Blick zurück im Zweifel

Im Sommer 1996 wird ein deutsches Ehepaar auf einem Campingplatz in Frankreich verhaftet. Der Vater muss jahrelang ins Gefängnis, wegen sexuellen Missbrauchs seiner beiden Kinder. Das französische Gericht sieht die Taten als erwiesen an - heute denkt nicht nur die Tochter des Verurteilten anders darüber. Aber wird der französische Staat das Verfahren 13 Jahre später noch einmal aufrollen? Die Geschichte der Familie Clövers.

»Das Mädchen schrie«, steht im Polizeiprotokoll, und weiter: »Ich habe den Vater gesehen, die Bermudashorts heruntergezogen auf dem Mädchen liegend. Ich habe geschrien: Er vergewaltigt seine Tochter!« So diktierte es die Zeugin Beatrice V. am 24. August 1996 um halb vier Uhr nachmittags den Beamten in die Schreibmaschine. Das Glück kommt auf Flügeln, hat der Philosoph Voltaire geschrieben, das Unglück entfernt sich hinkend. Rudolf Clövers scheint ein Mensch zu sein, an dem das Unglück einfach ganz haften bleibt. Herzkrank, schwerhörig, einsam – und wegen Kindesmissbrauchs verurteilt: Clövers, 56, ist der Vater aus dem Protokoll, der seine Tochter auf dem Campingplatz Le Castellas in der südfranzösischen Stadt Sète vergewaltigt und seinen Sohn missbraucht haben soll. Sieben Jahre saß er in französischen Gefängnissen, jetzt will sein Anwalt den Prozess wieder aufrollen, und wenn Rudolf Clövers nur dieses eine Mal im Leben ein bisschen Glück hat, wird er vielleicht rehabilitiert. Vielleicht. Vieles spricht für seine Unschuld, und seine Tochter hat vor einem Notar ihre Aussage von damals widerrufen, die den Vater ins Gefängnis brachte. Aber: Frankreichs Justiz gibt nur höchst ungern zu, dass sie sich geirrt hat.

»Glauben Sie denn, ich würde mich mitten auf einen Campingplatz begeben und das Zelt weit offen lassen, wenn ich meine Tochter vergewaltigen wollte?«, fragt Rudolf Clövers, als Kinderschänder verurteilt, in der Cafeteria eines Kaufhauses in Saarbrücken. Er ist ein unauffälliger, mittelgroßer und zur Korpulenz neigender Mann mit sauber gestutztem grauem Bart. Die schwarze Kleidung lässt ihn blass wirken, aber er muss sie tragen: Er arbeitet als Leichenbestatter, man schickt ihn zu den ganz schlimmen Fällen – wenn der Tote hoch oben im Baum hängt oder nur noch aus einem Rumpf und ein paar blutigen Gliedmaßen besteht oder schon ein paar Wochen in einer heißen Wohnung gelegen hat, »verstehen Sie?« Das alles geht ihm ständig im Kopf um, als ob dort nicht schon genug dunkle Gedanken herumspukten. Die Haft war für ihn die Hölle, sagt er, und mehr will er dazu nicht sagen. Frankreichs Gefängnisse gehören zu den schrecklichsten in ganz Europa, regelmäßig wird das Land dafür vom Europarat gerügt. Und ein Pädophiler kann von seinen Mithäftlingen erst recht kein Mitgefühl erwarten.

Seit 2003 ist Rudolf Clövers wieder ein freier Mann, er wurde vorzeitig entlassen, wegen guter Führung. Aber was heißt schon frei, wenn einer einmal verurteilt wurde wegen sexuellen Missbrauchs der eigenen Kinder? Die Geschichte hängt an ihm wie Bleikugeln an einem Sträfling. Auch seine Frau Elke musste ins Gefängnis, 15 Monate wegen Beihilfe. Die Kinder Florian und Sabrina, damals elf und acht Jahre alt, kamen in eine französische Pflegefamilie. Vier Menschen sind seelisch verwundet worden, eine Familie ist daran zerbrochen.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Zeugin, die eine Vergewaltigung beobachtet haben wollte, "bewege sich im Bereich von Vermutungen und Spekulationen".)

