Der Mann fürs Leben

Vor zehn Jahren wurde in Deutschland die Homo-Ehe erlaubt. John und Alfred gehörten zu den Ersten, die "Ja" sagten. Ein Gespräch über die eine, die ganz große Liebe.

Seit 48 Jahren sind John Günther und Alfred Kaine zusammen, 1999 durften sie endlich heiraten.
S
Z-Magazin: Herr Kaine, Herr Günther, herzlichen Glückwunsch! Sie feiern in Kürze Ihren zehnten Hochzeitstag.
Beide:
Vielen Dank!

Sie sind seit 48 Jahren ein Paar. Hatten Sie immer den Wunsch zu heiraten?
John Günther: Vom ersten Tag an. Es war unser Traum. Wir haben so lange auf diese offizielle Anerkennung gewartet.Sie gehörten zu den ersten homosexuellen Paaren, die 1999 die sogenannte Hamburger Ehe eingingen. Was hat sich mit Ihrer Hochzeit verändert?
Günther:
Ich empfand sie als eine Art Wiedergutmachung für all das, worunter wir jahrzehntelang gelitten haben.

Was war das Schlimmste?
Alfred Kaine:
Die ständige Demütigung.
Günther: Für viele Menschen sind Alfred und ich in erster Linie das homosexuelle alte Paar. Ich wäre so froh, wenn stattdessen jemand über mich mal denken würde: "Hat der aber eine komische Brille."

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Wie war Ihre Hochzeit?
Günther:
Wir haben am 8. Oktober 1999 in einem kleinen Kreis im Standesamt Eimsbüttel geheiratet. Und ein zweites Mal im Herbst 2001 – als die rot-grüne Regierung die Homo-Ehe auf Bundesebene einführte und die Hamburger Ehe damit überflüssig wurde.

Fühlen Sie sich damit hetero-sexuellen Paaren gleichgestellt?
Günther: Jedenfalls mehr als zuvor.Kaine: Ich lag 1972 im Krankenhaus. Die Ärzte haben sich schlichtweg geweigert, John zu erzählen, wie es mir geht. Ich musste die Ärzte erst von der Schweigepflicht befreien. Als ich dann 2007 am Herzen operiert wurde, akzeptierte man uns von Anfang an als Paar, John war bei allen Untersuchungen und Gesprächen dabei. Dafür quäle ich mich jetzt im Alter mit der Frage: Was passiert mit meinem geliebten Partner nach meinem Tod? Bei meinem ehemaligen Arbeitgeber gilt die Klausel, dass Witwer nur die Hinterbliebenenrente bekommen, wenn das Paar bereits fünf Jahre vor der Pensionierung verheiratet war. Ich bin 1993 in Rente gegangen, wir durften aber erst 1999 heiraten. Ich kämpfe täglich dafür, dass wir trotzdem noch den Anspruch darauf erhalten.

Erinnern Sie sich, wann Sie sich das erste Mal auf der Straße geküsst oder irgendwo eng umschlungen getanzt haben?
Kaine:
Das war auf Mykonos, Anfang der Siebzigerjahre.
Günther: Aber Alfred, das war damals eine Ausnahmesituation auf dieser Insel. Erst Ende der Neunzigerjahre haben wir uns am Hamburger Hauptbahnhof einen Abschiedskuss gegeben.

Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?
Günther:
Ich komme aus Stuttgart und war mit zwei Männern befreundet, die in einer offenen homosexuellen Beziehung lebten – das war für 1961 sehr ungewöhnlich. Alfred war bei ihnen zu Besuch, und ich sah ihn auf dem Balkon stehen. Die Sonne blendete mich, ich erkannte nur den Umriss eines Mannes, aber ich wusste sofort: Das ist der Mensch, mit dem ich alt werden will.

Also war es Liebe auf den ersten Blick?
Günther:
Ja. Als er gehen wollte, nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte: "Ich suche so sehr einen Freund. Könnte ich Sie wiedersehen?"
Kaine: Und ich dachte nur: Was für eine provinzielle Person! Er trug Knickerbockers und humpelte an einem Stock, weil er seinen Fuß gebrochen hatte. Aber ich musste dauernd an ihn denken. Also habe ich ihn angerufen. Nur wenige Tage später wussten wir, dass wir für immer zusammenbleiben wollen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Familien der beiden mit der Homosexualität umgegangen sind.

