Wahrscheinlich liegt es nur an einer kleinen Fehlschaltung im Gehirn. Jedenfalls lebe ich in ständiger Sorge, dass mir Leute begegnen, die ich kennen müsste, deren Namen ich aber vergessen habe. Diese kleine Zwangsvorstellung führt dazu, dass mir genau das andauernd passiert. Seit Monaten versuche ich, mir die vier engsten Freundinnen meiner Freundin einzuprägen: Mimi, Nini, Dea und Lena. Vergebens. Meine Freundin glaubt, ich mache das absichtlich. Außerdem, merkt sie an, heiße Nini nicht Nini, sondern Tini.
So viel zum Privaten. Und so sieht es im Beruf aus: Beti, Netti, Geli, Sophie, Stephi, Toni. Jennifer, Jeanette und Jeannette. Claudia, Clarissa, Carola und Corinna. Tina und Alina, Tanja und Nadja. Nadine aus der Grafik und Nadine aus New York. Und das sind nur ein paar meiner neuen Kolleginnen. Insgesamt stehen auf meiner Telefonliste 33 Frauennamen. Die Konferenzen verbringe ich damit, in viele hübsche Gesichter zu blicken und Namen zu memorieren. Sie sehen schon, diese Geschichte ist ein Drama. Vielleicht sollte ich erst mal erklären, wie es so weit kommen konnte. Bis vor einem halben Jahr arbeitete ich für dieses Magazin hier und meine Welt war in Ordnung. Dann rief meine Freundin Netti an. Ich hatte sie ein paar Jahre aus den Augen verloren und rechnete mit allem, nur nicht mit einem Personalgespräch. Sie sei ja inzwischen eine der Chefredakteurinnen bei InStyle. »Oh.« Ob ich nicht Lust hätte, bei ihnen als Textchef zu arbeiten. »Ah.« Ich hatte nur eine ungefähre Ahnung, was InStyle ist. »Ein Modemagazin?«, fragte ich. »Ja«, sagte Netti. »Und viele hübsche Kolleginnen. Du wirst sie lieben.« Kaum hatte ich den neuen Job angefangen, kam aus der Redaktion des SZ-Magazins die süffisante Frage, wie es denn so sei, bei einem Frauenmagazin. Noch dazu – als einziger Mann.
Zunächst einmal: Ich bin ja nicht ganz allein unter Frauen. Außer mir sind noch Michael und Andreas da. Michael achtet als Chef vom Dienst auf die Produktionstermine. Andreas sieht man nur, wenn er in der Küche einen Espresso trinkt. An den meisten Tagen steht Andreas aber so unter Strom, dass seine Haare zerzaust sind und er den Es-presso zwar kocht, aber nicht trinkt. Einmal sagte er: »Das ist, als würdest du mit 200 Sachen ungebremst in den Nebel fahren.« Bevor ich fragen konnte, was er damit meint, war er wieder weg. Zurück in der Kleiderkam-mer. Sein Job ist es, sie in Ordnung zu halten.
33 Frauen können eine Menge Unordnung machen. Fragen Sie Andreas. Bevor er anfing, sah es in der Requisite aus wie nach dem Winterschlussverkauf. Andreas installierte ein Warenwirtschaftssystem, mit dem er auch das Lager eines mittelständischen Industriebetriebes managen könnte. Jetzt wird alles akribisch verzeichnet: Für welche Produktionen was wie lange gebraucht wird und wohin es zurückmuss. Wer den Aufwand für übertrieben hält – im letzten Jahr sind mehr als 30 000 Kleidungsstücke durch sein Computerprogramm gewandert.
Weil also Andreas echt was zu tun hat und Michael auch nicht immer da ist, kommt es vor, dass ich in Konferenzen ganz allein sitze mit bis zu dreißig Frauen. Es soll ja Männer geben, die in Anwesenheit von gut aussehenden Frauen nervös werden. Ich gehöre nicht dazu. Dachte ich. Tatsächlich aber verspüre ich zunehmendes Unwohlsein, so als würde ich nicht hierhergehören, als stünde ich in der falschen Umkleidekabine. Sorry, Mädels, bin schon wieder draußen! Manchmal wird es nämlich ein bisschen peinlich: Wenn sie vergessen, dass ich da bin.
