Grauer Himmel liegt über der sturmgebeutelten Grafschaft Devonshire, aber im Atelier der Malerin Lydia Corbett leuchtet es bunt. Eine farbenfeuchte Leinwand steht auf der Staffelei, die Frau mit der berühmtesten Frisur der Kunstgeschichte ist längst selbst Malerin. Aus der ernsten jungen Sylvette mit dem Pferdeschwanz ist die sanfte Lydia mit Stirnzöpfen geworden. Die Wände hängen voll mit ihren Ölbildern, Aquarellen und Treibholz, das die 79-Jährige am nahen Strand gesammelt und bemalt hat. Dann kramt sie einen stockfleckigen Lederkoffer voll alter Fotos hervor, die ein atemberaubend schönes Mädchen zeigen. Kein Wunder, dass Picasso sie malen wollte. Schon ein Wunder, dass er ausgerechnet ihr nicht das Herz brach.
SZ-Magazin: Frau Corbett, Sie waren 19, als Picasso Sie fragte, ob er Sie malen dürfe. Er war 73, und sein Ruf als Schwerenöter eilte ihm voraus. Haben Sie Ihre Mutter vorher um Erlaubnis gefragt?
Lydia Corbett: Nein, ich war so frei wie Luft. Meine Mutter hat nie darauf bestanden, dass ich sie frage. Wissen Sie, wir sind nicht bourgeois. Also habe ich sofort Ja gesagt.
Wie kam es zu Ihrer ersten Begegnung?
Ich lebte damals mit meiner Mutter und meinem Verlobten im Töpferdorf Vallauris in Südfrankreich. Freunde von uns hatten ein Studio gegenüber von Picassos Haus. Dort saßen wir Teenager oft auf der Terrasse, tranken Kaffee, rauchten und unterhielten uns. Eines Tages erschien über der Mauer eine Zeichnung, auf der ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz zu sehen war, das genau wie ich aussah. Picasso hielt das Bild über die Mauer, um uns einzuladen. Wir liefen gleich zu seinem Haus, er öffnete die Tür und fragte mich, ob ich für ihn Modell stehen würde. Ich war völlig überrascht, denn in unserer Gruppe war ein Mädchen, das ich viel schöner fand. Sie war sexy und selbstbewusst, aber Picasso fragte ausgerechnet mich.
Haben Sie eine Erklärung, warum er gerade Sie porträtieren wollte?
Die Leute pfiffen mir auf der Straße hinterher, weil ich recht beachtlich aussah. Natürliches blondes Haar, kein Make-up, keine High Heels. Aber in Wirklichkeit war ich ein verschlossenes und schüchternes Mädchen. Im Schrank hatte ich jede Menge graue Wollpullover und lange Herrenmäntel, in denen ich mich verstecken konnte. Das hat Picasso sofort fasziniert. Er fragte sich: Was ist das für ein seltsames Mädchen? Er war ein echter Gentleman. Ich hatte keine Ausbildung und nie studiert. Er hätte ja auch sagen können: Was für ein dummes Ding! Stattdessen hat er mich vergöttert.
Picasso machte Ihren Pferdeschwanz über Nacht so berühmt, dass sogar die damals noch unbekannte Brigitte Bardot ihn kopierte.
Wir sind uns einmal beim Filmfestival von Cannes auf der Promenade begegnet. Sie flanierte dort mit ihrem Mann, dem Regisseur Roger Vadim, und hatte noch dunkles Haar. Nachdem ich auf dem Cover von Paris Match erschienen war, riet Vadim ihr wohl, ihre Haare blond zu färben und einen Pferdeschwanz zu tragen wie ich. Damit ging sie dann zu Picasso, damit er sie auch malte. Aber er hatte überhaupt kein Interesse, weil er ja schon mich gemalt hatte und wir uns äußerlich aufs Haar glichen. Dabei war sie sehr sexy, ganz anders als ich. Verglichen mit ihr war ich ein ganz einfaches Mädchen wie Aschenputtel.
Sie wurden über Nacht bekannt wie ein Filmstar. Haben Sie den Ruhm genossen?
Es war grauenhaft. Die Reporter rannten uns in Vallauris die Türen ein. Ich sagte meiner Mutter, sie solle die Tür abschließen, und versteckte mich im Schlafzimmerschrank. Als die Zeitungen über Picassos Sylvette-Bilder berichteten, bekam ich auf einmal Hunderte Briefe aus aller Welt von Männern, die mich heiraten wollten.
Haben Sie geantwortet?
Nein, keinem Einzigen. Mein Verlobter Toby war schrecklich eifersüchtig. Ich habe die Briefe genommen und vor seinen Augen zerrissen. Ich liebe Männer, aber sie sind schwierig. Picasso spürte, dass ich tief in meinem Inneren verletzt war. Er fragte sich, warum ich so still und furchtsam war. Einmal malte er ein Porträt von mir ohne Mund, weil ich so wenig sprach. Er ahnte, dass es etwas gab, über das ich nicht sprechen konnte.
