Wie genau das losging mit den Sternen, weiß ich nicht mehr. Ob ich damit anfing oder mein Freund Christoph. Ich weiß nur, dass wir uns immer nachts trafen und mit dem Fernglas loszogen, Sterne gucken, damals im Sommer 1984. Was man so macht, wenn man jung ist und die Wunder der Welt neu vor einem liegen. Ich war 15, er ein Jahr älter. Meist standen wir im Garten oder auf dem Fußballplatz. Unsere Siedlung lag am Stadtrand von München, umringt von Wald; kaum Streulicht, also gute Bedingungen. Wir sahen: die Krater auf dem Mond, die Ringe des Saturn, das Band der Milchstraße, das sich im Fernglas in lauter kleine Punkte auflöste. Und den Andromedanebel, unsere Nachbargalaxie – ein verwaschener Fleck zwei Finger breit über dem Stern Mirach. Wir fühlten uns als große Astronomen. Und irgendwann wollten wir mehr. Also gingen wir in eine Münchner Buchhandlung und ließen unauffällig Fachbücher in unsere Schulranzen gleiten.
Eines davon hieß 100 Milliarden Sonnen – Geburt, Leben und Tod der Sterne. Auf dem Cover war ein glutroter Sonnenball zu sehen, hinten ein Autorenfoto, das einen zerknautschten älteren Herrn mit Hornbrille und Scheitel zeigte: Rudolf Kippenhahn. Darüber ein paar Schlagwörter als Anreißer:
Schwarze Löcher.
Der Röntgenstern im Herkules.
Die Uhuru-Story.
Das klang nicht nach Physik. Das klang nach Raumschiff Enterprise.
In dem Buch wird von fernen Galaxien erzählt, von Sternen, die man Weiße Zwerge oder Roten Riesen nennt, und vom Werden und Vergehen im Kosmos. Es ist ein Buch, das einen ziemlich klein zurücklässt, weil man zum ersten Mal mit Dimensionen zu tun hat, die den Verstand übersteigen. Oder wie Kippenhahn schon in der Einleitung schreibt: »Diesem gewaltigen Szenarium in der Natur steht auf dem winzigen Planeten Erde, der um den unscheinbaren Stern Sonne kreist, eine Handvoll Astronomen gegenüber, die den Kosmos zu begreifen versuchen. Mit Gerätschaften, die sie aus den Stoffen ihres Planeten gebaut haben, verfolgen sie von ihren Sternwarten aus das Geschehen im Weltall.«
Oder eben vom Garten. Wir waren keine Überflieger. Meine Noten in Physik waren so mittelmäßig, dass ich mich nicht mehr daran erinnere. Aber das hier hatte nichts mit Schule zu tun, das hatten wir uns selbst erobert. Es stellten sich ja große Fragen: Sind wir allein im All? (Eher unwahrscheinlich, wie Kippenhahn vorrechnete) Oder: Wird die Sonne ewig scheinen? (Nein, noch ein paar Milliarden Jahre, dann wird sie sich aufblähen und alle Spuren unserer Zivilisation auslöschen). Wer das einmal verinnerlicht hat, sieht den Sonnenaufgang mit anderen Augen, und das Treiben hier auf der Erde, das wir Leben nennen, auch. Das Buch wurde unser Evangelium.
Noch steht die Sonne fest am Himmel über Göttingen, wo Rudolf Kippenhahn heute lebt. Ich habe einen Brief an ihn geschrieben. Er hat per E-Mail geantwortet. Kippenhahn ist 86. Nein, es sei kein Problem, ihn zu Hause zu treffen, aber Eile sei geboten. Er und seine Frau seien am Umziehen. »In unsere letzte Wohnstätte«, ein Seniorenstift.
Göttingen, das sich als »Stadt, die Wissen schafft« verkauft, ist sehr stolz auf seine astronomische Tradition. Carl Friedrich Gauß hat hier gewirkt, berühmt für seine Bahnbestimmungen von Himmelskörpern. Durch die Innenstadt führt ein Planetenweg, der das Sonnensystem maßstabsgetreu darstellt. Jeder Himmelskörper hat eine Schautafel. Die Sonne ist am Ende der Goetheallee, die Erde etwa 200 Meter weiter östlich, der Pluto irgendwo außerhalb der Stadtgrenze.
Wir haben uns vor meinem Hotel verabredet, zirka Höhe Merkur. Rudolf Kippenhahn kommt mit seiner Frau, die uns fährt. Wir wollen in die Universitäts-Sternwarte Göttingen. Hier forschte Kippenhahn zehn Jahre, bevor er 1975 Direktor des Max-Planck-Instituts für Astrophysik in München wurde und anfing Bücher zu schreiben.