Zum Beispiel in den Beauty-Konferenzen. Die sind bekannt dafür, dass Beti, neben Netti meine zweite Chefin, und Heide, die Leiterin des Beauty-Ressorts, mit der Ausführlichkeit von Tarifparteien verhandeln, ob ein getönter Lipbalm die Kombination Lippenstift und Gloss ersetzen kann oder nicht. In welcher Reihenfolge man Schaum, Conditioner, Festiger, Spray und Wachs ins Haar gibt. Wann Concealer und wo Foundation und wie Mascara. Dass ich während dieser Diskussionen thematisch mit ihnen das Badezimmer teile, scheint sie nicht zu kümmern.
Sobald es sich um intime Themen wie Brazilian Waxing oder Hormonumstellung in der Menopause zu drehen droht, räuspere ich mich. Hilft auch das nicht, gucke ich aus dem Fenster, singe still für mich »Lalalala« und versuche, alles gleich wieder zu vergessen. Schließlich möchte ein Mann mit dem schönen Geschlecht zu tun haben, nicht mit dem verschönerten. Ich möchte Dita von Teese sehen, wie sie sich in einem riesigen Sektkelch Champagner über die Brüste gießt, keinesfalls aber, dass sie sich vorher mit Foundation und Rouge zurechtmacht und eine Palette von falschen Wimpern besitzt. Zu viele Details schaden diesem unerklärlichen Phänomen namens Frau. Zauberkünstler sollen zaubern – und nicht ihre Tricks verraten.
Für die amerikanische Zeitschrift Allure, ein Magazin, das sich einer neuen Anti-Aging-Formel mit der gleichen Akribie widmen kann wie der Spiegel dem Thema 9/11, befragte eine Autorin kürzlich ihre Freundinnen nach Beautygeheimnissen. Einer von ihnen war es gelungen, während ihrer zwölf Jahre dauernden Beziehung ihrem Mann nicht nur ihre wahre Haarfarbe vorzuenthalten, sondern auch, dass sie überhaupt färbt. So gehört sich das!
Ansonsten dringt die Erkenntnis, allein unter Frauen zu sein, einem peu à peu ins Bewusstsein. Am Nikolaustag fuhr ich mit einer fixen Idee ins Büro: Was, wenn heute einer den Weihnachtsmann spielen muss?
Wer dann wohl dran glauben muss? Gütiger Himmel! Ich sah mich bereits im Kreise meiner Kolleginnen stehen, Namen und Gesichter durcheinanderschmeißend. Hölle! Es kam nicht so schlimm. Im Büro pinnte ein Fax der Firma Vodafone, in dem der Besuch eines Weihnachtsmannes angekündigt wurde. Eigentlich eine jener PR-Aktionen, bei denen man sich denkt: Mensch, Vodafone, muss das sein? Seit dieser Aktion aber bin ich dieser Firma wirklich tief verbunden.
Mein Alleinsein wurde mir auch an dem Tag bewusst, als im Büro plötzlich eine seltsame Aufregung zu spüren war. Corinna eilte an meiner Tür vorbei, kurz darauf auch Sophie: »Corinna? Sophie?« War vielleicht gerade eine Blitzkonferenz einberufen worden? Dann hastete auch noch Alina vorbei: »Alina? Verpasse ich gerade was?« Alina machte auf dem Absatz kehrt und starrte in mein Zimmer: »Ja, hast du es denn nicht mitbekommen?!« In ihren Augen – war das Panik? »Heute ist doch …«, sie holte tief Luft, »… BIE-JUH-TIE-BAA-SAR!« Wie kann man nur so ignorant sein und das nicht mitbekommen!
Bei dem sogenannten »Beauty-Basar« handelt es sich um eine redaktionsinterne Verkaufsveranstaltung. All die Bodylotions, Peelings, Cremes und Anti-Aging-Kuren, welche die PR-Abteilungen der Kosmetikindustrie in die Redaktion spülen, werden für kleines Geld verkauft und der Erlös gespendet. Ich aber verbrachte meinen ersten Beauty-Basar lieber allein im Büro. Da hatte ich noch keine Ahnung, dass es sich dabei um das gesellschaftliche Ereignis schlechthin innerhalb der Redaktion handelt. Tagelang Gesprächsthema: Wer was ergattert hat. Wer wem was mitbringen muss. Vor allem: Dass man sich ja eigentlich aus dem ganzen Kosmetikkram überhaupt nichts macht.
