Betr: Sitten

E-Mails, Handy und Internet ruinieren unsere Umgangsformen. Und das ist das Beste, was uns passieren kann.

Als Friedrich der Große nach Jahren der Trennung 1763 seine Frau Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern wiedertraf, begrüßte er sie mit den Worten: »Madame sind korpulenter geworden.« Schlechtes Benehmen gehörte stets zum kommunikativen Repertoire der Menschheit, und auch seine Grundkomponenten sind zeitlos: mangelnder Respekt, Unaufmerksamkeit und, wie im Falle des preußischen Monarchen, als Ehrlichkeit verkleidete Gemeinheit.

Trotzdem sind die Manieren, auf die sich eine Gesellschaft einigt, Gradmesser dafür, in welcher Aufstiegs- oder Zerfallsphase sie sich befindet und welche Ängste sie umtreiben. Das gilt auch für das Zeitalter, in dessen Startphase wir uns befinden: die Digitalmoderne. Wir können mit Milliarden von Menschen fast in Echtzeit kommunizieren, wir können uns jederzeit der Öffentlichkeit mitteilen, wir können per Handy im Minutentakt Beiträge auf Blogs wie Twitter.com schreiben oder Fotos, Videos, ausgewählte Filmschnipsel in die Kommunikationsmaschine Internet einspeisen, in der Hoffnung, dass jemand all dies – also uns – wahrnehme, kommentiere, weitersende. Dass der technische Fortschritt auch verhaltenspsychologische Umwälzungen mit sich bringt, liegt auf der Hand. Und deshalb stellen sich auch ganz neue Benimmfragen. Wie etwa hilft man einer Frau in den Mantel, die gerade in ihr Mobiltelefon spricht? Wie reagiert man auf eine Kündigung per SMS? Wie muss man damit umgehen, wenn man während eines wichtigen Telefonats »weggedrückt« wird? Ist es moralisch in Ordnung, die Gäste eines Abendessens zu googeln?

Vieles, was bisher als guter Stil galt, scheint sich von selbst abzuschaffen. So sind Geschäftsleute, die in den Großraumwaggons der deutschen Bahn in ihr Multifunktionshandy schreien, das soziale Feindbild der letzten Jahre geworden: Sie verkörpern die rücksichtslose Beschlagnahmung des öffentlichen Raums und die Hybris des Anfängers, der mit technischem Gerät angeben will.

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Die gleiche emsige Unbeholfenheit ist beim Umgang mit E-Mails zu beobachten: obskure Anreden (»Guten Tag, Adriano Sack«), unbedacht Weitergesandtes oder fälschlich Zurückgeschicktes, ungehemmter Antwortzwang (»Re: Re: Re: Re: Re: …«). Internet und SMS haben den Siegeszug des Englischen als internationale Geschäftssprache vollendet. Und Kürzel wie die berüchtigten Smileys befreien endgültig von dem Zwang, eindeutig zu formulieren. Mithilfe von visuellen Krücken bewegen wir uns Richtung Halbanalphabetentum. Den Rest überlassen wir dem Rechtschreibprogramm. Man könnte über diese Entwicklungen verzweifeln. Muss man aber nicht. Zerlegt man die neuen Verhaltensauffälligkeiten in Einzelteile, dann werden sie erkennbar als das, was sie sind: Signale eines Alltags, der sich radikal verbessert.

Das, was wir als lästig empfinden, sind meistens nur Kinderkrankheiten, die die Einführung neuer Medien und Spielzeuge eben mit sich bringt. Wir werden uns daran gewöhnen. Und wir werden neue Regeln finden, die sich mehr oder weniger von selbst einspielen. Wer heute zum Beispiel im Restaurant sein Handy nicht stummschaltet, handelt vorsätzlich – und muss sich dessen eben bewusst sein. Vermutlich werden kultivierte Restaurants irgendwann Handy-Ecken einrichten, für Workaholics, die ihren Mitarbeitern vorzugsweise kauend Anweisungen geben.

