1 Filmfestivals wurden keineswegs erfunden, um der Filmkunst zu dienen. Das erste und älteste, die Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica in Venedig, erfand im Jahr 1932 ein Conte Giuseppe Volpi, der zu dieser Zeit auch Besitzer des exzentrischen Riesenhotels »Excelsior« auf dem Lido war. Der Glamour des Kinos, befand er nach Rücksprache mit Mussolini, könne die Touristensaison um zwei entscheidende Wochen verlängern. Da hatte er recht. Das ewige Hin und Her zwischen Kunst und Kommerz ist bei Filmfestivals also kein Systemfehler. Es ist das System.
2 Mit der Auswahl seines Wettbewerbsprogramms kann ein Festivalchef wie Dieter Kosslick in Berlin gegen die Kritiker niemals gewinnen. Tauchen viele große Regisseurnamen im Programm auf, heißt es, das Festival gehe schamlos auf Nummer sicher, schütze abgehalfterte alte Autorenfilmer und gebe der Jugend keine Chance. Tauchen nur wenige große Namen im Programm auf, gilt der Festivalchef als unfähig, wahre Highlights anzuziehen, und muss uns mit zweitklassigen Werken abspeisen. Ihm bleiben zwei Möglichkeiten: entweder einen verbiesterten Buhmann abzugeben – oder einen unterhaltsamen. 3 Jeder Filmfestivalbesucher ist von dem nagenden Angstgefühl getrieben, gerade nicht dort zu sein, wo wirklich Filmgeschichte oder zumindest Partygeschichte geschrieben wird. Dies gilt selbst und sogar besonders dann, wenn man es nach langem Herumschleimen, Schlangestehen und Durchquetschen endlich auf die angeblich heißeste Party des Abends geschafft hat.
4 Ein gut trainierter Securitymann findet den Löschknopf jeder Kamera in 0,1 Sekunden. Diese wirklich erstaunliche Tatsache erfuhr ich, als ich einmal unauffällig ein kleines Party-Privatfoto von Penélope Cruz und Javier Bardem machen wollte, die zu jener Zeit noch nicht offiziell zusammen waren (Frage an die Kollegen vom Vermischten: Sind sie es heute eigentlich?). Die Kamera wurde mir gewaltlos abgenommen, vom Beweisfoto befreit und zurückgegeben, bevor ich auch nur Hola sagen konnte.
5 Filmfestivals waren von Anfang an auch eine politische Angelegenheit. Die Mostra von Venedig stand unter dem Einfluss Mussolinis und wurde immer mehr zum Propagandafest der Faschisten, je näher der Zweite Weltkrieg rückte. 1939 reichte es dem französischen Kulturminister – er rief, nach Rücksprache mit Hollywood, das Festival von Cannes als Gegenprogramm der freien Welt ins Leben. Wegen des Kriegs fand Cannes dann erstmals 1946 richtig statt. Die besondere Rivalität dieser beiden Stadtfestivals hat sich bis heute erhalten.
6 Früher war alles besser, auch auf Filmfestivals. Altgediente Journalistenkollegen erzählen zum Beispiel, dass sämtliche Kritiker, Cineasten und Filmemacher in Cannes abends in eine einzige große Galavorstellung passten. Hinterher ging man zwanglos zusammen Austern essen, wie eine große Familie. Muss schön gewesen sein. Dann aber kam das Fernsehen und der Triumphzug der Klatschpresse, auch Hindustan Times und Beijing Daily verlangten plötzlich nach Brangelina-News, zuletzt kamen noch die Blogger dazu. So wuchs die Zahl der akkreditierten Berichterstatter in Cannes von 700 im Jahr 1966 auf 4376 im Jahr 2007. Das Ergebnis kann man sich ausrechnen: Zeigt sich heute irgendein halbwegs bekannter Filmschaffender auch nur halbwegs zwanglos irgendwo auf einem Festival, wird er sofort von verzweifelten Berichterstattern überrannt. Heute ist deshalb alles geschlossene Gesellschaft, abgeschirmt von roten Kordeln und breiten Security-Schultern.
7 Partycrashen für Fortgeschrittene I: Man verstecke tagsüber, wenn gerade niemand hinschaut, eine komplette Abendgarderobe inklusive Champagnerglas am Strand des Hotels, wo am Abend der begehrteste aller Empfänge stattfinden wird. Dann schwimme man im Schutz der Dunkelheit, nur mit Badehose bekleidet, um alle Sperren und Sicherheitspatrouillen mit Schäferhunden herum, gehe an Land, ziehe sich hinter einem Strandkorb um – und mische sich unauffällig, Glas in der Hand, unter die erste Personengruppe in der Nähe. Vorgefallen bei der Vanity- Fair-Party, »Hotel du Cap«, Antibes. Erfolgreich? Nein.