Und dann war da noch jener Tag, an dem ich mich auf der Toilette erschrocken habe. Ich gehe aufs Klo und da steht: ein Mann. Vermutlich ein Bote, jedenfalls erinnerte mich der Fremde daran, dass ich mich bereits an die zwei Urinale und zwei Kabinen für mich allein gewöhnt habe. Und daran, dass auch die Handcreme über dem Waschbecken nur für mich dort stehe.
In der Tat: Auf die Herrentoilette hat jemand Handcreme gestellt. Eine Dose Florena. Wenn ich mich recht erinnere, war das die Kosmetik der untergegangenen DDR, eine Marke also, die stilsichere Ladys nicht mal für die Füße hernehmen würden. Die Creme auf dem Klo ist als höfliche Geste an den seltenen männlichen Besucher gemeint. Aber mit der Wahl der Marke muss noch ein Subtext verbunden sein. Allerdings einer, den ich nicht verstehe.
Gucci. Prada. Yves Saint Laurent. Versace. Louis Vuitton. Viel mehr Modelabels wollen mir nicht einfallen. Durchschnittliche Anzahl der Labels in einer Ausgabe von InStyle: 250 bis 300. Kollegin Alina kennt alle. Wann immer auf einer der Seiten, die ich druckfertig mache, eine Information fehlt, gehe ich zu ihr. »Das ist Nina Ricci.« Oder: »Das ist die Paddington von Chloé.« – »Es gibt Handtaschen, die einen Namen haben!?« Inzwischen kann Alina meine Gedanken lesen. Kürzlich legte ich nur Daumen und Zeigefinger um mein Handgelenk, da hatte sie schon »Bettelarmbändchen« gesagt.
Die Kommunikation mithilfe der Kleidung ist eine, an der ich nicht teilhaben kann. Es fühlt sich an, als würde mir das Sinnesorgan dazu fehlen. Ameisen reden miteinander mithilfe von Pheromonen und Vibrationszeichen. Bei meinen Kolleginnen stelle ich es mir so ähnlich vor. Die Mode, so viel habe ich begriffen, ist ein Themenfeld, so weitläufig und feingeistig wie, sagen wir, die Oper. Hübsch anzusehen, auch wenn man nicht alles versteht, was da gesungen wird. Und sie ist auch nicht immer ein Spaß. Es gibt nämlich auch Dramen bei den Damen.
Im Zimmer nebenan arbeitet Kollegin Tannaz. Sie hat eine Jobbeschreibung in Englisch, Senior Contributing Head of Photo Production Editor oder so ähnlich. Tannaz scheint für jeden Tag der Woche eine eigene Sprache zu haben; sie spricht Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Farsi. Und wenn sie aufgeregt ist, alles gleichzeitig. Kürzlich war sie aufgeregt. Ein Fotograf hatte eine Geschichte in den Sand gesetzt: Eine Produktion im Wert von 20 000 Euro war reif für den Schredder. Und alles nur, weil das Mädchen auf den Fotos nicht lachte. Hat Tannaz etwa den Fotografen beschimpft? Nein, viel schlimmer: Sie hat seine Arbeit beweint. Sie weinte, weil das Mädchen nicht lachte. Ich war an diesem Tag froh, Texter und kein Fotograf zu sein und vor allem: keinen Scheiß gebaut zu haben.
An diesem Tag wurde mir klar, dass die Produktion eines Modemagazins kein Chichi ist. So leicht, wie dieses Magazin daherkommt, so schwer ist es herzustellen. Jeden Morgen, wenn ich aus dem Aufzug trete, fällt mein Blick auf ein Kunstwerk eines gewissen Wolf Vostell aus dem Jahr 1968. Die Collage zeigt einen Bomber in Schwarzweiß. Er fliegt durch die Luft und dort, wo Bomben fallen, hat der Künstler Lippenstifte hingeklebt.
