Seinen jüngsten Sohn bekam Carlos Benede nach einem Anruf der Mordkommission. Es war ein Mittwoch, kurz vor Mitternacht; Benede war fast im Bett. Als er abhob, schalteten sie ihn zur Kripo auf. Stumm hörte er, was geschehen war. Eine Mutter. Ermordet vom Vater. Wenig später waren die Streifenwagen da, eine Kollegin trug den Kleinen herein. Er schlief. Benede bettete ihn in sein Schlafzimmer und schickte alle fort. Allein saß er an der Seite des Kindes und wachte.
Seine Freunde sagen, Carlos Benede sei ein Bauchmensch. Einer, der Entscheidungen nur aus dem Gefühl heraus treffe. Das stimmt nicht. Manche Entscheidungen muss Benede erkämpfen. Er sagt dann, da müsse er mal eine Nacht drüber schlafen. Er schläft nie in diesen Nächten.
Als der Morgen graute, fand Benedes ältester Sohn seinen Vater im Sessel, schlaflos. Sie sprachen nicht viel. Noch in der Nacht hatte Benede den Sohn geweckt und gesagt, du, da ist einer, dem ist dasselbe passiert wie dir. Mehr hatte er nicht sagen wollen, weil er Angst hatte, was seine Worte aufwühlen würden. Jetzt saßen sie da und warteten. Draußen ging die Sonne über Dachau auf. Dann wurde der Kleine wach.
Carlos Benede ist fünfzig Jahre alt, ein Mann von aufrechter Haltung und herzhafter Art. Auf flüchtigen Blick wirkt er wie ein Mensch aus der Fremde, Amerikaner vielleicht. Dann macht er den Mund auf und man hört München, wie es einmal war. Benede spricht ein Bairisch, so derb und sanft, wie es in der Stadt weitgehend ausgelöscht ist. Wenn die Jungen, die ihm die Ämter als schwer erziehbar schicken, Benede das erste Mal sehen, können sie kaum glauben, dass er ein Bulle ist.
Er war erst Ermittler, Rauschgift. Dann lange Kripo. Jetzt E3, die Abteilung Einsatz in der Ettstraße, Sitz des Münchner Polizeipräsidiums. Aber nur noch halbtags. Er ist alleinerziehender Vater. Er hat zwei Adoptivsöhne, ein gutes Dutzend Jugendliche mehr, um die er sich sorgt, und vor einem Jahr ein Haus eröffnet, das Kindern eine Heimat sein soll, die sonst keine haben. Er findet, das sei er seinem Leben schuldig.
Benede kam auf Umwegen zur Polizei. Er war weit über zwanzig, ein Stenz mit einer Gitarre. Er hatte Musikunterricht gegeben damals, in einem Jugendtreff. Ein Schüler war der Sohn eines Kriminaldirektors, der sich diesen Benede mal ansehen wollte, der Meuten junger Burschen mit Musikstunden zu bändigen wusste. Er überredete Benede, ein Altanwärter zu werden, so nennt die Polizei ihre Spätberufenen.
Monate zuvor war die Mauer gefallen, im Osten standen die Grenzen offen, die Polizei verzeichnete einen Boom im überörtlichen Handel mit Betäubungsmitteln. Benede sah nicht aus wie ein bayerischer Kriminalbeamter, das machte ihn kostbar. Sie setzten ihn als verdeckten Ermittler ein. Benede spricht nicht über diese Zeit, ist ihm verboten.
Nach sechs Jahren hatte er genug. Dauernd im Einsatz. Nicht drüber sprechen dürfen. Die Beziehung im Eimer. Er wechselte an die Ettstraße, zur Münchner Polizei. Nun suchte er Drogen nicht mehr im Ausland, sondern draußen in Riem, wo auf den Raves am alten Flughafen immer irgendeiner auf Pille Techno tanzte. Er nahm die Umstellung nicht leicht. Bislang hatte er nur die Brocken erledigt, organisiertes Verbrechen oder mal einen Deppen, der sich für schlau hielt. Jetzt hatte er Jugendliche, gerade volljährig, die zwar dealten, aber vor allem selbst drauf waren. Seine Vorgesetzten spürten seine Zweifel. Carlos, schärften sie ihm ein, Sie sind kein Sozialarbeiter. Sie sind Kripo-Mann. Benede war ein guter Polizist. Er tat seine Pflicht. Als er ankündigte, aus dem Polizeidienst ausscheiden zu wollen, sagte der Chef, er solle noch warten, es werde gerade ein neues Kommissariat aufgebaut, genau das richtige für einen wie ihn. So kam Benede zu K 314.
