.

8–Der Zinnfigurenverkäufer
Zugegeben, dies ist eine sehr subjektive Wahl. In der Knesebeckstraße, nahe am Savignyplatz, gibt es ein wunderbares Geschäft für Zinnfiguren und zugehörige Literatur. Wenn ich die Schnauze voll hatte von Steuerreform und Hartz IV, von Schreibtischöde und Pressekonferenzen, bin ich da hingefahren und habe Zwiesprache gehalten mit preußischen Grenadieren, 30 Millimeter, flach, oder einem Tempelritter, 54 Millimeter, plastisch, extra fein bemalt. Wer sich ausschließlich mit dem Politikbetrieb befasst, wird nämlich blöde oder sehr traurig – Schritt für Schritt, Jahr um Jahr. Wer nicht blöde werden will, muss sich eine Fluchtwelt schaffen ohne Politiker, Lobbyisten, Kollegen, ohne Empfänge, Hintergrundgespräche und Arbeitsfrühstücke. Diese Fluchtwelt kann aus Büchern bestehen oder aus einem Pferd in der Prignitz oder eben aus preußischen Grenadieren. Das Angenehme im Knesebeck-Geschäft war einer der Verkäufer, der offensichtlich sehr bewusst in der Fluchtwelt zu Hause war. Man konnte mit ihm über die Art der Unterwäsche im Siebenjährigen Krieg oder über das Wesen Napoleons sehr fruchtbringend reden. Einmal begleitete ich eine Kollegin in dieses Geschäft, weil sie ihrem Partner Zinnfiguren schenken wollte. Sie entschied sich für Mamelucken, wusste aber nicht so recht, ob der Freund schon Mamelucken hatte. Da sagte der intellektuelle Zinnfigurenverkäufer: »Mamelucken kann man nie genug haben«. So ist es. Sie helfen gegen Blödheit und Trauer.

9–Joschka Fischer
Ist ja schon alles gesagt worden über den häuserkämpfenden Metzgerssohn, der seit Jahren nun der dreiteilige Herr Deutschland ist. Ist wieder dick, weil er glücklich ist mit einer Frau. Soll es auch geben, fein, gönn ich ihm. Ist ein scheußlicher Egomane, nur jün-ger als der Ottokrat. Ist mittlerweile der längst-
gediente Außenminister der EU, wahrschein-lich der Welt. Wird im Restaurant um Auto-gramme und Fotos mit Touristen gebeten. Glaubt, er sei unersetzbar. Kann schrecklich krätzig sein, vor allem wenn er es mit Leuten zu tun hat, die er für irgendwie minderbemittelt hält (ungefähr 98,7 Prozent der Berliner politischen Klasse). Hat fragwürdige Tischmanieren, weil er Dinge nach Art des Braunkohletagebaus in sich hineinschaufelt. Hab trotzdem immer gern mit ihm gegessen und mir die Welt erklären lassen.

10–Franz Müntefering
Als junger Mann hat Franz Müntefering Fußball gespielt und Kurzgeschichten geschrieben. In die SPD ist er eingetreten, weil er in seiner Heimat ein paar Sachen für ungerecht hielt. Im Prinzip ist Müntefering
genau das geblieben, was er damals war, auch wenn er heute Parteivorsitzender ist. Er macht nicht alles richtig, manches wächst ihm über den Kopf und gelegentlich wirkt er auch täppisch. Trotzdem würde ich ihm, wäre er zum Beispiel Filialleiter der Sparkasse, mein Geld anvertrauen. Etwas viel Besseres kann man über einen Politiker nicht sagen.