»Europa gehört Picasso, Matisse, Braque und vielen anderen. Indien gehört mir allein.« Als Amrita Sher-Gil diese Worte 1939 niederschrieb, war sie gerade mal 26 Jahre alt – und als erste Künstlerin des Fernen Ostens Mitglied des Grand Salon in Paris. Zwei Jahre später war die Frau, die zur Vorreiterin der künstlerischen Moderne in Indien wurde, tot – womöglich gestorben an den Folgen einer missglückten Abtreibung, wie eine neue Biografie über die Malerin andeutet. Amrita Sher-Gil war stolz, überheblich, eigensinnig. Für ihre Bilder verlangte sie exorbitante Preise. Am liebsten malte sie Porträts im klassischen Stil, virtuose Gemälde für eine so junge Künstlerin. Nach ihrem Tod war es lange Zeit ruhig um Amrita Sher-Gil. Doch dieses Frühjahr erzielte ihr 1938 entstandenes Bild Dorfszene in Neu-Delhis größtem Auktionshaus Osian’s die höchste jemals für ein indisches Gemälde bezahlte Summe: 1,26 Millionen Euro. Der weltweite Boom auf dem Kunstmarkt hat inzwischen auch die indische Malerei erfasst: Bei Christie’s beträgt deren Steigerungsrate nach Schätzungen des Finanzdienstes outlookmoney.com derzeit im Durchschnitt jährlich 51 Prozent. Christie’s hält im laufenden Jahr allein fünf Auktionen mit zeit-genössischer indischer Kunst ab. Schon spricht man von überhitztem Markt und von Ausverkauf – doch Amritas Werk dürfte davon kaum berührt werden. Die meisten ihrer etwa 200 Gemälde hängen entweder dauerhaft in der National Gallery of Modern Art in Neu-Delhi oder sind im Besitz der Familie. Sie gelten als nationales Kulturgut und dürfen nicht außer Landes gebracht werden. Eine Ausnahme: die im Herbst beginnende Retrospektive ihrer Malerei im Münchner Haus der Kunst – für diese außerhalb Indiens bislang einzigartige Schau hat die National Gallery erstmals großzügig Werke ausgeliehen. Im Verlag Schirmer/Mosel erscheint im Oktober ein umfangreicher Bildband. Das kurze, atemberaubende Leben der Amrita Sher-Gil klingt wie ein Roman und es ist in vielerlei Hinsicht mit dem tragischen Schicksal Frida Kahlos vergleichbar. Die Tochter einer ungarischen Opernsängerin und eines indischen Aristokraten verbrachte ihre Jugend in Budapest, im nordindischen Simla – dem Sommersitz der britischen Kolonialverwaltung – und in Florenz. In Ungarn lernte Sher-Gil Klavier spielen und gab Konzerte; sie liebte Beethoven und hasste Chopin. 1929 zog die Familie nach Paris: der Tochter wegen, die mit 16 Jahren an der Pariser École des Beaux-Arts angenommen wurde, der bedeutendsten Kunstakademie jener Zeit. Die Ankömmlinge aus Indiens Oberschicht wurden in Frankreich wie Fürsten empfangen. Während Amritas Mutter Marie Antoinette legendäre Soireen veranstaltete und ihr Vater, der exzentrische Universalgelehrte und Fotograf Umrao Singh, an der Sorbonne las, tauchte Amrita ein in das Leben der Bohemiens und malte wie besessen: Zwischen 1930 und 1932 entstanden um die sechzig große Gemälde. Dem Charme der jungen Inderin erlagen zahlreiche Verehrer. Auf Fotos jener Zeit sieht man sie in Cafés stets von Männern umgeben. Schnell rankten sich Legenden um Amrita Sher-Gil, früh zeigte sich ihr an Hochmut grenzendes Selbstbewusstsein.
»Ich werde meine Schönheit genießen, weil sie mir nur für eine kurze Zeit gegeben ist und der Genuss nie lange anhält«, äußerte sie einmal. In ihren Pariser Selbstporträts zeigt sich Amrita so freizügig wie kaum eine Künstlerin vor ihr. Ihren Eltern gegenüber musste sie Gerüchte über ihre Bisexualität dementieren. Der junge Sozialist Boris Tazlitsky, der mit ihr studierte, verliebte sich in sie. Er erinnert sich später: »Ich war sehr arm, deshalb sagte ihre Mutter zu mir: Fass sie nicht an!« Die Eltern brachten das Mädchen dazu, sich mit dem wohlhabenden indischen Lebemann Yusuf Ali Khan zu verloben. Doch löste Sher-Gil die Verbindung vor der Hochzeit – weil Yusuf notorisch untreu war. Er hatte sie mit Syphilis angesteckt. Sie ließ sich von ihrem Cousin und späteren Ehemann, dem ungarischen Arzt Victor Egan, behandeln – die Angst um ihre Gesundheit wurde sie aber nie mehr los. Wie viele andere Künstler lehnt Sher-Gil in den beginnenden Dreißigern die abstrakte Avantgarde ab und orientiert sich lieber an verlässlichen Größen der Kunstgeschichte; bei ihr sind dies Cézanne, Gauguin, aber auch Modigliani. Aber sie merkt, dass ihr die indische Kunst mehr bedeutet als die westliche: »Ein Fresko in Ajanta ist mehr wert als die gesamte Renaissance.« Sie will sich nun von den Farben und dem Licht des Fernen Ostens inspirieren lassen und kehrt im Winter 1934 mit ihrer Familie nach Simla zurück. Dort führt Amrita Sher-Gil ihren extravaganten Lebensstil fort. Tagsüber sieht man sie mit einem groben Malerkittel in ihrem Studio arbeiten, abends als mondän gekleidete Schönheit im Hause reicher Bürokraten und Politiker. Spätnachts arbeitet sie in ihrem Atelier weiter. Mit dem britischen Journalisten Malcolm Muggeridge und mit Jawaharlal Nehru, Indiens spätererem Premier, soll sie Affären gehabt haben. In den Dreißigerjahren entwickelt sie ihren einzigartigen, westliche und östliche Einflüsse vermischenden Stil, der sie zur bedeutendsten Künstlerin Indiens machen wird: Sie malt, oft in flächiger, monumentaler Weise, Kinderbräute und Bettler, Elefanten und Kamele – nie folkloristisch-anrührend, sondern immer leidenschaftslos, allein auf die Balance und Spannung ihrer Komposition achtend. Lehmhütten, erdige Töne, ein Leben voller stiller Armut und stoischer Rituale verewigt sie auf ihren Bildern – die ländliche Armut blieb ihr wichtigstes Sujet. Kühl notierte sie, die armen Leute seien »seltsam schön in ihrer Hässlichkeit«. Amrita Sher-Gil hat die Anfänge ihres Ruhms nicht mehr erlebt. Sie bereitete gerade ihre erste große Retrospektive vor, als sie im Dezember 1941 plötzlich krank wurde. Kurze Zeit später fiel sie ins Koma und starb, an Blutverlust, Bauchfellentzündung und Wassermangel. Ihr Ehemann konnte sie nicht mehr retten. Sher-Gils Mutter beschuldigt ihn, sie ermordet zu haben, und brachte sich kurze Zeit später aus Verzweiflung um. Amrita Sher-Gil muss ihr tragisches Schicksal ihr kurzes Leben lang geahnt haben. So sagte sie wiederholt: »Ich muss hart arbeiten, ich muss schnell arbeiten, denn meine Zeit ist sehr knapp.«