Geborgenheit

Computerspiele: der Untergang des Abendlandes? Im Gegenteil. Für manche Fans bieten sie nicht nur eine angenehme eigene Welt, sondern auch ganz neue Formen sozialer Kontakte. Bekenntnisse eines Süchtigen

    Ich bin Computerspieler. Vielen Dank, dass Sie nicht sofort das Sozialamt rufen oder ein Sondereinsatzkommando der Polizei – mir geht es gut, danke, und ich habe auch nicht vor, Amok zu laufen. Ich will nur etwas klarstellen. Ich bin nicht einsam. Ich bin nicht hyperaktiv. Ich bin kein sozialer Krüppel. Ich bin nur ein Online-Computerspieler.

    Ich betone das so deutlich, weil nach Meinung vieler Medien und etlicher Menschen, die sich Experten nennen, Computerspieler angeblich genau das sind: eine Horde trauriger Gestalten, die Probleme haben – in der Schule, in ihren Beziehungen, eigentlich im ganzen Leben. Ich lese immer wieder windige Studien, die wie Krankenakten klingen: Computerspiele, womöglich noch im Internet, oh Gott, da sind doch Konzentrationsmangel, soziale Isolation und Sinnesüberreizung die Folge, die wahlweise zu Antriebsschwäche oder zu aggressiven Reaktionen im Alltag führen! Glaubt man diesen Experten, ist zwar noch nicht endgültig erwiesen, ob wir Computerspieler nun bemitleidenswerte Trottel oder doch eher furchterregende Zombies sind, eines sind wir aber sicher: eine Gefahr. Ich habe es so satt. Mich ärgert dabei nicht die Kritik an sich. An vielen Computerspielen gibt es etwas zu kritisieren, genauso wie an vielen Büchern, Filmen oder dem Fernsehprogramm. Mich ärgert die Haltung, die hinter dieser Kritik steht: eine Ignoranz, die nicht einmal den Versuch macht zu begreifen, was im Internet und den Spielen dort geschieht – das Entstehen einer neuen Kultur.

    Ich spiele zum Beispiel Eve Online. Dieses Computerspiel ist ein MMORPG, das steht für das Wortungetüm »Massively Multiplayer Online Role-Playing Game« und bedeutet eine neue Form des Spielens: alle zusammen, alle gleichzeitig, in einem nie endenden Spiel, das sich online in von Computern erstellten Fantasiewelten zuträgt – und in dem jeder Spieler seine Spielfigur in bislang unbekanntem Maß selbst gestalten und entwickeln kann. Eve Online, das als Science-Fiction-Spiel in einer fernen Galaxie einer fernen Zukunft angesiedelt ist, hat den Ruf, die Möglichkeiten eines MMORPG so radikal zu nutzen wie wenige andere Spiele: Jeder Spieler kann mit jedem anderen Spieler in diesem Universum interagieren; große Teile der Politik, nahezu der gesamte Handel, Industrie, Kriegsführung, Forschung, alles liegt in den Händen der Spieler.

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    Darin liegt die Faszination: Mein Handeln als einzelner Charakter in diesem Universum kann nicht nur Auswirkungen auf alle anderen Spieler haben, sondern auch auf den weiteren Verlauf dieses Universums – damit sprengen Spiele wie Eve das Muster, nach dem Unterhaltung lange funktionierte. Ich bin jetzt beide Seiten der bisherigen Unterhaltungsmedien: Einerseits erlebe ich wie ein klassischer, passiver Medienkonsument die Geschichte des Universums von Eve Online, andererseits bin ich in dieser Geschichte aber auch handelnder Akteur, der ihren Lauf verändern kann.