8 Anders als bei Cannes und Venedig hatte die Gründung der Berlinale nichts mit touristischen Überlegungen zu tun. Im Jahr 1951 ging es eher darum, die naziverseuchten Kommissschädel der Deutschen mal gründlich durchzulüften und gleichzeitig gegen den Kommunismus zu imprägnieren – ein »Schaufenster der freien Welt« sollte den Glamour und die Lebenskunst des Kinos mitten ins zerbombte Berlin bringen. Ausgedacht hatte sich das Ganze ein Offizier der amerikanischen Militärregierung, und Alfred Hitchcock war dann auch der erste Gast. Filme aus der Dritten Welt wurden folglich vor allem deshalb ins Programm genommen, damit die jeweiligen Länder nicht auf den Gedanken kamen, Teil des kommunistischen Blocks zu werden.
9 Große Stars sehen auch in dem Moment, in dem man ihnen die Hand schüttelt, nicht wirklich real aus. Arnold Schwarzenegger zum Beispiel: das Gesicht irgendwie maskenhaft, die Haare dicht wie ein Toupet, die Haut gummiartig, wie über ein Stahlskelett gespannt – der Terminator eben. Oder wenn einem im Geschiebe eines Partyzelts plötzlich die bezaubernde Salma Hayek gegen die Brust gedrückt wird, kann die Distanz zwar nicht mehr geringer werden – real wirkt die Schauspielerin darum aber trotzdem noch nicht.
10 Festivalchefs sind mehr von den Launen des Schicksals abhängig, als sie jemals zugeben würden. Sie wissen, dass sie ohne Stars und Glamour verloren wären, aber sie wissen nicht, wie sie die Zu- oder Absagen von Stars wirklich beeinflussen sollen. So kann es passieren, dass man in Cannes den Berlinale-Chef Dieter Kosslick trifft, der dort quasi Urlaub macht, aber noch immer traumatisiert ist von den Ausreden, die er zur Rechtfertigung seines letzten Programms erfinden musste. Einmal trafen wir ihn übernächtigt bei einer Party, bei der Fatih Akin gerade seine Lieblingsplatten auflegte. Gebetsmühlenartig murmelte er die Worte »Scheiß-Afrikaschwerpunkt« vor sich hin. (Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie unser Autor den Plan für den größten Juwelenraub aller Zeiten entwickelte.)
11 Obwohl es Tausende von akkreditierten Journalisten gibt, trifft man bei Interviews immer wieder die gleichen Pressekollegen. Es sind gefühlte zehn. Da ist der Israeli mit dem jovialen Grinsen, der Grieche, dessen ohnehin katastrophales Englisch mit den Jahren immer schlechter wird, und die Australierin, die wegen ihrer Frisur von allen nur »Helmchen« genannt wird. Helmchen befindet sich seit geschätzten zwanzig Jahren in einem alarmierenden hormonellen Zustand. Ihre Fragen an männliche Regisseure und Schauspieler verpackt sie immer wieder ein wenig anders, sie laufen aber stets auf dieselbe Forderung hinaus: Sagen Sie bitte etwas zu Ihrer Penisgröße. Und zwar sofort!
12 Bestimmte Juwelierfirmen statten selbst kleinere Starlets für den roten Teppich gern mal mit Colliers oder Ohrgehängen aus, die eine Million oder mehr Euro wert sind. Diese Damen müssen dann anschließend auf den Partys immer von einem Schmuckbewacher begleitet werden. Einmal war ich mit einer jungen belgischen Schauspielerin unterwegs, die so einen Aufpasser dabeihatte. In dieser Nacht entwickelte ich den Plan für den größten Juwelenraub aller Zeiten, der damit begann, dass ungefähr 25 Starlets gleichzeitig auf die Toilette mussten. Er liegt noch bei mir in der Schublade – für ganz schlechte Zeiten.
13 Für Journalisten besteht ein seltsamer Unterschied darin, ob man eine berühmte Persönlichkeit in einer geplanten und sorgfältig arrangierten Situation trifft – oder zufällig, wie das Leben so spielt. Dieselben Berichterstatter, die bei einer Pressekonferenz mit George Clooney über der Routine der immer gleichen Fragen und Antworten fast einnicken, können gleichzeitig tagelang davon schwärmen, wie sensationell es war, als er sich auf der Toilette plötzlich neben ihnen die Hände gewaschen hat.