Meistgelesen diese Woche:

Heute muss man sich darüber wundern, warum der deutsche Staat sich damals nicht um Rudolf und Elke Clövers kümmerte. Beide haben lange, verzweifelte Briefe an den Honorarkonsul von Montpellier und den Konsul von Marseille geschrieben, ohne Erfolg – obwohl die deutsche Justiz sie entlastete: Noch als die beiden in Untersuchungshaft saßen, im Februar 1997, kam das Amtsgericht Augsburg zu dem Schluss, dass gegen das Ehepaar Clövers »kein dringender Tatverdacht« bestehe. Die Aussagen der Kinder wären bei einem Prozess in Deutschland unverwertbar, entschied der Augsburger Ermittlungsrichter, die Zeugin, die eine Vergewaltigung beobachtet haben wollte, »bewege sich im Bereich von Vermutungen und Spekulationen«.

Doch niemand hilft ihnen. Frankreich sei ein Rechtsstaat, heißt es heute im Auswärtigen Amt, und die französische Justiz unabhängig. Dabei mischt sich Berlin durchaus ein, wenn es um prominentere Fälle geht wie den des deutschen Arztes Dieter Krombach, der in Frankreich verurteilt wurde, weil er seine Stieftochter umgebracht haben soll. Da intervenierte kürzlich das Außenministerium, als Krombach – der sich seit Jahren einer Haftstrafe entzieht – nach Frankreich verschleppt wurde.

Vielleicht liegt es ja auch daran, dass die Clövers im Sommer 1996, als das Unheil beginnt, schon alles andere als eine Bilderbuchfamilie sind, Menschen aus einem eher schlichten Milieu mit vielen Problemen: Der Vater ist wegen seiner Schwerhörigkeit und eines Herzinfarkts mit Anfang 40 Frührentner. Er ist aufbrausend und beschwert sich sofort, wenn ihm etwas nicht gefällt. Er ist übergewichtig wie auch seine Frau. Elke Clövers arbeitete als Bürokraft, kümmert sich aber seit einiger Zeit nur noch um die Kinder. Florian, ein hübscher, blond gelockter Junge von damals elf Jahren, der körperlich und geistig behindert ist, er leidet unter epileptischen Anfällen und muss wegen Darminkontinenz Windeln tragen. Sabrina, damals acht Jahre, schreit viel und streitet mit ihrem Bruder, auf den sie eifersüchtig ist.

Aber reicht es, als Familie einen leicht asozialen Anschein zu erwecken, um in den Knast zu kommen? Elke Clövers, 52, sagt immer »Knast« statt »Gefängnis« und »mein Ex«, wenn sie von ihrem geschiedenen Mann spricht, die Verhaftung ist der »Crash«. Sie hält sich heute mit Jobs einer Zeitarbeitsfirma über Wasser und lebt mit Sabrina, inzwischen 21, in Neusäß bei Augsburg, gleich hinter dem Industriegebiet. Florian wohnt, nicht weit weg, in einem Heim für Behinderte. Elke und Sabrina Clövers haben es sich in der kleinen Wohnung gemütlich eingerichtet, auf dem Sofa sitzen Plüschtiere, an den Fenstern hängen Häkelgardinen, im Anbauschrank stehen Kaffeeservice und Nippes.

Es wirkt wie der Versuch, eine heile Welt zu konstruieren, eine, in die man sich hineinkuscheln kann, obwohl es Mutter und Tochter lange nicht nach Kuscheln zumute war. Als Sabrina zwölfjährig endlich nach Deutschland zurückkehrte, war Elke Clövers zwar heilfroh, aber für das Mädchen, das sich in der französischen Pflegefamilie wohlgefühlt hatte, war es ein Schock: Sie sprach kaum mehr Deutsch, die Mutter war ihr fremd geworden. Es folgten Magersucht, Schulabbruch, Therapien und endlose Streitereien zu Hause. Mutter und Tochter wussten nicht, wie sie miteinander umgehen sollten. Heute hat Sabrina sich gefangen, sie macht eine Lehre als Bürokauffrau. Inzwischen können Mutter und Tochter auch wieder gemeinsam lachen, selbst über das Drama, das die Familie auseinandergerissen hat.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Da habe er sich vor der Tochter hingekniet und seinen Kopf ihrem genähert, um sie besser zu verstehen.)

