Es war Schlafengehzeit, meine Tochter wollte wie jeden Abend noch eine Geschichte vorgelesen bekommen. Ich nahm das kleine Märchenbuch, das wir bei der Oma auf dem Speicher gefunden hatten: Hänsel und Gretel. Ich hatte seit 20 Jahren keine Grimm-Märchen mehr gelesen, dachte mir nichts dabei. »Es war einmal ein Holzfäller, der war sehr arm …«, begann ich zu lesen. »Warum war der arm?«, fragte das Kind besorgt. »Äh, es gibt leider Menschen, die nicht viel Geld haben«, antwortete ich. »Dann gib du ihnen Geld«, sagte das Kind. »Jetzt lass mich weiterlesen, ja?« Weiter im Text: »Der Holzfäller hatte zwei Kinder, Hänsel und Gretel, und eine Frau, die die Stiefmutter war. Eines Tages sagte sie zu ihm: ›Wir haben nur noch einen Laib trockenes Brot. Wenn wir nicht verhung…‹«, ich stoppte. »Warum liest du nicht weiter?«, fragte das Kind. »Ich muss niesen«, log ich und las stumm die nächsten Zeilen, dort sagte die Stiefmutter: »Wenn wir nicht verhungern wollen, müssen wir die Kinder in den Wald bringen und da allein lassen.« Verhungern? Aussetzen? Wie bitte?
»WEITERLESEN!«, rief es unter der Bettdecke hervor. Ich räusperte mich, versuchte Zeit zu gewinnen, las dann, improvisierend, weiter: »›Wir haben nur noch einen Laib trockenes Brot‹, sagte die Stiefmutter. ›Hier habt ihr fünf Euro, geht bitte in den Wald-Supermarkt.‹« Während meine Tochter im Buch eine Zeichnung der Kinder betrachtete, überflog ich die nächste Seite – dort stand, dass die ausgesetzten Kinder im Wald vergeblich auf ihre Eltern warteten und die Vögel die Brotkrumen wegpickten. Wie gemein, wie traurig, ich überging die Seite beim Lesen. Dann, endlich, ein harmloser Satz: »Im Wald fanden sie ein Haus, das war ganz aus Pfefferkuchen und Zuckerwerk gemacht«, las ich, »Gretel brach sich ein Stück vom Dach ab.« – »Lecker!«, rief mein Kind. Dass die Hexe das Aufessen ihrer Hütte nicht so gut fand, Hänsel folglich in einen Käfig sperrte, um ihn im Gegenzug aufzuessen, was fast gelang, bis Gretel die Hexe in den Ofen schubste, wo sie lebendig verbrannte: hat meine Tochter nie erfahren. Sie fand meine Kurzversion von Hänsel und Gretel – ich benötigte keine Minute zum Vorlesen – etwas langweilig.
Wenn ich so drüber nachdenke, lese ich fast kein Kinderbuch in der Originalversion. Zum Beispiel finde ich es bescheuert, dass in all den Conni- und Jule- und Leo-Lausemaus-Büchern so wenige Väter auftauchen. Und wenn, kommen sie meist nur auf der letzten Seite von der Arbeit nach Hause. Die Regisseurin Doris Dörrie erzählt in ihrem Kinderbuch Lotte will Prinzessin sein die an sich schöne Geschichte eines Mädchens, das sich so lange weigert, in den Kindergarten zu gehen, bis die Mutter als Prinzessin verkleidet mit ihr Straßenbahn fährt. In dem Buch gibt es gar keine Männer – außer wenn ich es lese, dann sitzt der Papa mit Krone in der Bahn. In meiner Variante der Häschenschule gibt es auch keine Prügelstrafe. Meine Tochter ist dreieinhalb, ich möchte ihr das Übel der Welt noch etwas ersparen. Sie hat schon eine Ahnung, dass da draußen nicht alle nett und fröhlich sind, aber die Bewohner ihrer überschaubaren Welt sind bis auf schubsende Kindergartenjungs allesamt freundlich: die Zahnfee, Prinzessin Lillifee, der Tiger und der Bär, Ritter Rost. Der fieseste Mann, dem sie bisher begegnet ist, war der Räuber Hotzenplotz. Als ich das Buch vorlesen wollte, rief mein Kind schon auf Seite eins: »Ich hab Angst!« Da hatte Hotzenplotz gerade erst beschlossen, Kasperls Großmutter die Kaffeemühle zu rauben, und meiner Tochter war es schon zu wild.
Die Frage, ob Bücher wie Grimms Märchen zu brutal sind für Kinder, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Es gibt Hunderte Expertenmeinungen dazu, von Pädagogen, Neurobiologen, Sprachwissenschaftlern. Grob zusammengefasst gibt es zwei Lager. Das eine sagt: Kein Problem, die Kinder nehmen die Grausamkeiten nicht als real wahr. Ich gehöre zum anderen Lager. Darum frisst in meiner Geschichte vom Rotkäppchen niemand die Oma, die Großmutter hat sich nur als Wolf verkleidet. Schneewittchens Apfel ist nicht vergiftet, bei meinem Aschenputtel werden keine Augen ausgehackt. »Findest du, ich übertreibe es?«, habe ich meine Freundin nach einer Lesestunde gefragt. »Manchmal, die Raupe Nimmersatt frisst sich bei dir nur durch Äpfel, Birnen und Wassermelone, aber nicht, wie im Buch, durch Törtchen, Eis und Lutscher«, sagte sie. »Und bei Prinzessin Lillifee lässt du haufenweise die Wörter ›rosa‹ und ›Glitzer‹ weg«. Stimmt. Bei Otfried Preußlers »kleiner Hexe« ist das Vorlesen nach der kürzlichen Rassismus-Debatte doppelt schwer: die Originalversion mit »Eskimofrauen« und »Negerlein« möchte man so nicht mehr vorlesen, der Verlag hat das Wort »Negerlein« nun allerdings durch »Messerwerfer« ersetzt, auch keine ideale Lösung.
Es ist mein erstes Kind, ich weiß, dass ich übervorsichtig bin. Wenn in der SZ Kriegsfotos aus Syrien sind, nehme ich die Zeitung vom Frühstückstisch, wenn ein Obdachloser auf einer Parkbank unter Plastikplanen liegt, erzähle ich, der spielt Verstecken. So laufen wir, Vater und Tochter, Hand in Hand durch die manchmal raue Großstadt: Ich versuche ihr überfahrene Katzen und prügelnde Oktoberfestbesucher kleinkindgerecht zu erklären. Sie nickt und beobachtet, und wenn es ihr zu wild wird, setze ich sie auf meine Schultern. Mir ist klar, dass man die Welt nicht ewig schönreden sollte, irgendwann werde ich ihr alles erzählen: vom Klimawandel, von Kriegen und wie Hase und Hasenbraten zusammenhängen. Ich würde nur einfach gern noch ein bisschen warten.
Illustration: Jean Jullien