Das Jahr der kleinen Wunder

Auch wenn man meint, alles über die erste Zeit mit dem Baby gelesen, gesehen und besprochen zu haben – es geschehen Dinge, die man so nicht erwartet hat. Der Trost: Es sind nicht nur böse Überraschungen

    MÜDE

    Nach drei Wochen dachte ich, mein Leben sei vorbei. Abends um halb neun saß ich im Bett, zwischen Trance und Apathie, und bemitleidete mich sehr. Klar war, dass ich in der Nacht wieder ein paar Mal würde aufstehen müssen: wickeln, stillen. Klar war auch, dass ich mindestens einmal davon aus dem tiefsten Tiefschlaf gerissen werden würde, was schwerer Folter gleichkommt. Denn alles, was ich bis zur Geburt meines Sohns für Müdigkeit gehalten hatte, war eine leichte Trägheit gewesen im Vergleich zu dem, was ich jetzt empfand. Meine Tante tröstete mich: „Die ersten vier Wochen sind die schlimmsten“, sagte sie. „Dann geht es jeden Monat ein bisschen bergauf.“
    LIEBE

    Da glaubt man, Florian aus der zehnten Klasse sei das große Ding gewesen, emotional gesehen. Und dann, quasi als höchstmögliche Steigerungsform, der Mann, mit dem man ein Kind bekommt. Doch kaum hält man das kleine Wesen im Arm, ist alles weggewischt. Herz und Seele werden gleichzeitig verschluckt, und plötzlich bekommt das Wort „bedingungslos“ einen Sinn. Kaum vorstellbar, dass irgendetwas größer ist. Die Liebe von Romeo und Julia ist dagegen nicht mehr als ein harmloser Witz.

    Meistgelesen diese Woche:

    URLAUB

    Urlaub ohne Kind ist eine entspannte Sache. Man bucht, worauf man Lust hat, und tut, wonach einem der Sinn steht. Der erste Urlaub mit Kind hingegen ist die Hölle. Was, wenn das Milchpulver ausgeht? Haben die am Mittelmeer Biobreie? Verträgt der Schlafrhythmus des Babys den frühen Abflugtermin? Von den Bedrohungen vor Ort ganz zu schweigen: Mücken, Sonne, Sand, Wind, fremde Menschen. Zwei Wochen am Rand des Nervenzusammenbruchs – und dann die Gewissheit, dass das Kind wirklich alles aushält, sogar Milchpulver mit Bananengeschmack und die brüllend lauten Motorradgeräusche der unverschämten italienischen Jugend. Beim zweiten Mal ist es schon nicht mehr ganz so schlimm, wirklich.

    BAUCH

    Am Schluss der zehn Monate langen Schwangerschaft hat man den prallen Bauch ziemlich satt und wünscht sich dringend seine ursprüngliche Figur zurück. Niemand ist zwar so naiv zu erwarten, gleich nach der Geburt wieder in die Jeans von vorher zu passen, aber man stellt sich doch vor, dass der Bauch sofort einigermaßen flach und straff wird, sobald das Baby draußen ist. Denn es ist ja nur das Baby, was einen so rund macht. Was für ein Schock ist es dann, wenn der Bauch aussieht wie ein faltiger Schlauch (und schlapp an einem herunterhängt)! Das erst ist der Moment, in dem man es wirklich mit der Angst bekommt: Der geht nie wieder weg. Tut er dann doch, irgendwann, Gott sei Dank!

    MIENENSPIEL

    Natürlich rechnet man mit allerhand Schwierigkeiten, was die Verdauung des Kindes betrifft. Man hat genug gelesen über Bauchweh und Bäuerchen und Verstopfungskatastrophen. Was aber niemand kennt, bis er es zum ersten Mal sieht, das ist die Sonnenseite des Baby-Toiletten-Verhaltens: das Mienenspiel des Babys beim, nun ja, beim Kacken. Über diesen Vorgang freuen sich bekanntlich die Eltern, das Kind aber offensichtlich noch viel mehr. Es lauscht intensiv nach innen, der ganze Gesichtsausdruck liegt nah an der Ver­blüffung, an der Begeisterung aber auch, und eine geradezu rauschhafte Konzentration kommt über die Züge. Ein Anblick, wie man ihn am älteren Kind nie mehr sehen wird, und für die Zuschauer so beglückend, dass sie jede Windelfüllung eigentlich nur deshalb herbeisehnen, um dieses Gesicht wiederzusehen.