»Also«, sagt Elke Clövers, »wir haben sicher damals auf viele komisch gewirkt.« Weil ihr Ex so schlecht hörte, hätten die Kinder oft mit den Händen gefuchtelt, damit er sah, dass sie mit ihm reden wollten. Außerdem hätten sie alle dauernd geschrien, damit er sie verstand. Aber muss deswegen eine Zeltnachbarin gleich zur Polizei gehen und ihren Mann als Kinderschänder denunzieren? »Ach, der ganze Urlaub war von Anfang an verkorkst«, sagt Elke Clövers. Sie erinnert sich an jedes noch so winzige Detail des Tages, der ihr Leben veränderte: wie sie noch zufällig am Nachmittag die Nachbarin Beatrice V. im schicken Kostüm aus der Polizeistation von Sète herauskommen sahen und sich darüber wunderten; wie sie im Zelt beim Zwiebelschneiden war, als die Polizei kam, um sie zu verhaften; wie sie noch ihren nassen Badeanzug anhatte und darüber ein »Bigshirt«, eines dieser langen T-Shirts in Übergröße, die bis über die Knie reichen.

Rudolf Clövers übrigens erzählt den ganzen Fall exakt genauso wie seine Exfrau, obwohl die beiden nach ihrer Verhaftung sofort getrennt wurden und nicht mehr reden konnten. Sie sprechen auch heute kaum miteinander, Elke Clövers reichte die Scheidung ein, während er noch seine Strafe absaß. Sie stritten damals ums Geld, er fand, sie müsse nicht ohne ihn und ohne die Kinder in der großen Augsburger Wohnung bleiben, und kündigte sie aus dem Gefängnis heraus. Das hat sie ihm nicht verziehen, und auch heute reden beide grundsätzlich schlecht übereinander. »Aber er hat den Kindern nie ein Haar gekrümmt«, sagt Elke Clövers, »in dieser Sache ist mein Ex unschuldig.«

Als sie 1996 nach Frankreich fahren, hat die Ehe längst einen Knacks, das Haus, das Elke Clövers von ihrer Großmutter geerbt hatte, war zwangsversteigert worden, die Kinder sind schwer zu erziehen. Aber Florian und Sabrina sind ihnen wichtig, sie tun alles für die beiden. Sie ziehen im Frühsommer 1996 aus dem heimischen Saarland nach Augsburg, um in der Nähe des Kinderzentrums München zu sein, wo sie eine spezielle Verhaltenstherapie für behinderte Kinder und ihre Familien machen. »Nach dem Umzug wollten wir einfach mal richtig lange Ferien machen«, sagt Elke Clövers, »sechs Wochen am Meer.«

Zunächst sind sie ziemlich allein auf dem Campingplatz, Gewitterfronten ziehen über Südfrankreich hinweg, und Florian fürchtet sich vor dem Donner. Sie wollen schon abreisen, dann bleiben sie doch. Auf der Parzelle schräg gegenüber hat inzwischen eine französische Familie mit Hund ihr Zelt aufgeschlagen. Es sind keine angenehmen Nachbarn, der Rottweiler bellt laut und macht den Kindern Angst, weil er immer wieder auf ihren Zeltplatz läuft. »Da ist mein Ex zur Rezeption gegangen und hat sich beschwert.« Zwei Tage später kommen Beatrice V. und ihr Mann mit einer Flasche Rosé und vier Gläsern und zwei Mars-Riegeln für die Kinder. Man entschuldigt sich, stößt an und macht ein wenig Small Talk. Der Fall ist erledigt.

Bis ein paar Tage später die Nachbarin sich am Nachmittag unvermittelt in ihr Zelt drängt. »Unser Zelt hatte verschiedene Abteile«, sagt Elke Clövers und zeichnet den Grundriss: Hinten links schliefen die Eltern, rechts die Kinder, vorn stand der Kocher. Sie habe gerade gekocht und ihrem schwerhörigen Mann bedeutet, dass Sabrina etwas von ihm wollte. Da habe er sich vor die Tochter hingekniet und seinen Kopf ihrem genähert, um sie besser zu verstehen. »Das hat die Nachbarin als Vergewaltigung interpretiert.«
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Stimmung damals war hysterisch, nur wenige Tage zuvor war der belgische Kinderschänder Dutroux gefasst worden.)