    Wäre Eve ein Buch, würde ich es zugleich lesen und selbst fortschreiben – eine faszinierende Konstellation, was sicher auch die Fundamentalisten unter den Computerspiel-Kritikern verstehen: Bücher wie Die unendliche Geschichte oder Tintenherz folgen der gleichen Grundidee. Egal, wie gefesselt ich der Unendlichen Geschichte aber folge, ich bleibe immer passiver Leser. In Eve bin ich aktiver Spieler. Ich bin in der Tat Teil der Geschichte, die ich erlebe.

    Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum im Irak stationierte amerikanische Soldaten mit einem türkischen Lebensmittelingenieur durchs Weltall fliegen wollen.

    Interessanterweise erzwingt diese Komplexität des Spiels von seinen Spielern etwas, was sie den gängigen Vorurteilen nach gar nicht haben: ein hohes Maß an sozialer Interaktion. Ich allein kann versuchen, einen Teil herrenlosen Weltraums zu besetzen. Ich werde scheitern. Ich brauche Hilfe. Zu diesem Zweck schließen sich Spieler zu Vereinigungen zusammen, die sich wiederum zu Allianzen zusammenschließen, die über E-Mails, Internet-Sprachdienste oder Chat-Foren Kontakt halten, um den Abbau von Asteroidengürteln, Angriffe auf andere Sonnensysteme oder den Bau von Raumschiffen der Titan-Klasse zu organisieren.

    Was am Ende herauskommt, sind neue Formen sozialer Kontakte – eine ganz eigene Art der Geborgenheit. Ich zum Beispiel bin Mitglied einer Allianz aus Rumänien, deren größte Spielervereinigung aus Briten, Holländern, Dänen, Deutschen und einem türkischen Lebensmittelingenieur besteht, der aus seiner Wohnung in Istanbul so erfolgreiche Raumschiff-Staffeln organisiert, dass sogar die im Irak stationierten amerikanischen Soldaten mit ihm durchs Weltall fliegen wollen.

    Ich kenne keinen dieser Menschen mit seinem echten Namen. Ich kenne nur ihre Charaktere und ihre Stimmen. Und ich kenne unsere gemeinsame Geschichte in der großen Geschichte von Eve: Wie wir den »Burn Eden«-Titan im Sonnensystem 6QBH-S abschossen, weißt du noch…? Ist das Freundschaft? Wenn, dann nicht auf die herkömmliche Art. Sieht so soziale Isolation aus? Sicher nicht.

    Gern läse ich in den Medien einmal etwas über diese Spannungsfelder in der neuen Art des Spielens. Passiert aber nie. In Sachen Computerspiele ist immer nur Weltuntergang. Ich weiß nicht, woher diese ablehnende Ignoranz gegen-über Computerspielen kommt. Vielleicht haben ältere Menschen Angst vor der Faszination, die Computerspiele auf jüngere Menschen ausüben? Vielleicht verstehen sie nicht, dass die ihnen bekannte Palette von Medien wie Bücher, Radio, Fernsehen um eine Dimension erweitert wird, die Unterhaltung neu definiert? Vielleicht pflegen sie nur einen waidwunden Kulturpessimismus?

    Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines: Diese herablassenden Kritiker werden noch staunen. Ich zähle zu der Generation, die im Gleichtakt mit Computern und ihren Spielen groß geworden ist: C64, Atari, PC, Konsolen, es war ein langer Weg von Daddeleien in Schwarz-Weiß wie in Pong bis zu alternativen Realitäten wie in Eve Online. Ich kann mich aber noch an diesen Weg erinnern, der vielleicht einmal als die Stummfilm-Phase der Computerspiele in die Geschichte eingehen wird. Ich kann mich noch über die ablehnende Haltung gegenüber Computerspielen ärgern.

    Jüngere Menschen dagegen, die das Glück hatten, gleich mit Spielen wie Civilization oder Grand Theft Auto aufzuwachsen, kennen nur noch eine Welt, in der Computerspiele die Krone der Unterhaltungsmedien sind. Sie werden sich über Ignoranz nicht mehr ärgern. Sie werden nur noch darüber lachen.

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    Illustration: Christoph Niemann