DETLEF BERG lehrte und forschte an der Otto-Friedrich-Universität in
Bamberg. Deutschlands einziger Professor für Schulpsychologie, seit Oktober 2008 im Ruhestand, hält Mädchen für weniger aggressiv im Unterricht.
SZ-Kinderleben: Herr Berg, 2003 verließen in der Bundesrepublik neun Prozent aller Schüler die Schule ohne irgendeinen Abschluss. Überwogen dabei Jungen oder Mädchen?
Detlef Berg: Ungefähr 60 Prozent waren Jungen, 40 Prozent Mädchen.
Wie viele Schüler wiederholen eine Klasse?
Etwa drei Prozent, 250 000 Kinder im Jahr. Das kostet den Staat pro Jahr rund 1,25 Milliarden Euro. Es gibt nur noch wenige Länder in Europa, die es sich überhaupt leisten, dass Kinder ‚sitzen bleiben‘.
Wie sieht es da mit der Verteilung Jungen–Mädchen aus?
Auch hier überwiegen die Jungen. Dasselbe gilt für die Sonderschulen für Lernbehinderte. Ist das nur in Deutschland so?
Nein, im Ausland kümmert man sich nur schon länger als hier um die Probleme von Jungen in der Schule.
Gab es diese Probleme schon immer?
1970 waren von den Kindern, die eine höhere Schule abschlossen, 60 Prozent Jungen und 40 Prozent Mädchen. Aber seit 1989/1990 machen mehr Mädchen Abitur als Jungen.
Spielt das Geschlecht eine Rolle?
Wenn Jungen vom schulischen Misserfolg so viel häufiger betroffen sind als Mädchen, muss es einen Grund geben, der nicht in der Person liegt. Das kann man nicht mehr individualisieren.
Sind Mädchen schlauer?
In Rheinland-Pfalz gab es sogar eine Landtagsanfrage, ob Mädchen klüger seien. Ist das nicht schlimm? Aber schlimmer ist, dass die Jungs das bald selber glauben.
Warum glauben sie so etwas?
Jungen und Mädchen werden immer häufiger mit einer Erwartungshaltung konfrontiert, die ihnen schon vor Beginn ihrer Schullaufbahn suggeriert, dass Jungen zwar die körperliche Überlegenheit haben, Mädchen aber die geistige. Schon hier wird der spätere Erfolg oder Misserfolg festgelegt. Zum Beispiel hat die Behauptung, Mädchen seien schlechter in Mathematik, etwas damit zu tun, dass Mädchen mit genau dieser Erwartung in die Schule gehen. Die Eltern stützen die Haltung, und auch die Mathelehrer sagen, Mädchen könnten nicht besonders gut rechnen.
Kann man das ändern?
In München wurden Untersuchungen durchgeführt, ob man diese Erwartungshaltung gezielt ändern kann. Das kann man. Und was passierte?
Die Mädchen wurden besser in Mathe!
Kommen Mädchen und Jungen mit denselben Voraussetzungen in die Schule?
Sie kommen mit anderen Lebenserfahrungen in die Schule und mit unterschiedlichen Temperamenten. Zudem sind Mädchen mit sechs Jahren in ihrer geistigen Entwicklung weiter. Schon im Kindergarten spielen sie lieber Mutter–Vater–Kind, Jungen toben im Sandkasten. Mädchen haben mehr in Bücher geschaut; die Empathie, das Verständnis für die Gefühle anderer, ist bei ihnen größer. Das ist etwas, womit Lehrer viel anfangen können, etwas, das sie in der Schule belohnen.
Was passiert bei den Jungs?
Jungen lernen sehr schnell, dass die Schule ein mieser Ort für sie ist. Sie dürfen sich wenig bewegen, das fällt ihnen schwer. Sie können vieles noch nicht, was die Mädchen schon können. Und Lehrer nehmen meist die Mädchen als Maßstab.
Sind Mädchen doch klüger?
Sie sind schulklüger. Mädchen können ausschneiden, gerade Striche ziehen, Sachen beieinanderhalten. Wer solche Voraussetzungen nicht mit in die Schule bringt, trifft manchmal auf Lehrerinnen, die wahnsinnig
werden. Die anfangen zu schreien oder unordentliche, unorganisierte Kinder richtig bestrafen – obwohl doch das Anschreien allein schon eine
grässliche Strafe ist. Denn wenn die Jungs das nicht können, dann liegt es nicht daran, dass sie blöd oder bösartig sind, sondern sie haben es einfach noch nicht gelernt. Man muss es ihnen beibringen!