Herr Kaine, Sie sind in Philadelphia geboren, haben in New York und San Francisco gelebt. Was haben Sie überhaupt in Stuttgart gemacht?
Kaine:
Ich habe als Pianist beim Ballett gearbeitet. 1961 bekam
ich ein Angebot von Friedelind Wagner, der Schwester von Wolfgang und Wieland Wagner. Sie hatte eine Meisterklasse für Musikstudenten. So verbrachte ich den Sommer in Bayreuth, doch Friedelind ließ uns mitten in der Nacht sitzen und nahm die Gelder mit, die die Studenten ihr für die Zimmermieten gegeben hatten. Über einen Agenten bekam ich später einen Job beim Choreografen John Cranko, dem Balletchef der Württembergischen Staatsoper in Stuttgart.

Mit John Cranko zu arbeiten war sicher großartig, aber in Stuttgart als Homosexueller zu leben war schwierig, oder?
Günther:
Oh ja. Wir erlebten eine Demütigung nach der anderen, vor allem was die Wohnungssuche betraf. Irgendwann hatten wir nur noch Tage, bis wir auf der Straße stehen würden. Da lernten wir die Frau eines Architekten kennen, die eine freie Wohnung hatte. Sie selbst lebte in einem Bungalow. Sie empfing uns in einem goldenen Hosenanzug,
angelehnt an einen weißen Flügel, im Garten schimmerte der Swimmingpool.
Kaine: Sie fragte: "Arbeiten Sie bei der Oper?" Wir antworteten: "Ja." – "Sind Sie Ausländer?" Wir: "Ja." – "Sind Sie ein Paar?" Wir: "Ja." – "Sie dürfen meine Wohnung haben."

Hat man Sie damals eigentlich je bedroht?
Kaine: Ein Nachbar hat 1962 versucht, uns zu denunzieren.
Günther: Er mochte uns von Anfang an nicht. Unglücklicherweise grenzte seine Wohnung direkt an unsere. Er hat von der ersten Minute an mitbekommen, dass da zwei Homosexuelle wohnen. Er hat jedem Bewohner eine Petition in die Hand gedrückt. Darin stand, dass wir für diese Straße untragbar seien und entfernt werden müssten. Zum Glück hat niemand unterschrieben.

Wussten Ihre Familien von Ihrer Beziehung?
Günther: Ich dachte, meine Mutter wüsste längst, dass ich homosexuell bin. 1961, da war ich 26 Jahre, besuchte mich Alfred, ich wohnte im Dachgeschoss meines Elternhauses. Die Wände waren wohl sehr hellhörig. Am nächsten Morgen sagte nämlich meine Mutter zu mir: "Ich wünschte, du lägest tot vor mir auf der Erde, dann könnte ich wenigstens weinen." Und mein Vater meinte: "Wenn ich mir vorstelle, was du tust, dann ekelt es mich so, dass ich dich nicht mehr berühren will. Du solltest die Stadt verlassen und deinen Namen ändern."

Und? Sind Sie gegangen?
Günther: Ja, ich hatte drei Jahre lang überhaupt keinen Kontakt zu meinen Eltern.
Kaine: Sie müssen wissen: Ich bin Jude. Und Johns Vater nannte mich damals die jüdische Rache am armen deutschen Volk.
Günther: So fing unser gemeinsames Leben an.

Haben Sie sich mit Ihrer Familie irgendwann versöhnt?
Günther: Ja, aber der Bruch war bis zuletzt spürbar. Keiner hat sich bei mir entschuldigt. Meine Mutter hat sich sogar bis zum Schluss für mich geschämt. Sie hat den Pastor, der sie in den Tod begleitet hat, so gegen Alfred aufgebracht, dass er ihm bei ihrer Beerdigung nicht einmal die Hand gegeben hat.

Und wie war das mit Ihrer Familie, Herr Kaine?
Kaine: Meine Mutter war schon tot, und mein Vater hat sich mit meinen Freunden, die er kennenlernte, gut verstanden.