Apropos Bomben. An dieser Stelle des Textes sollten ursprünglich ein paar nette Zeilen über Chefin Netti stehen. Sie mussten leider der Zensur zum Opfer fallen. Das kam so: Meine Chefin Beti hatte mich um eine Vorversion des Textes gebeten, um sicherzugehen, dass ich nichts Unhöfliches schreibe. Schon okay. Kaum hatte Beti den Text, wollte ihn natürlich auch Netti. Dann kam ganz lange nichts. Eines Morgens klingelte das Telefon. Netti war dran: Sie fühle sich ja geschmeichelt, dass sie so ausführlich in dem Text vorkomme, und im Vertrauen: Beti sei verschnupft, weil über sie weniger zu lesen sei. Aber das alles wäre ja viel zu lieb! Die Leser vom SZ-Magazin wollen doch wissen, wie gemein es in so einer Frauenredaktion zugeht, dass nur die Hübschesten und Dünnsten mit auf die Modenschauen dürfen, denn Dünnsein ist hier das Pfund, mit dem man wuchern kann. Und es sei ihr auch egal, wenn über sie jemand schlecht redet! Sie wisse ja, was für einen Ruf sie hat, und überhaupt wünsche sie mir mehr männliche Hormone beim Schreiben. Au weh!
Über Netti zu nett geschrieben, über Beti zu wenig. Beziehungsweise zu viel, denn Beti wiederum meint, dass Netti da komplett falsch liege, ihr wäre es am liebsten, sie würde überhaupt nicht auftauchen. Dabei liest man doch immer, wie leicht er ist, der Umgang mit Frauen in Führungspositionen.
Neulich war übrigens wieder: Bie-juh-tie-baa-sar! Dieses Mal wollte ich dabei sein. Ich kam extra fünf Minuten früher. Leider war da bereits alles vorbei und die besten Sachen weg. Ich kramte fleißig in den Kisten herum. War gar nicht so leicht, die eine oder andere Kollegin dezent abzudrängen. Ich erstand Cremes, Masken, ein Peeling-Set und zwei Fläschchen Irgendwas zum Abschminken. Das Ganze verteilte ich im Freundinnenkreis. Ganz neue Erfahrung: Die Girls drehen durch, wenn man ihnen Kosmetik schenkt! Für mich behielt ich bloß eine Bodylotion, die aussieht wie ein Vanillepudding mit dem Aroma von Kokos und Zitronengras. Wenn man es nach dem Duschen auf die Haut tut, riecht man wie eine gute Tom Kha Gai.
Die letzten Berührungsängste mit der Kosmetik baute ich im »Hautnah«-Spa von Beck ab. Meine alte Freundin Kerstin hatte mir zum Geburtstag ein »Men’s Facial« geschenkt: Mit einer »Duftreise« zu Beginn, bei der sich zeigte, dass ich der »Wasser-Typ« bin. Mit heißen Tüchern, duftenden Gesichtstoniken und Maske. Und mit einer Behandlungsliege, die zehn Zentimeter zu kurz war.
Seien wir ehrlich: Ich reife zur Frau. Nicht, dass ich das wollte. Ich habe nur aufgegeben, mich gegen den schleichenden Prozess der Verweiblichung zu wehren. Neben dem Men’s Facial habe ich zum Geburtstag noch ein Kochbuch und die Taschenbuchausgabe von Der Teufel trägt Prada bekommen. Im Job lese ich nur noch Frauenmagazine: Elle, Vogue, Tatler, Harper’s Bazaar, Petra, Glamour, Gala, Bunte. Zermürbend auch die Aktionen der PR-Agenturen, die mir Produktproben ins Büro schicken, mit denen das letzte bisschen Mann in mir nicht viel anfangen kann: Bosch schickt einen eleganten Honiglöffel. Tupperware ein praktisches Pizzarollmesser. Die Weight Watchers zwei Rollen Lutschbonbons. Swiffer ein Putzset. Und Henkel eine Blechdose in Form einer Waschmaschine. Darin ein Stück Stoff – eine Einladung zu einer Matinee: Persil feiert Geburtstag.
Während Netti und Tannaz zu den Schauen nach Mailand und Paris jetten, werde ich von Persil am Stachus in München erwartet. So ist das in diesem Weiberhaufen namens InStyle: Michael passt auf, dass alle pünktlich sind. Andreas räumt auf. Und ich kümmere mich um die schmutzige Wäsche.
Kürzlich ging für Michael eine Glückwunschkarte im Büro herum. Man reichte mir die Karte zum Unterschreiben, dazu Glitzerstifte in Blassgrün, Violett und Rosa. Glitzerstifte! Ich wählte den grünen. Über der Karte stand in Großbuchstaben: »Alles Liebe zum Geburtstag! Deine InStyle-Mädels!« Ich unterschrieb.