Haben Mädchen noch andere Vorteile?
Eine wichtige Rolle spielt die Angst der Lehrer vor Kontrollverlust. Wird ihr Unterricht gestört, schwindet die Kontrolle über die zeitliche Taktung, sie haben das Gefühl, die Menge des Stoffes nicht zu schaffen. Dann kommt so ein Junge und gibt eine blöde Antwort, wenn sie ihn etwas fragen. O der er weiß nichts und hält sie auf. Jedenfalls verrinnt die Zeit. Also fragen Lehrer lieber Mädchen.
Mädchen passen oft auch nicht auf, sondern schwätzen.
Aber sie zappeln nicht herum, der Lehrer kommt voran. Es gibt Untersuchungen über die Häufigkeit von Lernschwierigkeiten. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass bei Jungen öfter Verhaltensauffälligkeiten auftreten als bei Mädchen – und zwar solche, die nach außen gehen, die aktiv störend sind.
Aber wie kommen Mädchen zu den besseren Noten?
Man lässt sie häufiger ausreden. Der Effekt ist, dass sie sich besser behandelt fühlen als die Jungen.
Arbeiten sie deshalb besser mit?
Natürlich. Aber das würden die Jungen genauso tun, wenn man ihre Art, ihre Jungenart, mehr in den Unterricht aufnehmen würde. Man könnte den Unterricht so gestalten, dass die motorische Unruhe aufgefangen wird, dass zwischendurch Bewegung möglich ist und die Kinder sich nicht so festgebunden fühlen. O der man könnte andere Inhalte behandeln.
Interessieren sich Mädchen und Jungen tatsächlich für unterschiedliche Inhalte?
Ja. Auch wird Interesse nicht einfach geweckt – Interesse entsteht erst, wenn man etwas weiß. Dafür aber müsste man mehr Themen in die Schule bringen, mit denen auch Jungs etwas anfangen können. Dann könnte vorhandene Lust zu Interesse vertieft werden.
Was wären denn Mädchenthemen?
„Housekeeping“. Größere soziale Kompetenz hat damit zu tun, dass sie sich gern mit solchen Sachen beschäftigen.
Hat das auch etwas mit Temperament zu tun?
Mädchen sind rücksichtsvoller. Jungs sagen ihrem Gegenüber die Meinung,
egal, wie der andere sich dadurch fühlen könnte. Das machen Mädchen nicht, das ist immer deutlich zu beobachten. Das wird international bestätigt, in Asien genauso wie in den USA.
Gibt es für Mädchen bessere Identifikationsfiguren?
Sie meinen die Feminisierung der Erziehung in Deutschland? Die meisten
Lehrer an den Grundschulen sind Lehrerinnen, da liegt die Quote der Männer etwa bei zehn Prozent. Das hat natürlich etwas mit dem Gehalt zu tun. Die Berufe, in denen Frauen vorherrschen, sind meist schlechter bezahlt.
Wird sich das ändern, wenn Mädchen weiterhin gute Abschlüsse machen?
Es heißt immer noch, Mädchen seien in akademischen Laufbahnen selten
vertreten. Aber wenn man die Professuren von Männern und von Frauen
anschaut, wird man feststellen, dass inzwischen mehr Frauen als Männer
berufen werden, wenn sich Frauen für die Stelle bewerben.
Gibt es Studienfächer, die extrem mädchenlastig sind?
Psychologie, Pädagogik, Medizin. Oder Lebensmitteltechnologie, das ist
ein naturwissenschaftliches Studium, und Mädchen glänzen darin. Auch in
Fächern wie Betriebswirtschaft und Informatik steigt ihr Anteil deutlich.
Da hat sich in den letzten Jahren gewaltig was geändert.
Müssen wir uns ernsthafte Sorgen um die Zukunft der Jungs machen?
Man sollte die zunehmenden Probleme, die Jungen haben und machen, auf keinen Fall hinnehmen, sondern wahrnehmen. Man muss versuchen, die Jungen aufzufangen, damit sie auch Erfolge haben. Man sollte nicht nur Jungs oder Mädchen sehen, sondern Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen, die man eben so nehmen muss, wie sie sind. Das wäre die eigentliche Aufgabe der Lehrer.