Was war das?
Meine Eltern hatten sich schon vor meiner Geburt getrennt, und ich habe meinen Vater immer sehr vermisst. Als ich acht Jahre alt war, missbrauchte mich der Freund meiner Mutter. Ich habe es niemandem erzählt, nicht einmal meiner Mutter oder meinem Mann, und auch selbst völlig verdrängt, bis ich 27 Jahre alt war. Damals verließ mich Toby. Ich war verzweifelt und dachte, ich könnte ohne ihn nicht weiterleben. Dann hatte ich eine Vision. In unserer Wohnung hing ein Kruzifix, das wir auf einem Trödelmarkt gekauft hatten, und ich spürte plötzlich, wie mein ganzer Körper von Licht erfüllt wurde, und ich kniete vor dem blutenden Jesus nieder und heulte und heulte. Picasso hatte das schon Jahre vorher gespürt.
Haben Sie deshalb einmal gesagt, Picasso sei der beste Mann in Ihrem Leben gewesen?
Ja, er war wie ein Ersatzvater zu mir. Ich habe in meinem Leben keinen anderen Mann getroffen, der so liebenswürdig und respektvoll zu mir war. Er hat mir die Tür in ein neues Leben aufgestoßen. Er war so fürsorglich und gütig zu mir. Er hat mir Mut gemacht und mir Selbstvertrauen und Kraft gegeben. Manchmal verkleidete er sich mit Schnurrbart und roter Nase als Clown, um mich zum Lachen zu bringen. Einmal malte er eine Spinne auf den Boden und sprang dann vor Schreck an die Decke, als er ins Zimmer zurückkam und die Spinne sah. Er konnte sehr albern sein.
Picassos langjährige Lebensgefährtin Françoise Gilot hatte ihn gerade verlassen. In ihren Memoiren vermutet sie, Picasso habe sie eifersüchtig machen wollen, indem er Sie malte. Haben Sie keinen Verdacht geschöpft, dass es ihm nicht nur um Kunst geht?
Als junge Frau hat man ein Gespür dafür, ob Männer zweideutige Absichten haben oder nicht. Und Picasso wusste, dass ich sofort weggelaufen wäre, sobald er etwas Unanständiges getan hätte. Er hat schon an der Türschwelle gemerkt, dass ich ein sehr ernster Mensch war.
»Wir hatten nie Sex miteinander, das macht es einfacher, nicht wahr? Sex macht doch alles kompliziert im Leben.«
Sylvette David wurde 1934 in eine Künstlerfamilie in Paris geboren. Ihre englische Mutter war Malerin, der französische Vater führte eine Galerie an den Champs-Élysées. Es war ihr Vater, der Sylvette dazu riet, einen Pferdeschwanz zu tragen, nachdem er die Frisur in einem Theaterstück gesehen hatte. Der Umzug nach Südfrankreich brachte sie nach Vallauris, wo die 19-Jährige bald von Picasso entdeckt wurde, dem sie 1954 drei Monate lang Modell stand. Nach dem Scheitern ihrer ersten Ehe fand David zu Gott, zog nach England, ließ sich auf den Namen Lydia taufen und begann im Alter von 45 Jahren selbst zu malen. Ihre Bilder werden von der Francis Kyle Gallery in London verkauft.
Marie-Thérèse Walter, Dora Maar, Françoise Gilot, Jacqueline Roque - sie alle wurden von Picasso gemalt und verführt. Wollen Sie behaupten, der größte Casanova der Kunstgeschichte habe es bei Ihnen nicht mal auf einen Versuch ankommen lassen?
Natürlich hat er es versucht. Einmal führte er mich in einen kleinen Raum im ersten Stock, der wie aus einem Gemälde von van Gogh aussah. Dort standen nur ein Tisch, ein Stuhl und ein Bett. Plötzlich hüpfte Picasso auf das Bett und forderte mich auf, auch hinaufzuspringen. Ich habe mich natürlich geweigert.
Sie waren jung und brauchten Geld. Aber als Picasso Ihnen ein Honorar anbot, lehnten Sie ab. Warum?
Ich hatte Angst, er würde im Gegenzug von mir verlangen, dass ich ihm für Aktporträts Modell stehe. Aber ich wollte ihm meinen Körper nicht zeigen. Ein paar Tage später betrat ich sein Studio und sah, dass dort ein Nacktporträt von mir stand. Picasso grinste verschwörerisch und sagte: »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.« Natürlich wusste ich, was er vorhatte. Er dachte, ich gebe nach und ziehe mich aus. Aber ich sagte nur: »Es ist mir eine Ehre, so ein wundervolles Porträt.«
Haben Sie es je bereut, nicht auf Picassos Avancen eingegangen zu sein?
Wir hatten nie Sex miteinander, das macht es einfacher, nicht wahr? Sex macht doch alles kompliziert im Leben.
Ihre Sitzungen verliefen also immer nüchtern?