Rudolf Kippenhahn bleibt bei der Begrüßung auf dem Beifahrersitz sitzen. Neben ihm liegen zwei Gehstöcke. Er ist nicht mehr so beweglich. War er nie. Mit zwei Jahren erkrankte er an Kinderlähmung. Er wurde wieder gesund, eine Muskelschwäche im rechten Bein aber blieb. Sein Gesicht ist noch ein bisschen zerknautschter als auf dem Buch, aber hinter der randlosen Brille und den hängenden Lidern leuchten listige Augen.
»Na, wenn ich das gewusst hätte, dass ich einen jungen Fan in München hatte! Wären Sie doch mal vorbeigekommen damals«, ruft er. Hab ich doch versucht, sage ich und erzähle, wie wir uns einmal aufgemacht haben zu ihm nach Garching. Nachts; aus einer pubertären Laune heraus. Es waren nur ein paar Kilometer von da, wo wir wohnten. Da standen wir dann vor seinem Max-Planck-Institut, alle Türen verschlossen, keine erleuchteten Fenster, keine Kuppel, aus der ein Fernrohr ragt. Nur das Schweigen schlafender Zweckbauten und ein paar Mülltonnen auf dem Hof. Also haben wir die Tonnen durchwühlt. Wir fanden Dokumente, Zahlenkolonnen, seitenweise. Altpapier. Ein paar trugen Kippenhahns Namen. Die haben wir natürlich triumphierend nach Hause getragen, wie Autogramme. Da muss er lachen über seinen komischen Besucher. Ein bisschen Stolz aber ist auch dabei.
Die Universitäts-Sternwarte Göttingen ist ein klassizistischer Block mit einer kleinen Kuppel. Hier saß Kippenhahn an Computern groß wie Garagen und hat seine Berechnungen angestellt zur Sternphysik. In der alten Kuppel hingegen war er kaum, die war schon zu seiner Zeit nur noch historisch interessant. Aber genau die will er mir jetzt zeigen, trotz Gehstock. Es sind steile knarzende Wendeltreppen aus Holz, die er sich Stufe für Stufe hinaufkämpft. Links den Stock, rechts das Geländer in der Hand. Ihm steht der Schweiß auf der Stirn. Mir auch. Und das nicht nur, weil es 30 Grad hat. Auch weil Kippenhahn während des, man muss es so nennen, Aufstiegs von einem Bekannten erzählt, der vor Kurzem gestürzt sei, »und nie wieder auf die Beine kam. Oberschenkelhalsbruch«. Ich postiere mich sicherheitshalber hinter ihm. Endlich oben, sagt er: »Rauf ist leicht, runter wird schwierig.«
Auf der alten Teleskopanlage sitzt man wie in einem Flakgeschütz. Wäre toll, jetzt was ins Visier zu nehmen, leider ist Tag. Kippenhahn erklärt, dass so ein Teleskop, ein Refraktor mit 15 Zentimeter Durchmesser, tief und fest im Erdreich verankert sein muss, das Gebäude praktisch drumherum gebaut ist. Ich am Teleskop, Kippenhahn daneben, dozierend. Was hätte ich früher drum gegeben!
»Das kann nur ich lösen.«
Geboren wurde Kippenhahn 1926 im tschechischen Bärringen, wo damals noch Deutsch gesprochen wurde. Die Ärzte verordneten dem zweijährigen Poliokranken strahlende Radiumbäder. Als die Deutsche Wehrmacht in die Tschechoslowakei einfiel, war er zwölf. Später wollte man ihn noch zur SS einziehen, kurz vor der Kapitulation, aber er fiel durch die Musterung. »Meine Behinderung hat mir nicht nur Nachteile gebracht.« Nach dem Krieg verdingte er sich als Journalist, schrieb Elogen auf die Atombombe für eine sozialistische Zeitung. »Ich werde schamrot, wenn ich das heute lese.« Dann nahm er ein Studium auf: Mathematik und Physik.
So weit hat unsere Begeisterung nie gereicht. Sie reichte nicht mal für ein einfaches Teleskop. Einmal noch flammte sie auf, im Winter 1985, als der Halleysche Komet mit großem Hallo angekündigt wurde. Christoph war in den Weihnachtsferien. Also zog ich allein los mit dem Fernglas und verfolgte Nacht für Nacht einen schwachen schemenhaften Fleck. Seine Bahn hielt ich auf Millimeterpapier fest. Die Aufzeichnungen enden abrupt. Eine Schlechtwetterfront kam dazwischen.