Damals, Anfang der Sechzigerjahre, gab es ja noch keine schwule Community. Wie sah Ihr Alltag zu der Zeit aus?
Günther:
Wir haben uns nie versteckt. Es gab viele homosexuelle Paare, die beispielsweise im gleichen Haus zwei Wohnungen nebeneinander hatten und eine Wand durchbrachen, um zusammen leben zu können. Solche Dinge erleben wir bis zum heutigen Tag.
Kaine: An unserer Wohnung standen vom ersten Tag an beide Namen am Klingelschild. Das wissen ja viele heute gar nicht mehr: Bis 1969 sind 140 000 Männer wegen des Paragrafen 175 verurteilt worden, Homosexualität wurde mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. 1969 ist der Paragraf erst entschärft worden und galt noch bis 1994 für Sex mit Männern unter 18 Jahren.
Günther: Wenn ein Mann damals den Mut oder viel mehr die Verzweiflung hatte, in eine Bar für Homosexuelle zu gehen, dann zitterte er jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete: Ist das die Polizei?

Haben Sie je eine Razzia mitbekommen?
Günther: Nein. Wir hatten immer Glück.

In Ihrer Jugend in den Fünfzigerjahren galt Spießigkeit als Tugend. Hatten Sie Angst, als Sie merkten, Sie sind nicht heterosexuell?
Günther: Ich habe mit 13 meine erste sexuelle Erfahrung gemacht, das aber nie als »anders« begriffen. 1949 wollte ich wissen, was mit mir los sein könnte, und habe im Brockhaus unter dem Begriff »Homosexualität« nachgeschlagen. Dort las ich: »Unzüchtige, abartige Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts« und begegnete dort auch zum ersten Mal dem Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch. Das bedeutete: Ich war von Natur aus kriminell. Ich war fassungslos. Die Zahl 175 ist seither meine Horrorzahl. Einmal bekam ich beim Kauf eines Handys die Vorwahl 0175. Das ging gar nicht.

Wie war das bei Ihnen, Herr Kaine?
Kaine: Ich wusste schon als kleiner Junge, dass ich homosexuell bin. Ich hatte einen Freund, Robby. Wir liebten uns. Wir dachten, wir wären die Einzigen auf der Welt, die nicht normal sind. Mit 16 Jahren habe ich mir dann gesagt: Ich bin kein Mensch zweiter Klasse.
Günther: Alfred war so mutig. Ich hingegen leider gar nicht. Das Doppelleben hat mich damals deformiert: Zum einen hatte ich tobende Lust auf Sex mit Männern, zum anderen große Angst und Schuldgefühle. Alfred hat mir erst später den aufrechten Gang beigebracht.

Woher kam Ihr Selbstbewusstsein?
Kaine: Natürlich habe ich mich manchmal ausgestoßen, allein und schäbig gefühlt, aber ich bin ja nicht der einzige Homosexuelle auf der Welt. In unserer Familie wurde in fiesester Weise von Schwuchteln und Tunten gesprochen. Homosexuelle waren fragwürdige und verdorbene Charaktere. Trotzdem war ich schnell überzeugt, dass es nicht mein Problem ist, was die Menschen dachten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was die beiden von den Politikern Klaus Wowereit und Guido Westerwelle halten.

John Günther, 74, und Alfred Kaine, 81, sind seit dem 4. November 1961 ein Paar. Erst 38 Jahre später konnten sie sich ihren großen Wunsch erfüllen - endlich heiraten.

Sie beide benutzen immer das Wort »homosexuell«, aber nie »schwul«. Warum?
Günther:
Die Bedeutung des Wortes »schwul« hat sich im Laufe der Jahre sicher geändert. Ich empfand es lange als beleidigend. Aber ich bin nun 74 Jahre alt und ab und zu zwinge ich mich, auch mal »schwul« zu sagen.

Klaus Wowereit rief im Juni 2001 auf dem Landesparteitag der SPD: »Ich bin schwul – und das ist auch gut so.« Bedeutet Ihnen dieser Satz etwas?
Kaine:
Wäre ich dort gewesen, hätte ich ununterbrochen »Bravo!« gerufen.
Günther: Am liebsten hätte ich ihn dafür umarmt!