    SEHNSUCHT

    Von heute auf morgen ist man nicht mehr man selbst, sondern mit einer anderen, vollkommen abhängigen kleinen Person verschmolzen. Und betreut diese kleine, oft sehr fordernde Person rund um die Uhr. Es gibt Geschrei, das man nicht versteht. Es gibt keine eigene Zeiteinteilung mehr, was man auch nicht versteht. Besonders wenn man schon ein paar Jahre auf eigenen Beinen gestanden hat, ist diese Fremdbestimmung gewöhnungsbedürftig. Man dürstet also nach einer halben Stunde im Park ohne Baby. Oder nach einem Teller Suppe in einem Restaurant ohne Baby. Nach einem T-Shirt-Kauf ohne Baby. Aber dann: Der Weg nach Hause kommt einem lang vor, die Treppe läuft man schon hoch, getrieben von einer Mischung aus Unruhe und Sehnsucht. Die Wiedersehensfreude, nach eben nur einer halben Stunde, ist so groß, dass einem angst und bange wird: Es ist noch da, es atmet, es lebt. Hurra!

    TROTZIG

    Extralautes Trampeln im Schlafzimmer, wo das Baby im Ehebett pennt, Schmollanfälle, blödsinnige Beschuldigungen wie „Du lässt immer alles herumliegen!“ – dass erwachsene Männer trotzen können, lernt man, wenn man ein Kind bekommen hat. Die Verschiebung des weiblichen Aufmerksamkeitsfokus ist für Kerle eine extrem harte Nuss. Geht vorbei, kommt aber überraschend. Bestes Gegenmittel: eben das, was zur Entthronung des vormaligen Prinzen geführt hat. Sex. Ganz einfach.

    ÜBERFLUSS

    Es herrscht kein Mangel an Horrorgeschichten, was man für Fehler machen kann mit dem Baby. Zu den Klassikern gehört ohne Zweifel: Die Wickelkommode des Schreckens. Kinder fallen von ihr he­rab, sobald man nur einmal blinzelt, Armbrüche, Beinbrüche, wenn nicht Schlimmeres sind die Folgen. Die Wickelkommode, so heißt es, ist die größte Hürde für ein junges Leben, aber von ebenso großer Notwendigkeit für die Hygiene desselben. Ist das Kind dann da, stellt sich schleunigst heraus, dass die Wickelkommode als Ganzes eine wohl eher surreale Erfindung ist, die niemand braucht, niemand jedenfalls, der in einer kleinen Zweizimmerwohnung daheim ist. Der wickelt sein Baby bald auf der Couch, auf dem Bett, auf dem Küchentisch oder am besten auf dem Schlafzimmerteppich. Da spart er sich nicht nur Platz und Geld, sondern dem Kind auch gleich die ganzen Knochenbrüche.

    BABYSOCKEN

    Nach einer langen, langen Reise durch den Arbeitsalltag nach Hause kommen und sich ihre kleinen Socken angucken: Ich hätte nie gedacht, dass der Anblick von Babysocken die Seele mehr beruhigen kann als Religion.

    SORGEN

    Wie genervt man war, wenn die Mutter im Nachthemd dastand, weil sie angeblich nicht schlafen konnte, bevor man nach Hause kam. Doch schon in den ersten Stunden mit dem Baby leistet man erstaunt und ganz leise Abbitte – und wundert sich über die Großzügigkeit der eigenen Eltern, die einen schon früh auf hohe Bäume klettern und später mit dem Mofa durch die Nacht fahren ließen. Mit einem Mal weiß man, was Sorgen sind, so groß ist die eigene Verletzlichkeit geworden. Der Verlust der kleinen Person, die gerade erst auf die Welt gekommen ist, wäre schon jetzt unerträglich.

    VEREHRUNG

    Es kommt der Moment, in dem das Kind beginnt, zum ersten Mal Gesichter wiederzuerkennen, und es sich über die plötzliche Vertrautheit sichtlich freut. Das ist die – nicht sehr lange – Zeitspanne, von der Frauen einer anderen Generation sagten, das Kind würde die Mutter „anschauen wie ein Heiligenbild“. Darauf kann man nicht vorbereitet sein. Aber es trifft die
    Sache genau.

    FREUDE

    Mein Gott, dass sich ein Mensch so sehr freuen kann, wenn er mich sieht: Ärmchen und Beinchen fliegen nach oben, der Körper zuckt, das Gesicht strahlt wie der Vollmond – alles wegen mir, Leute, alles wegen mir!