Vor allem aber wird die Digitalmoderne eine längst überfällige Entwicklung mit sich bringen: die Rationalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen. Der lässige Dresscode der New-Economy-Milliardäre ist schon seit Jahren ein besonders augenfälliges Beispiel dafür, dass nicht mehr die scheinbar seriöse Verkleidung, sondern die Substanz zählt: auch – oder gerade – ein Mann in Cargo-Pants kann ein Unternehmen gründen, nach dem sich die Anzugträger die Finger lecken. Überkommene Umgangsformen verlieren also an Bedeutung, und das ist ja nicht das Schlechteste. Die oben erwähnte Dame, die gerade in ihr Handy spricht, während der Herr überlegt, wie er ihr in den Mantel helfen soll, wäre dann jemand, dem Geschäft oder Kommunikation wichtiger sind als die altmodische Darstellung weiblicher Hilfsbedürftigkeit.

Und noch auf einer ganz anderen Ebene verändern sich die Manieren: Zum Grundvokabular des klassischen guten Benehmens gehörte die Diskretion. Ehebruch, Alkoholismus, abweichende Sexualität – all das musste hinter blickdichten Gardinen stattfinden. Aber diese Vorstellung greift nicht mehr für eine Generation, die in den Sozialen Netzwerken des Internet Exhibitionismus längst ganz selbstverständlich als Währung für ihr steigendes Ansehen akzeptiert. Mehr als hundert Freunde findet auf MySpace nun mal nur derjenige, der Substanzielles von sich preisgibt. Wenn aber Doppelmoral von Freizügigkeit abgelöst wird, darf man dies als Forschritt sehen.»Embrace progress«, umarmt den Fortschritt, empfahl der Medienzar Rupert Murdoch, als er vor zwei Jahren MySpace erwarb, um sich in die Digitalmoderne einzuloggen. Sein Kollege Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG, erklärt: »Ich halte es für stillos, eine orthografisch korrekte SMS zu verschicken. Das ist ein schnelles Medium. Die Nachrichten entstehen aus dem Moment. Das macht ihren besonderen Charme aus. « Beide haben recht. Man muss die neue Welt – und jede einzelne Software – nur richtig nutzen, dann findet man zu neuen Umgangsformen. Und damit zu einer ganz neuen, girlandenfreien Höflichkeit.

Der MySpace-Gründer Tom Anderson sagt: »Ich hasse es zu telefonieren. Da benutze ich lieber den Instant Messenger oder verschicke SMS. Am liebsten halte ich zu zehn Leuten gleichzeitig Kontakt.« Ist das unhöflich? Im Gegenteil. Der Mann hat eben darüber nachgedacht, welche kommunikativen Bedürfnisse er auf welche Weise erfüllen möchte. Die Digitalmoderne verdirbt vielleicht die herkömmlichen »guten Sitten«. Aber sie produziert zugleich neue. Der Tratsch in der Kaffeeecke des Büros wird ersetzt durch Instant Messages, Nachrichten in Echtzeit, damit man in den mittlerweile üblichen Großraumbüros nicht die Kollegen stört. Das persönliche Gespräch, zu dem immer auch lästiger Small Talk gehörte, findet nur noch auf beiderseitigen Wunsch statt und wird im Geschäftsleben durch kurze präzise E-Mails zeitsparend vermieden. Die Eleganz eines handgeschriebenen Briefes wird abgelöst durch die Gewandtheit, mit der man von einem Medium ins andere wechselt.

Aber keine Angst, manche Dinge werden einfach bleiben, wie sie sind: Bei gesellschaftlichen Anlässen wird auch in Zukunft derjenige, der nicht nur mit seiner Digitalkamera hantiert, sondern ein charmantes Gespräch führen kann, am Ende des Abends den besseren Sex haben. Letztlich doch ein erhebender Gedanke.

Anfang Oktober erscheint im Piper Verlag Adriano Sacks neues Buch »Manieren 2.0 – Stil im digitalen Zeitalter«.