Was halten Sie von Guido Westerwelle, der jahrelang nichts zu seinem Privatleben sagte?
Kaine:
Die FDP hat damals mit der CDU gegen die Homo-Ehe gestimmt. Das sagt, glaube ich, alles.
Günther: Ich empfand sein Verhalten als heuchlerisch. Ich erinnere mich an eine seiner Bundestagsreden, in der er sagte, die FDP wäre gegen die Homo-Ehe, weil ihr die Rechte der Homosexuellen noch nicht weit genug gehen würden. Statt das Angebot anzunehmen, hat er das ganze Gesetz abgelehnt.

Heterosexuelle Paare versprechen sich immer noch Treue, bis dass der Tod sie scheidet. Gilt das Gleiche auch für Sie?
Günther:
Ich finde es unmenschlich, dass sich jemand dazu verpflichten soll, nie wieder mit einem anderen sexuelle Träume erleben zu dürfen. Je mehr diese Dinge in Absprache liberal gehandhabt werden, desto größer die Chance auf ein beständiges Zusammenleben.

Hatten Sie beide jemals Sex außerhalb Ihrer Beziehung?
Günther:
Ja. Ich glaube, ein Punkt, in dem sich homosexuelle von heterosexuellen Ehen erfreulicherweise unterscheiden, ist, dass ein sexuelles Erlebnis außerhalb der Beziehung keine Katastrophe darstellt. So etwas gehört zum Alltag und muss nicht zum Bruch führen.

Haben Sie Regeln untereinander vereinbart?
Kaine:
Jeder von uns hatte immer die Erlaubnis, einen Tanz außerhalb der Reihe zu tanzen. Aber dadurch, dass es nicht verboten war, kam es auch nicht oft vor.
Günther: Mein Neffe hatte einen One-Night-Stand und hat es seiner Frau erzählt. Jetzt droht die Ehe an dieser Lächerlichkeit zu zerbrechen. Ich finde es traurig, dass man wegen so etwas gleich das große Ganze in Frage stellen, ja ruinieren kann.

Wäre diese sexuelle Freiheit etwas, was heterosexuelle Paare von homosexuellen lernen könnten?
Günther:
Ein entschiedenes: Ja! Wenn es eine Botschaft von uns gibt, dann ist es diese.

Hat Aids Ihr Leben verändert?
Günther: Von Aids habe ich das erste Mal in der Zeitung gelesen. Mitte der Achtzigerjahre dachte ich, das wird uns nie betreffen. Wir planten gerade eine Reise nach San Francisco und ein befreundeter Arzt erklärte uns, wie wir uns vor Aids schützen könnten. Er nahm uns jede Lust, aber damit hat er uns wahrscheinlich das Leben gerettet.

Was muss heute noch getan werden, damit Homosexuelle gleichberechtigte Beziehungen führen können?
Kaine:
Ich wünsche mir, dass die Religionen Homosexualität nicht mehr verdammen. Außerdem gibt es noch rechtliche Unterschiede für gleichgeschlechtliche Ehen, zum Beispiel im Steuerrecht oder was die Hinterbliebenenversorgung angeht.
Günther: Aber wissen Sie: Wir haben eine unheimliche Spannweite erlebt: von dem Schockerlebnis mit dem Brockhaus über die immer größer werdende Toleranz bis hin zur eingetragenen Lebenspartnerschaft. Wir können wirklich froh sein.

Homosexuelle Paare können gemeinsam kein Kind adoptieren. Gibt es Momente, in denen Sie bedauern, keine Kinder zu haben?
Günther: Es muss etwas Wunderbares sein, Kinder zu haben. Vielleicht bleibt das die größte Lücke in unserem sonst sehr erfüllten Leben.
Kaine: Ich sage mir immer: Wer ist schon hundertprozentig glücklich? John ist der Mensch, der sich die Mühe gemacht hat, mich zu verstehen. Mit ihm will ich abends zu Bett gehen und neben ihm morgens wieder aufwachen. Bis zum Ende. Ist das nicht schön?

Fotos: Joachim Baldauf