Im Wald, im Holzhaus (4)

Der Schriftsteller Michael Krüger begann die Therapie gegen eine Leukämie gerade, als das Coronavirus sich verbreitete. Für das SZ-Magazin schreibt er Gedichte aus der Quarantäne. Folge 4: Erinnerung als Scherbenhaufen.

Foto: Andreas Nestl

Alles, was ich durch mein Fenster sehen kann:
Eine Sonntagsidylle unter blauem Himmel,
Kinder im Schafspelz geben den Pferden Zucker,
was früher streng verboten war.
Ferien auf dem Ponyhof,
der Tod reitet mit ohne Sattel und Zaumzeug.

Ich muss leise sprechen, damit die Fliegen
mich hören. Sie werfen einen weißen Schatten,
der ängstlich über mein Fenster flattert.
Jetzt fallen die ersten Schmetterlinge aus dem Nichts
auf mein schräges Fenster, die Vögel folgen.
Die Sonne bleicht die Bücher auf dem Fensterbrett.

Viele der größten Dummheiten haben sich
über kurz oder lang als klug erwiesen,
hat ein Weiser gesagt. Aber wer ist es gewesen?
Meine Erinnerung ist ein Scherbenhaufen,
der sich nicht mehr in Form bringen lässt.
Ich picke einige Stücke heraus, halte sie
gegen das Fenster, ins Licht, und staune
über den Reichtum, den Glanz, die Pracht.
Aber es gibt keinen Anschluss, keine Fortsetzung,
kein »Bild«: die Arglosigkeit, mit der unser Weltbild
aufgebaut war und jetzt einzuknicken beginnt.
Ich stehe unter Quarantäne,
mein Immunsystem hat seine guten Tage
hinter sich. Man muss täglich neue Wörter lernen,
heute: Herdenimmunität. Mal sehen, wie lange
es sich hält. Firmament sagt auch keiner mehr.

Meistgelesen diese Woche:

Raus aus der Einfältigkeit, der unergründlichen Trauer!
Ich muss den Zaun flicken, bevor ich sterbe.
Da, wo der Efeu ihn nicht zusammenhält,
ist das Röhricht gebrochen. Die knallblauen Krokusse
auf der Wiese sehen aus wie ein Ekzem.
Mit großer Mühe werde ich wieder zum Anfänger
und preise das Unkraut, die nützlichen Idioten,
die das Leben im Garten am Laufen halten.
Das mit der Dummheit hat meine Großmutter gesagt,
Wittgenstein muss es von ihr geliehen haben,
dagegen ist nichts zu sagen.