Wir haben während der Sitzungen nie gesprochen oder getrunken. Nichts! Picasso hat immer nur Gitanes geraucht. Eines Tages zeigte er mir einen riesigen Haufen leerer Zigarettenschachteln, die er auf dem Fußboden zu einer Pyramide gestapelt hatte, und sagte stolz: »Schau, wie viel ich geraucht habe.« Dann kaufte er mir amerikanische Zigaretten und legte sie auf den Tisch neben mir, damit auch ich während unserer Sitzungen rauchen konnte.
Sie sind auf keinem Bild mit Zigarette zu sehen.
Ich bitte Sie! Er hat die Zigaretten natürlich ausgelassen. Man malt keine Leute mit Zigaretten.
Was ist mit den Rauchern und Absinth-Trinkern aus Picassos Blauer Periode?
Mag sein, aber eine schöne Frau malt man nicht mit Zigarette! Picasso liebte Schönheit. Und er war auch mit 73 ein sehr gut aussehender Mann. Er roch immer nach Eau de Toilette, war stets glatt rasiert und braun gebrannt und hatte diese wunderbaren schwarzen Augen.
Françoise Gilot bezeichnete sie einmal als »Basiliskenaugen«, weil Picasso auch mit Blicken töten konnte …
Mir hat es nichts ausgemacht, wenn er mich angeschaut hat. Wenn ich ehrlich bin, bereue ich heute, dass ich mich nicht ausgezogen habe. Dann gäbe es doch jetzt einen schönen Akt von mir, nicht wahr? So gibt es nur die Porträts. Ich durfte mir nach den drei Monaten bei ihm ein Ölgemälde und eine Zeichnung aussuchen, die er von mir gemacht hatte. Ich entschied mich für das realistischste Porträt, leider. Heute würde ich ein kubistisches nehmen. Aber als junger Mensch hat man noch keinen Geschmack.
Was ist aus dem Gemälde geworden?
Ein amerikanischer Arzt hat es in den Sechzigerjahren für 10 000 Pfund gekauft. Toby und ich hatten damals sehr wenig Geld. Ich habe geweint, als ich das Bild verkaufen musste. Der Amerikaner sagte, er habe keine Familie, und versprach, dass ich es nach seinem Tod wiederbekommen würde. Später erkrankte er wohl an Demenz und vergaß sein Versprechen.
Haben Sie es je wiedergesehen?
Ja, vor sechs Jahren. Ich bekam einen Anruf von einem Mann aus London, der mein Porträt für viele Millionen Pfund gekauft hatte. Er lud mich und meine Familie ein, ihn zu besuchen und es noch einmal zu sehen.
Was haben Sie gedacht, als Sie Ihr Bild nach einem halben Jahrhundert wiedersahen?
Ich habe gar nichts gedacht. Ich habe geweint, als ich die 19-jährige Sylvette sah. Denn es hat mich daran erinnert, was unwiederbringlich verloren ist.
Ist das nicht ein schrecklicher Gedanke?
Es ist, wie wenn jemand stirbt. Meine Mutter ist gestorben, mein Vater ist gestorben, alle sind fort. Und ich werde die Nächste sein. Das Bild ist unsterblich. Die 19-jährige Sylvette ist unsterblich. Jemand hat mir neulich gesagt: Lydia, du bist Picassos Mona Lisa.
Sie sind die wohl einzige Malerin der Kunstgeschichte, die alle ihre Gemälde gleichzeitig mit zwei Namen signiert: Sylvette David und Lydia Corbett. Warum?
Ich habe mich mit 36 Jahren taufen lassen und heiße seitdem Lydia. Aber die kleine unschuldige Sylvette ist immer noch da und ein Teil von mir. Deshalb male ich auch gern Selbstporträts mit meinen zwei Gesichtern: Sylvette mit dem Pferdeschwanz und Lydia mit den Stirnlocken.
Haben Sie Picasso je wiedergesehen?
Nur einmal. 1965 besuchte ich ihn mit meinem Mann und meiner Tochter Isabel. Der Schriftsteller Pierre Daix war auch dort und Picasso sagte zu ihm: »Nun ja, das Gemälde ist stärker als Sylvette.«
Pardon, das ist nicht sehr charmant.
Nein, aber es ist die Wahrheit. 1965 sah ich immer noch gut aus, aber ich war nicht mehr die Sylvette, die er gemalt hat. Ich war reifer geworden.
Wie lange haben Sie den berühmten Pferdeschwanz eigentlich behalten?
Von 1949 bis 1962. Danach habe ich die Haare wie Brigitte Bardot getragen.
(Fotos: François Pages / Paris Match via Getty Images, VG Bild-Kund, Bonn 2013; Isabel Coulton; Pablo Picasso, Sylvette, 1954, Öl auf Leinwand © Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2013. Abbildung aus dem Buch Picasso und das Modell Sylvette, Sylvette, Sylvette, Prestel Verlag)