14 Niemand gibt das gern zu, aber Filmfestivals entzünden immer wieder einen seltsam anachronistischen Nationalismus. Regelmäßig kam es in Berlin, Cannes und Venedig zu Protesten der nationalen Filmverbände, weil angeblich nicht genügend einheimische Regisseure im Wettbewerb berücksichtigt waren. Bei der Berlinale 1981 drohten die deutschen Filmemacher sogar mit Boykott – allen voran Alexander Kluge, der doch eigentlich derart banaler Nationalismen unverdächtig ist. Zuletzt stritten sich gern Deutsche und Österreicher, wenn gemeinsam produzierte Filme wie Die fetten Jahre sind vorbei und Das weiße Band im Ausland große Erfolge feierten.
15 Partycrashen für Fortgeschrittene II: Man erscheine frühzeitig und gebe sich vor den Hütern der Gästeliste als Georg Seitz von der Bunten aus. Funktioniert eher im Ausland. Die Chance, dass Seitz tatsächlich auf der Liste steht, liegt bei geschätzten 95 Prozent. Vorgefallen bei der Anheuser-Busch-Yachtparty in Cannes. Erfolgreich: zunächst ja. Als der echte Georg Seitz erschien, wurde der Eindringling allerdings auf dem ganzen Boot gesucht, dann entdeckt und von Bord geworfen.
16 Beurteilt man das Organisationstalent verschiedener Völker anhand ihrer Festivals, streiten sich Deutsche und Italiener um die hinteren Plätze. Uneinholbar vorn die Franzosen, die es in Cannes zum Beispiel schaffen, einen kostenlosen WiFi-Pass auszugeben, mit dem man ungefähr einen Monat lang praktisch in der ganzen Stadt online gehen kann. Die Berliner haben dagegen für Journalisten immer noch hölzerne Pressefächer mit kleinen Metallschlüsseln, für die man zehn Euro Kaution hinterlegen muss. Die waren wohl schon bei der ersten Berlinale im Jahr 1951 im Einsatz.
17 Ende der Neunzigerjahre wollte es noch niemand zugeben, aber die aufregendsten Jahre von Cannes waren die, als im Küstenstädtchen nebendran gleichzeitig auch der Pornopreis Hot d’Or stattfand. Ein Lunch am Pool mit XXX-Diva Jenna Jameson bleibt eben doch in besonderer Erinnerung – und ein hochgeschätzer Kollege aus Berlin kommt bis heute nicht ganz über die Partyszene hinweg, in der eine nackte Sexschauspielerin eine Boa Constrictor um den Hals trug – und das hintere Ende der Schlange von Zeit zu Zeit nonchalant in ihre Scham einführte.
18 Was die Medienstimmung angeht, war Berlin lange Zeit das hysterischste der großen Festivals. Jahr für Jahr gab es ein Spektakel des beleidigten Lokalpatriotismus: Weil der Eröffnungsfilm nicht gezündet hatte, weil die Stars wieder nicht gekommen waren, weil die große weite Welt offenbar nichts anderes im Sinn hatte, als Berlin zu missachten und zu demütigen. Das hat sich Gott sei Dank gelegt, seit ständig Superstars in Babelsberg drehen: Tom Cruise im Zoo, Quentin Tarantino im »Borchardt«, Brad Pitt und Angelina Jolie im »Kiez-Café« – das wirkte wie Wundbalsam für die gequälte, ewig zu kurz gekommene Berliner Seele.
19 Manchmal glaubt man dann doch, für einen Moment die unverstellte Persönlichkeit eines Stars gesehen zu haben. Einmal tauchte in Cannes plötzlich Natalie Portman neben mir auf der Tanzfläche auf, eng umschlungen mit ihrem Lover, dem Musiker Devendra Banhart. Prinzessin Amidala und dieser superbärtige, aber ohne Zweifel geniale Psychedelic-Folk-Schrat, da war dann klar: Sie ist halt einfach eines dieser smarten, unbestechlichen Indie-Girls, die man mit Talent mehr beeindrucken kann als mit allem anderen. Was doch eine gute Nachricht ist.
20 Jeder Star, der heute einem Journalisten gegenübertritt, hält diesen bis zum Beweis des Gegenteils erst mal für einen kompletten Idioten. Man muss leider sagen, zu Recht. Unvergessen zum Beispiel eine Pressekonferenz auf der
Berlinale, bei der ein britischer Kollege zweimal ultimativ forderte, der Regisseur Terence Malick solle jetzt zu seinem neuen Film Stellung beziehen. Peinlich berührt sprach niemand auf dem Podium das Offensichtliche aus: Der notorisch scheue Malick war gar nicht anwesend. Der Fragesteller aber hat es inzwischen zum führenden britischen Klatschreporter gebracht – Kate Winslet dankte ihm bei ihrem Oscar persönlich.
