jetzt.de: Herr Steinmeier, es gibt verschiedene Angaben dazu, wie lange Sie in Ihrer Gießener Studentenwohngemeinschaft gelebt haben. Wie viele Jahre hatten Sie dort ein Zimmer?
Frank-Walter Steinmeier: Fast 15 Jahre, von 1976 bis 1991.
Eltern verstehen unter dem Leben in einer WG gern eine nie endende Party. Hat Ihre Mutter je gemosert, weil Sie so lange geblieben sind?
Ich komme aus eher einfachen Verhältnissen. Schon Abitur war bei uns in der Familie, selbst im Dorf etwas Ungewöhnliches. Erst recht das Studium. Ich glaube, meine Mutter hat in der Zeit weniger interessiert, wie ich wohne. Ihr war wichtig, dass ich wohne.
Wie kam es zu der WG in der alten Zigarrenfabrik in Gießen?
Ich fuhr nach Gießen zur Einschreibung und fand am selben Tag diese kleine Wohnung. In Hessen gibt es eine ganze Reihe von alten Zigarrenfabriken. Diese in der Gießener Straße war in zwei Hälften geteilt. In die eine zog ich mit meiner Freundin, in der anderen wohnten Petra und Ahmed, mit denen ich später meine erste große Türkei-Rundreise gemacht habe. Wir haben dann aus unserer Hälfte eine Wohngemeinschaft gemacht. Zuerst mit meinem Freund Dietrich, der heute Psychiater ist und auch in Berlin wohnt. Später mit bis zu fünf Leuten in insgesamt sieben Zimmern.
Sie waren das WG-Oberhaupt?
Dietrich und ich waren die beiden Anker der Wohngemeinschaft. Also diejenigen, die eine WG mit einem öligen VW-Motor und einer Rückbank vom Ford 12 M im Keller übernehmen und das alles erst mal sauber machen.
Als Erstbezieher haben Sie alle weiteren Bewohner mit ausgesucht. Woran erkennt man, wer rein passt?
Einen gänzlich Unbekannten gab es eigentlich nie. Die Bewerber waren Leute, die wir schon kannten, mit denen wir in den politischen Studentengruppen zusammen waren. Erst heute morgen hat mich einer hier in Berlin besucht, der gehörte damals zu den Auserkorenen. Er hatte damals sein Zimmer gestrichen und alles eingerichtet - um letztlich doch nicht einzuziehen. Das hat natürlich seinen Nachfolger gefreut.
Hätten Sie Angela Merkel in Ihre WG genommen?
Naja, das im Kollektiv durch zu bekommen, wäre nicht einfach gewesen ...
Was hat Ihr Zimmer gekostet?
Aus heutiger Sicht wahrscheinlich spottbillig. Ich glaube, 120 oder 140 Mark pro Zimmer.
Wer hat das Telefongeld eingetrieben?
Am Telefon gab es einen Zähler und natürlich immer welche, die nicht aufgeschrieben haben. Das haben wir aber sehr schnell dadurch gelöst, dass wir gesagt haben: Alles, was nicht aufgeschrieben wird, wird am Monatsende zusammengerechnet und über alle verteilt.
Henning Scherf war Bürgermeister von Bremen und lebt noch heute in einer WG. Er sagt: „Das Wichtigste in einer WG ist, aufzuschreiben, wer angerufen hat“.
Das hat bei uns funktioniert. Überhaupt, wenn es in einer Wohngemeinschaft menschlich funktioniert, dann funktioniert auch das Putzen und das Abwaschen. Wenn‘s knistert, stockt es auch da. Wir haben es dann immer mit einem Putzplan versucht. Und wir hatten vor der Küche ein Plakat. Das zeigte einen russischen Komsomolzen mit dem Spruch: „Auch du Genosse hältst die Küche sauber“!
Hing es auch in der Kanzler-WG, die Sie nach der Bundestagswahl 1998 bezogen haben? Da wohnten Sie mit Gerhard Schröder, seiner Büroleiterin, dem Kulturstaatsminister, dem Wirtschaftsstaatssekretär Alfred Tacke und Pico Jordan von den Grünen zusammen.
Nein, das war nicht notwendig. Da hatten wir das Glück, dass gereinigt und sogar das Frühstück gemacht wurde.
Hatten Sie in Gießen eine Putzfrau?
Nein, das haben wir selbst gemacht. Schon allein aus ideologischen Gründen. Kam nicht in Frage, jemanden für uns arbeiten zu lassen.
Wurde in der WG geraucht?
Ich hab‘ geraucht, ein paar andere auch.
Selbstgedreht oder aus der Schachtel?
Natürlich selbstgedreht. Drum, den dunklen!
Können Sie eigentlich eine Flasche Bier mit dem Feuerzeug öffnen?
Alles andere wäre schon damals eine Blamage gewesen.
Wo haben Sie im Winter die frische Wäsche zum Trocknen hingehängt? In den Rauch der Küche?
Das war kein Problem, wir hatten eine Waschküche und einen Heizungskeller. Dort hing die Wäsche und hatte danach immer ein leichtes Heizöl-Aroma. Den Duft habe ich heute noch in der Nase ...
Später in der Kanzler-WG hatten Sie wahrscheinlich einen Trockner, oder?
Da hat, glaube ich, keiner gewaschen. Meine Frau und meine Tochter wohnten noch in Hannover. Ich bin alle zwei Wochen nach Hause gefahren und habe dort gewaschen.
In der Kanzler-WG gab es Chips und viel Dosenbier von der Tankstelle. Gerhard Schröder ist nach drei Monaten sogar ausgezogen mit der Begründung, dass er im Gegensatz zu seinen Mitbewohnern am nächsten Morgen ins Fernsehen müsse. Offenbar wurde es ihm zu bunt. Was hat man in der Zigarrenfabrik-WG getrunken?
Später, als es uns wirtschaftlich schon etwas besser ging, Licher-Bier. In den Anfangsjahren eher Lübzer Pils. Da war damals das Pfand teurer als das Bier.
In unserer Vorstellung kommt eine WG in den Siebzigern nicht ohne Marihuana aus. Haben Sie gekifft?
Ich bin noch zu jung für eine Lebensbeichte.
Wohnte wirklich Bundesjustizministerin Brigitte Zypries eine Zeitlang bei Ihnen mit im Haus?
Das hab' ich auch schon mal gelesen, ist aber falsch. Wir waren schon im Studium befreundet, aber Brigitte wohnte im Schiffenberger Weg. Übrigens auch eine der bekannten WG-Adressen in Gießen.
Warum war Ihre WG besser?
Sage ich ja gar nicht.
Sie deuten an, dass Ihre WG in Gießen eine gewisse Bekanntheit genoss. Und da Sie so lange dort geblieben sind, musste sie wohl etwas Besonderes an sich haben.
Ich mochte die Leute, mit denen ich dort wohnte. Insbesondere mit meinen alten Freund Dietrich. Wir hatten beide die richtige Mischung aus Gelassenheit und Beharrlichkeit. Außerdem hatte ich mir nach all den Jahren einen Status “erwohnt”. In einer anderen WG hätte ich wieder von vorne anfangen müssen ...
Auf jetzt.de geht das Interview weiter: Frank-Walter Steinmeier über seine Männerselbsterfahrungsgruppe, seine Nebenjobs und seine Promotion an einem abgelegenen Ort. Fotos: dpa, ap