»Wissen Sie, Wissenschaft zu treiben ist verdammt schwer«, sagt Kippenhahn, auf seinen Stock gestützt. »Man muss dieses Ego, dieses Selbstvertrauen haben, zu sagen: Das ist so schwer, das kann nur ich lösen!«
Schon 1951 fand er eine erste Anstellung in der Bamberger Sternwarte. Sein Spezialgebiet wurde die Vermessung von Sternen anhand des Lichts, das sie abstrahlen, und angewandter Mathematik: Masse, Alter, Entfernung und vieles mehr lässt sich so errechnen. Später als Professor in Garching gab er regelmäßig Vorlesungen. 100 Milliarden Sonnen war sein erstes Buch, 1980. Es verkaufte sich gut, wurde übersetzt, mehrfach neu aufgelegt. Zwei Jahre später meldet sich das Schicksal noch mal bei ihm: ein Tumor im Gleichgewichtsorgan. Operation. »Da musste ich wissenschaftlich kürzertreten und hab nur noch Sachbücher geschrieben. Diesen Firlefanz.« Da muss man jetzt natürlich Einspruch einlegen, denn warum soll die Verbreitung von Wissen weniger ehrenwert sein als das Schaffen von Wissen? »Das müssen andere entscheiden«, knurrt Kippenhahn. Und ich entscheide hiermit: Ist es nicht, im Gegenteil.
Runter war schwierig. Die Treppen, die Gehstöcke. Aber Kippenhahn lädt noch ein zum Kaffee bei ihm zu Hause. Eine Villa, Typ Kanzlerbungalow, auf dem Nikolausberg, »Göttingens Grünwald«, sagt Johanna Kippenhahn. Sie ist eine elegante Dame, 70, mit sonnigem Gemüt, immer ein Lachen im Gesicht. Sie sind seit 47 Jahren verheiratet.
Wir sitzen auf einer schwarzen Ledercouchgarnitur, der Blick fällt auf die Sechzigerjahremöbel, den offenen Kamin, die überdachte Terrasse, den gepflegten Ziergarten. Warum will man freiwillig von hier weg? »Der Garten, das Schneeschippen! Das große Haus. Es wird ja alles mühsamer«, winkt Kippenhahn ab. »Wir sehen’s positiv«, lacht Johanna, und ihr glaubt man das auch. Achtzig Quadratmeter werden sie dort haben im Seniorenstift. Einen eigenen Friseur gibt es dort und eine Zimmerdame auf der Etage.
Er wirkt schon etwas müde, doch ein paar Fragen sind noch offen: Kann man als Wissenschaftler an Gott glauben? »Ich bin kein Atheist«, sagt er und nippt am Kaffee, »ich bin ratlos. Aber wenn ich einem Gottesdienst beiwohne, gehe ich ein wenig ungläubiger heraus, als ich reingekommen bin.« Nur einmal, erzählt Kippenhahn, da sei er zu Kreuze gekrochen. Eine seiner Töchter, noch ein Säugling, war an Gehirnhautentzündung erkrankt. Die Ärzte sagten: Hirnschaden wahrscheinlich. Sie wurde wieder gesund. Ausgetreten ist er aus der Kirche nie.
Was empfindet einer wie Kippenhahn, wenn er heute in die Sterne schaut? Trost, Verlorenheit, Schaudern?
»Nichts.«
Nichts?
»Nichts. Das geht nicht an meine Gefühlswelt. Hab ich noch nie daran gedacht.«
Vielleicht muss man so sein als Wissenschaftler. Vielleicht bin ich deshalb keiner geworden. Oder man wird so, wenn das Alter kommt. Schaue ich heute in den Nachthimmel, sehe ich alles, was Kippenhahn mich gelehrt hat: 100 Milliarden Sonnen. 100 Milliarden Möglichkeiten. Und wir mittendrin. Ein Wunder. Vor allem aber sehe ich zwei Jungs mit Fernglas im taunassen Gras.
RUDOLF KIPPENHAHN
ist Professor für Astrophysik und leitete von 1975 bis 1991 das Max-Planck-Institut für Astrophysik in München. Er wurde mit diversen Auszeichnungen geehrt, u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz. 1991 wurde der kleine Planet 2947 nach ihm benannt. Er hat zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher zu Themen der Astronomie und Kosmologie geschrieben, auch Kinderbücher wie Das Geheimnis des Großen Bären. Er lebt in Göttingen.
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Fotos: Attila Hartwig