    FREUNDE

    Klar, früher waren wir mit Malte und Johanna öfter mal einen heben. Gleich nach dem Club zum Frühstücken gehen? Kein Problem! Abends debattieren und dabei jeder zwei Flaschen Wein leeren? Sicher! Damals mussten wir auch noch nicht mehrmals in der Nacht aufstehen. Ja, wir dummen Schafe kannten nicht mal den Zusammenhang zwischen Alkoholausdünstungen und plötzlichem Kindstod! Tatsache ist: Wenn man zu müde ist, sich abends um elf noch zu treffen, bloß weil die ganzen Freunde Singles sind und erst um zehn Uhr aus der Konferenz kommen, steht man bald allein da. Der einzige Trost ist, dass es anderen Eltern auch so geht. Die findet man irgendwann auf dem Spielplatz. Es ist nicht ganz dasselbe, stimmt. Aber gemeinsame Interessen verbinden schließlich. Etwa so: Was hast du denn da auf dem Pulli – hat er wieder gespuckt? Guck mal, meiner auch! Das ist natürlich nur der Anfang.

    NÜCHTERN

    Neun Monate, das geht ja. So etwa denkt man über den Verzicht, der mit der Schwangerschaft daherkommt: wenig Sport, wenig Ausgehen, gar kein Alkohol, das wird man für diesen Zeitraum schon durchhalten, und gut für den Teint ist es auch. Wenn das Baby da ist, dann macht man das ja alles wieder, bis aufs Ausgehen, klar, aber Training, Freunde, Bier, wieso nicht. Dieser Gedanke allerdings erweist sich als vollkommen jenseits der Realität. In der nämlich wird das Kind gestillt. Damit verlängert sich der Verzicht auf alles, was in der Muttermilch Spuren hinterlässt. Also: kein Training – falls man die Zeit dafür fände –, weil es Schadstoffe freisetzt, die in der Milch landen. Kein Bier – falls man Zeit dafür fände –, weil Alkohol drin ist, der in der Milch landet. Keine Freunde, weil jeder Kontakt mit Kinderlosen garantiert auch irgendwie in der Milch landet. Man muss also nach der Kindsgeburt noch einmal ungefähr neun Monate einplanen, in denen das eigene Leben genauso kontrolliert geführt wird wie in den neun davor. Das hat man sich vorher vielleicht doch nicht so richtig
    klargemacht.

    SELIG

    Am Anfang dachte man, es sei der Anblick vom eigenen und dann auch allen anderen Neugeborenen, der einen so rührte, dass man sich nicht wehren konnte gegen die übermächtige Sentimentalität. Doch dann: Tränen bei „Oh Du Fröhliche“ im Kinderweihnachtsgottesdienst; ein Kloß im Hals während des gesamten Sankt-Martins-Zugs; heftiges Schluchzen bei den harmlosesten Szenen von „Kramer gegen Kramer“; und der Tod von Bambis Mutter war schon gar nicht mehr auszuhalten. Kurzum: Man wird, irgendwie beeindruckt vom selbst vollbrachten Wunder, unkontrollierbar gefühlsduselig.

    SCHICKSAL

    Auch wenn das Schicksal mal wieder gegen mich gewürfelt hatte – Josefine war das natürlichste Mittel bei Kopf- und Gliederschmerzen: Ich nahm sie auf den Arm, sie pikste mir grunzend in die Augen und – zack – ließ der Schmerz nach. Josefine war auch ein tolles Schlafmittel: Ich legte mich neben sie und das Nuckelgeräusch ihres Schnullers ließ mich wohlig hi­nübergleiten in Traumwelten. Also: Fuck the Schicksal.

    SEX

    In einer Lebensphase, in der man nicht einmal mehr Zwiebeln isst, geschweige denn Zigaretten raucht oder Kaffee trinkt, in der man das Baby wäscht und pudert und kein anderes Parfüm riechen mag als den unbeschreiblich reinen Säuglingsgeruch, liegt nichts ferner als: schmutzige Gedanken. Das ist gar nicht so despektierlich gemeint, wie es hier vielleicht klingt, nur: In genau dieser Zeit (und nur in dieser Zeit) kommt es einer frisch gebackenen Mutter so vor, als seien Sex und Sodom und Gomorrha gar nicht so weit voneinander entfernt. Auch wenn Frauen als Multitaskingtalente gelten – in den allerersten Wochen nach der Geburt sind sie, ganz archaisch, auf genau eine Person konzentriert (bei Zwillingen sind’s natürlich zwei): Das Baby darf an die Brust grapschen, der Kindsvater lieber nicht.