Wenn man Kinder in zwei Sprachen aufzieht, haben sie bei Schuleintritt einen klaren Vorteil, der ihnen ohne großen Einsatz zufällt. Das jedenfalls ist eine häufige Meinung, zu der ebenfalls der Glaube gehört, damit auch die Mühen des Grammatik- oder Vokabellernens zu umgehen. Chamäleongleich könnten diese Kinder von einer Sprache in die nächste schlüpfen, alles dem Umstand verdankend, dass sie von Geburt an bereits mit mehreren „Muttersprachen“ heranwachsen. Klingt großartig, ist aber leider ein Irrtum. Ganz so glatt geht es nicht. Obwohl natürlich Kinder, die im Vorschulalter systematisch mit mehr als einer Sprache konfrontiert werden, andere, vielleicht bessere, auf alle Fälle interessante Möglichkeiten haben, ihre Talente zu entfalten. Die Gründe für ein Aufwachsen mit verschiedenen Sprachen liegen im Allgemeinen bei Familie und Lebenssituation. Muss man mit Kindern ab und zu das Land wechseln, werden sie zu ihrer Erstsprache, also zu der ihrer Eltern, automatisch weitere Sprachen hinzulernen, nämlich die des jeweiligen Landes. Gibt es bereits im Elternhaus mehr als eine Sprache, sind Vater und Mutter von verschiedener Nationalität, werden mittlerweile oft beide Sprachen weitergegeben: Die Kinder lernen von Anfang an das Sprechen in zwei verschiedenen Sprachen – in der des Vaters und gleichzeitig in der der Mutter. So verhält es sich bei Alec und Liam, einem Zwillingspaar aus München, das bilingual aufwächst. Die Jungen sind sechs Jahre alt, Kinder eines deutschen Vaters und einer amerikanischen Mutter. In ihrer Wohnung finden sich eine amerikanische und eine bayerische Fahne, Laserschwerter und Basketbälle, Bilderbücher in zwei Sprachen, ein sympathisches Durcheinander, das keiner Elternseite die Kulturhoheit zuspricht. Die Jungs gehen auf eine deutsche Grundschule und sprechen gut deutsch, schüchtern englisch, und zwischendurch einen lustigen Mix aus beidem.Sasha, die Zwillingsmutter, erzählt von eigenen Erfahrungen mit dem zweisprachigen Aufwachsen: Auch ihre Mutter war Deutsche, sie hatte nach Amerika geheiratet, die Familie lebte in Washington, D. C. Sasha sollte deutsch sprechen als Kind, was aber damals an ihrem Desinteresse scheiterte und an dem Gefühl, mit einer anderen Sprache als Außenseiter zu gelten. Jetzt, bei den eigenen Kindern, ist das anders. Ihre Jungs haben keine Abneigung gegen die zweite Sprache, für sie ist es normal. (Lesen Sie auf der nächsten Seite: „Mummy, I want you what say“ - englische Wörter, deutscher Satzbau)
Seit sie auf der Welt sind, hat ihre Mutter sie auf Englisch angesprochen, ihr Vater auf Deutsch. Im Gespräch wenden sie den Kopf und antworten je nach Gegenüber in der einen oder in der anderen Sprache, ohne dabei zu zögern oder nachzudenken. Trocken kommentiert Sasha den Akzent der Jungs, sie lacht darüber, wie schrecklich sie ihn anfangs fand, da habe sie noch nach Perfektion gestrebt. Mittlerweile ist der Akzent egal, der Satzbau ist wichtiger, oft wiederholt sie die Sätze ihrer Kinder, wobei sie deren Fehler korrigiert, sodass die Jungen hören, wie es richtig gewesen wäre.Sie verwenden englische Wörter, der Satzbau allerdings entspricht dem Deutschen. „Mummy, I want you what say“ ist so ein Satz, Mami, ich will dir was sagen. „Sie beherrschen das Deutsche besser als das Englische“, bestätigt ihr Vater. „Sie sprechen miteinander deutsch, sie sehen Filme lieber auf Deutsch, Deutsch ist ihre Umgangssprache. Wortschatz und Grammatik entsprechen dem Niveau von durchschnittlichen Erstklässlern, das kann man von ihrem Englisch nicht sagen.“ Dafür ist schlicht das Sprachangebot nicht ausgewogen genug. Englisch wird nur von der Mutter vertreten, der Vater, die Schule, die Umwelt halten sich ans Deutsche. „Aber wir machen deshalb keinen Unterricht zu Hause. Wir reden mit ihnen. Wir lesen vor. Zum Beispiel „Harry Potter“ auf Englisch, das war schwierig. Britisches Englisch, bisschen altmodisch, wir mussten hinterher immer durchsprechen, was da passiert ist“, sagt Sasha. Dafür haben die Kinder eine entspannte Einstellung zu Sprachen, die Hemmschwelle, einfach mal draufloszureden, ist gering. „Sie haben wenig Scheu, auch gegenüber anderen Kulturen, das gefällt mir. Außerdem ist es bequem, wenn wir verreisen“ erzählt Sasha. „Mein Ziel ist, dass sie die zweite Sprache so weit beherrschen, dass sie einen Brief in ihr verfassen können. Das bedeutet natürlich Arbeit. Sie müssen auch englisch schreiben lernen, aber das kommt in der Schule.