Rudolf Clövers zeichnet dieselbe Skizze. Er malt noch die Parzellen des Zeltplatzes und die geparkten Autos. Die Parzelle der Clövers liegt schräg gegenüber der von Beatrice V. »Sie konnte an diesem Nachmittag aber gar nicht direkt in unser Zelt schauen«, sagt Rudolf Clövers, »weil ihr Auto die Sicht blockierte.« Am nächsten Tag, es ist der 24. August 1996, gegen Abend, kommen fünf Beamte in Uniform und drei in Zivil. Eine Angestellte des Campingplatzes, die Deutsch spricht, übersetzt: Man habe sie angezeigt, wegen sexueller Misshandlung. Rudolf und Elke Clövers werden in ein Auto gesteckt und ins Gefängnis von Montpellier gebracht.

»Was ihnen im Gefängnis widerfahren ist, ist ein Fall für den Menschenrechtsgerichtshof«, ist ihr Anwalt Ralph Blindauer überzeugt. »Die Clövers wurden stundenlang in nasser Badekleidung angekettet, sie wurden nicht über ihr Aussageverweigerungsrecht informiert, der halb taube Rudolf Clövers bekam nicht das Hörgerät ausgehändigt, das ihm seine Eltern aus Saarbrücken nach Montpellier gebracht haben.« Die Stimmung damals war hysterisch, nur wenige Tage zuvor war der belgische Kinderschänder Dutroux gefasst worden, die Gesellschaft schien überall Missbrauch zu wittern. Und dann kam ein Deutscher, der sich verdächtig benahm.

Ralph Blindauer ist der Rechtsanwalt, der den verurteilten Pädophilen Clövers rehabilitieren will. Er ist keiner der Promi-Anwälte, die der Schlagzeilen wegen gern Schwerverbrecher vertreten. Seine Kanzlei im Stadtzentrum von Metz ist bescheiden eingerichtet, Blindauer arbeitet vor allem für Gewerkschaften in Lothringen und im Saarland. Vor zwei Jahren kontaktierte die Arbeitskammer Saarbrücken ihn wegen Klärung der Rentenansprüche von Rudolf Clövers, der seine Arbeitszeit während der französischen Haft angerechnet haben wollte.

Als Blindauer sich die Akten kommen lässt, ist er schnell überzeugt, dass er es mit einem gewaltigen Justizirrtum zu tun hat, so massiv sind die Ungereimtheiten: Warum hat die Zeugin die Polizei nicht früher informiert, wenn sie »regelmäßigen« sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen schon vor ihrer Anzeige beobachten konnte? Warum hat man die Aussagen der deutschen Ärzte und Therapeuten ignoriert, die trotz jahrelanger Behandlung der Familie nie Anzeichen für Missbrauch gesehen haben? Warum spielte es keine Rolle, dass Sabrina nachweislich noch Jungfrau war? Warum stehen von Florian gut konstruierte Sätze mit Dutzenden Wörtern im Befragungsprotokoll, obwohl der behinderte Junge nach Angaben seiner Ärzte kaum Sätze sprach, die länger waren als fünf
Wörter? Warum erklärte man den Kindern nicht, dass sie nicht gegen ihre Eltern aussagen müssen?

Sabrina versteht damals nicht genau, was passiert, »aber ich habe von Anfang an ein schlechtes Gewissen gehabt«, sagt sie. Sie versucht, mit ihren Pflegeeltern zu reden, aber es ist, also ob sie gegen eine Wand rennt. Zurück in Deutschland nimmt sie mehrere Anläufe, spricht mit Therapeuten. Doch erst mit 18 fühlt sie sich stark genug, ihre Aussage von damals zu widerrufen. Zum ersten Mal liest sie in der Beweisschrift, was sie und Florian damals gesagt haben sollen: »Die junge Sabrina erklärt, dass ihr Vater sie am ganzen Körper streichelt und sich auf sie legt, um mit seinem Glied in sie einzudringen.« – »Echt pervers«, findet Sabrina. »So etwas kann eine Achtjährige doch gar nicht sagen, da würde ich sogar heute noch rot werden.«
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Seit 1945 haben Gerichte nur in sieben Fällen zuvor Verurteilte nach einem Revisionsprozess für unschuldig erklärt.)