21 In dem Moment, wo man sich Einlass zu einer exklusiven Veranstaltung erkämpft hat, wird diese automatisch zur zweitwichtigsten des Tages. Die wichtigste, siehe Punkt 3, ist immer woanders. Cineasten nennen dieses Problem das Groucho-Marx-Dilemma (»Ich möchte keinem Club angehören, der mich als Mitglied aufnimmt«). In Cannes wird das Problem dadurch verstärkt, dass vor der Strandpromenade stets von ferne sichtbare Superyachten lagern, von denen Lachen, Gläserklirren und Musik herüberklingt. Dort tobt natürlich das wahre Leben. Ausnahmen dieser Regel, wie diesen Moment mit Natalie Portman, gibt es zwar – aber das sind seltene Momente der Gnade. (Lesen Sie auf der nächsten Seite, welchen Einfluss die Politik auf Filmfestivals hatte.)
22 Seinen persönlichen Helden gegenüberzutreten ist immer eine heikle Angelegenheit – sie könnten sich als ganz unheldenhaft und gewöhnlich entpuppen, was oft genug passiert. Einmal saß ich Robert De Niro mit etwa fünf Kollegen in einer Art Strandhäuschen gegenüber, und er antwortete zwar auf Fragen, schien aber doch voll tiefer Sehnsucht an einen Mittagsschlaf zu denken. Bis die Kollegin mit dem Decknamen »Helmchen« (siehe Punkt 11) fragte, ob es im Beruf des Schauspielers nicht hart sei, harte Entscheidungen zu treffen. Erst kam dieser ungläubige, leere You talking to me?-Blick. Dann verzog sich das berühmte Gesicht zu einem wunderbaren, verschmitzt-diabolischen Grinsen. »Harte Entscheidungen sind immer hart«, sagte De Niro. Und der Tag war gerettet.
23 Wie hochpolitisch Filmfestivals früher waren, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Die Berlinale bekam das immer besonders zu spüren: 1970 musste sie abgebrochen werden, weil die Amerikaner in der Jury sich von Michael Verhoevens US-kritischem Vietnam-Film O.K. beleidigt fühlten. 1979 lief es dann andersherum, da reisten die Künstler aus dem Ostblock geschlossen ab, weil Michael Ciminos The Deer Hunter – Die durch die Hölle gehen angeblich das vietnamesische Volk beleidigte. Und die Jurypräsidentin Gina Lollobrigida konnte es 1986 partout nicht über sich bringen, Reinhard Hauffs RAF-Film Stammheim den Goldenen Bären zu überreichen.
24 Was Kritiker auf Festivals wirklich bewegt, steht praktisch nie in ihren Texten: Es ist der Status ihres Presseausweises. Berlin, Venedig und Cannes haben da alle ein demütigendes Klassensystem. Üblicherweise kommen Vertreter der Tagespresse und Fernsehmenschen leichter in Vorführungen als Magazinjournalisten, das sehen viele als tolle Rache an den besser-
verdienenden Hochglanz-Schreibern. In Cannes wird das Ganze auf die Spitze getrieben, da gibt es vier verschiedene Farben und dann noch subtile Unterschiede wie »mit gelbem Stern« oder »ohne gelben Stern«. Ich hatte zuletzt »Weiß mit goldenem Stern« – doch die Bescheidenheit verbietet mir, darüber zu sprechen, welcher Status das ist.
25 Partycrashen für Fortgeschrittene III: Einfach, aber wirkungsvoll – man nehme einen eher stark behaarten Kumpan mit und behaupte, er sei »der Sohn von Sean Connery«. So probierten es zwei unternehmungslustige Berliner Kollegen auf einer exklusiven Party der französischen Jeunesse dorée. Getestet im Club »Le Baron«, Cannes. Erfolgreich? Absolut.
26 Am Ende jedes großen Festivals steht immer der Blues. Man fragt sich, ob das jetzt alles war, ob das Weltkino wirklich nicht mehr zu bieten hat, ob die Kinematografie langsam den Bach runtergeht. Dann aber gehen doch immer ein paar Filme ihren Weg, gewinnen Oscars und / oder werden zu Klassikern – und lässt man ein, zwei, zwanzig oder sechzig Jahre verstreichen, muss man in der Rückschau meist sagen: Eigentlich war es ein gutes Jahr.