“Die Jungs selbst haben keine Präferenzen. Sie mögen beide Sprachen gleich gern, sagen sie, auch wenn sie deutsch denken, deutsch träumen, mit ihren Freunden, auch den mehrsprachigen, deutsch sprechen. „Wir wohnen hier, da sprechen wir deutsch,“ sagt Liam und hat recht. Die beiden Jungen gehen in die erste Klasse, da ist es noch zu früh, um Sprache als Abgrenzung schätzen zu lernen. Man will nicht auffallen und gern viele Freunde haben, also will man auch verstanden werden, die Sprache dient ausschließlich der Kommunikation. Aber von Außenseitertum ist sowieso nichts zu spüren. In der Klasse sind etliche Kinder anderer Nationalität, wenn jemand englisch kann oder eine andere Sprache, findet man das höchstens cool. Falls es überhaupt bemerkt wird. „Im Kindergarten haben meine Freunde auch immer ‚Daddy’ zu unserem Daddy gesagt, erzählen die Zwillinge. „Die wussten nicht, dass das Englisch ist, die dachten, das ist sein Name.“ Sie grinsen ein bisschen, und der Daddy grinst auch.(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Nur die Schimpfwörter fehlen)
Auch Anastasia spricht mehrere Sprachen. Zu Englisch, Spanisch, Latein, die sie in der Schule lernt, kommt Deutsch, die Sprache ihrer Umgebung, und Russisch, die Sprache ihrer Eltern. Anastasia ist vor elf Jahren nach Deutschland gekommen, da war sie dreieinhalb. Weder sie noch ihre Eltern konnten Deutsch. Das hat Anastasia dann im Kindergarten gelernt, und zwar schneller als ihre Mutter, die einen Sprachkurs besuchte. Dadurch, dass Anastasia den ganzen Tag mit gleichaltrigen Kindern verbrachte, hatte sie entsprechend viel Gerede um die Ohren und lernte, so zu sprechen wie alle anderen. Dadurch fiel auch der Akzent weg: „Mit fünf konnte ich ziemlich gut Deutsch, in der Grundschule hat man nichts mehr davon gemerkt, dass ich es eigentlich gerade erst gelernt habe,“ erzählt Anastasia. Zu Hause gibt es wenig Hinweise auf ihr Herkunftsland. Im Wohnzimmer auf einer Vitrine einen bunten Samowar, russische Architekturbücher stehen im Regal, das ist schon alles. In der Küche liegt ein Kochbuch aufgeschlagen, Rezepte für Erdbeerschnitten, nichts, was man notwendigerweise mit Russland in Verbindung bringen würde.Der tägliche Umgang zwischen den Eltern und der Tochter findet jedoch ausschließlich auf Russisch statt, Anastasia lernt auch mehrmals in der Woche Russisch mit ihrer Mutter. Sie übt die Sprache und vor allem die kyrillische Schrift, sie liest aus russischen Büchern vor, hinterher wird gemeinsam darüber geredet. Ohne diese Arbeit, die sie in ihre Erstsprache steckt, wäre diese inzwischen reduziert auf mageren Alltagsgebrauch, in Umfang und Virtuosität auf alle Fälle dem Deutschen unterlegen, das sie täglich mit ihren Freunden spricht. „Ich denke auf Deutsch, träume auf Deutsch, mein Leben findet hauptsächlich auf Deutsch statt. Russisch ist für mich viel schwerer. Wenn wir in Moskau sind, komme ich schon ganz gut zurecht, nur nicht mit Jugendlichen in meinem Alter. Die verwenden andere Wörter, Wörter, die ich noch nie gehört habe, denn ich lerne Russisch eben von meiner Mutter. Ich kenne nur ihre Wörter. Dafür sprechen wir in Russland manchmal miteinander deutsch, da wird es zu unserer Geheimsprache.“ In Deutschland hat Anastasia keine Probleme mit den differenzierten Codes der Jugendsprache. Sie fühlt sich in ihrer Zweitsprache mehr zu Hause als in der Sprache ihrer ehemaligen Heimat, sie kann diese Zweitsprache auch besser, im Gegensatz zu ihren Eltern. „Meine Mutter arbeitet mit Deutschen zusammen, sie spricht gut, aber man hört ihren Akzent. Außerdem übersetzt sie ab und zu russische Redewendungen, was zu lustigen Fehlern führt.“ Manchmal hört Anastasia auch Russisch von anderen: „Wir haben hier einen großen russischen Bekanntenkreis, wenn wir uns treffen, sind das bestimmt 30 Leute. Dann schnappt sich oft jemand eine Gitarre und fängt an zu singen, dafür eignet sich Russisch viel besser als Deutsch. Mit gefällt das gut, und so bekomme ich etwas russische Kultur mit, die Lieder jedenfalls.“ Es ist das Ziel des Mädchens, möglichst viele Sprachen zu können und das später beruflich zu nutzen, deshalb geht sie auf ein sprachliches Gymnasium. Bleibt nur noch ein Problem: „Immer wenn von den Schülern jemand merkt, dass ich Russin bin, dann werde ich garantiert nach russischen Schimpfwörtern gefragt. Und genau die kann ich dann nicht, weil meine Mutter sie mir nicht beigebracht hat.“