Auch Florian hat, so steht es im Urteil, sexuelle Handlungen des Vaters zugegeben, dezidiert: Analverkehr. Nach der Verhaftung wurden die Geschwister in ein Kinderheim gesteckt. »Wir wussten gar nicht, was los war, wo unsere Eltern waren, ich hörte immer nur prison.« Man sagte ihr, dass der Vater krank sei und eine Behandlung brauche. »Irgendwann habe ich auf alle Fragen nur Ja gesagt, um meine Ruhe zu haben«, sagt Sabrina. »Und der Florian hat sowieso nur zu allem Ja gesagt.« Als sie ihrer Pflegemutter einmal sagt, dass »der Papa nichts getan hat«, reagiert die abweisend: »Es muss etwas gewesen sein, sonst wäre er nicht im Gefängnis.«

Anfangs fragt Sabrina noch nach den Eltern, aber je mehr Zeit vergeht, desto mehr verdrängt und vergisst sie die Sache. Aber jetzt will sie, dass der Vater rehabilitiert wird. Obwohl die beiden sich nicht wirklich gut verstehen: Rudolf Clövers mag nicht akzeptieren, dass seine Tochter ihn damals »verraten« hat. Er sieht nur bedingt ein, dass sie ein Kind war, das man wohl manipuliert hat. Sabrina wiederum findet es anmaßend, dass ihr Vater von ihr eine Entschuldigung erwartet. So sehen sie sich nur selten, und dann kommt es immer wieder zu denselben Missverständnissen. Trotzdem will Sabrina endlich einen Schlussstrich ziehen.

Seit einem Dreivierteljahr liegt Blindauers Antrag auf Revision nun beim Kassationshof in Paris, dem höchsten französischen Gericht. Fünf Richter werden darüber in drei Tagen entscheiden, am 11. Januar, sie können im Prinzip den Antrag einfach so ablehnen – ohne Berufungsmöglichkeit. Doch Ralph Blindauer ist überzeugt, dass es zumindest zu einer Anhörung kommen wird, bei der Rudolf und Sabrina Clövers aussagen können: »Mit Sabrinas Aussage von heute, die ihren Vater entlastet, stellt sich die Beweislage von damals ganz anders dar.«

Dann allerdings müsste Frankreichs Justiz möglicherweise eingestehen, dass sie einen Fehler gemacht hat. Seit 1945 haben Gerichte nur in sieben Fällen zuvor Verurteilte nach einem Revisionsprozess für unschuldig erklärt, das Aufrollen eines Geschworenenprozesses ist überhaupt erst seit 1989 möglich. Ohnehin spricht die französische Justiz nicht von Justizirrtümern, sondern von der »Annullierung einer Verurteilung«. Dabei können natürlich selbst Frankreichs Richter irren, wie zuletzt im Fall des Kinderschänderprozesses von Outreau, bei dem 18 Unschuldige jahrelang im Gefängnis saßen, weil ein überforderter junger Untersuchungsrichter sich übereifrig gebärdete.

Und was, wenn der Antrag auf Revision doch abgeschmettert wird? »Dann stellen wir ihn ein zweites Mal«, sagt Ralph Blindauer. »Diese Familie ist nicht mehr zu retten. Aber es geht auch um ihre Ehre, und darum will ich kämpfen.« Es wird wohl ein schwieriger Kampf werden, der Kampf um ein wenig Glück für vier Menschen, denen das Leben übel mitgespielt hat.
---

(Nachtrag:

Am 11. Januar ist der Revisionsausschuss des Kassationsgerichts in Paris zusammengekommen, um sich mit dem Fall Clövers zu beschäftigen. Die Richter wollen nun prüfen, unter welchen Umständen Sabrina sich entschlossen hat, ihre Aussage von damals zu revidieren - und damit ihren Vater zu entlasten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird man Sabrina zu einer Anhörung einladen, sagt Anwalt Ralph Blindauer. Er wertet das als Zeichen dafür, dass es einen Revisionsprozess geben könnte. Darüber entscheiden wird der Ausschuss voraussichtlich am 8. Februar.)

Mit dem Fall Clövers kam Jeanne Rubner zunächst auf eher ungewöhnliche Weise in Berührung: Jemand schickte ihr einen Artikel aus der französischen Zeitung Le Monde – ohne Absender. Sowohl die Familie Clövers als auch deren Anwalt beharren bis heute darauf, den Brief nicht geschickt zu haben. Jeanne Rubner – in Frankreich aufgewachsen – interessierte sich jedenfalls sofort für den Fall, auch weil sie das Gefühl hatte, dass der Familie Unrecht geschehen war.