In jenen Jahren erlebte die Polizei einen Wandel. Einst war die Arbeit einfach gewesen: Im Zentrum stand der Täter und seine Tat. Die andere Seite eines Verbrechens, das Opfer, spielte kaum eine Rolle, und wenn, dann als Zeuge. Manchmal vernahmen Ermittler Menschen, die einen Mord beobachtet hatten, noch im Schock. In München beschloss man Ende der Neunzigerjahre, ein eigenes Kommissariat zu schaffen für Prävention und Opferschutz. Hartgesottene Einsatzkräfte taten die Idee als Traumtänzerei ab. Prävention, das war doch das Kasperltheater, mit dem die Verkehrserziehung durch die Grundschulen tingelte. Opferschutz? Sie verspotteten das neue Kommissariat als Kuschelpolizei. Benede war es egal.
Er genoss die Freiheit, die sich am Anfang auftat. Alles war neu, für Mitgefühl sah die Dienstvorschrift keine Muster vor. Benede handelte aus dem Bauch heraus. Er übernahm schwere Fälle. Übergriffe. Häusliche Gewalt. Sexuellen Missbrauch. Abgründe waren seine Arbeit. Er stellte fest, dass er eine Ader dafür hatte.
Wer Benede trifft, erlebt einen unsteten Mann. Alles an ihm ist aufrichtiges Lachen, aber er hat etwas Flüchtiges. Er hält selten inne. Er scheint stets auf dem Sprung. Wenn er sich aber einmal entschließt, einen Menschen anzuhören, ist Benede ganz und gar bei ihm. Im Grunde hört er mit den Augen zu. Bei K 314 war Benede bald eine Kraft. Menschen vertrauten ihm.
Er ging mit Opfern zu Gericht und beschützte sie, wenn sie sich aus dem Leben mit ihren Peinigern lösten. Er machte die Erfahrung, dass manche Menschen in Angst und Leid Ertrinkenden gleichen. Sie schlugen um sich, und wenn er sie weit draußen erreichte, musste er achtgeben, dass er nicht selbst absoff, wenn sie sich an ihn klammerten. Es gab Hilfe. Einmal im Monat sahen die Polizeipsychologen Supervision vor.
Wie bildet man Vertrauen bei einem Buben, der nachts vom Lärm eines Streits erwacht, in die Küche tappt und seine Mutter tot sieht?
Benede schätzt Psychologen nicht besonders. Einmal, er war noch Ermittler, schickten die Vorgesetzten alle zu einer Schulung, Verhalten in Konfliktsituationen, Deeskalation rauf und runter. Wochen später erkannte Benede einen Referenten in der S-Bahn, als ein Rudel Jugendlicher laut Musik hörte. Der Mann ging hin und bat, die Musik leiser zu stellen. Sie musterten ihn und sagten: Was willst du, du Wichser? Der Mann verschwand ohne ein weiteres Wort im nächsten Wagen. Damit war er für Benede erledigt. Benede mag Menschen nicht, die es sich in Theorien gemütlich machen und vor Taten scheuen. Alles Schwätzer. Aber die Supervision, die achtete er. Reihum erzählte jeder die Fälle, die ihn nachts jagten.
Es war ein Abend vor 14 Jahren. Eine Frau hatte die Polizei gerufen, ihr getrennt lebender Mann drohe ihr. Man positionierte zwei Zivilstreifen vor dem Mietshaus. Der Mann drang dann durch die Tiefgarage ein. Am Morgen bekam Benede den Fall auf den Schreibtisch, seine Kollegen schreckten davor zurück. In der spröden Sprache seines Amtes hatte er nun vertrauensbildende Maßnahmen anzusetzen und durchzuführen. Aber wie bildet man Vertrauen bei einem Buben, der nachts vom Lärm eines Streits erwacht, in die Küche tappt und seine Mutter tot sieht?
Die Erfahrungen bei K 314 verbinden Benede und seine Kollegen bis heute. Sie haben einen Verein gegründet, Polizisten, Rechtsanwälte, Pädagogen gemeinsam: »Weitblick Jugendhilfe e. V.« Sie hatten den Traum, ein eigenes Jugendheim zu eröffnen, für Fälle, die sonst niemand aufnehmen will. Das Haus ist ein altes Hotel, das »Aurora«, im Osten Dachaus. Anfang des vergangenen Jahres haben sie aufgemacht. Jetzt leben 24 Kinder und Jugendliche dort, Benede ist fast jeden Tag nach dem Dienst da. Er sagt, wichtig sei Respekt. Seiner für sie. Ihrer für ihn. Der Rest ergebe sich dann. Er findet, Vertrauen könne man nicht bilden. Vertrauen wächst.
Um damals den Bub zu treffen, zog Benede zuerst seine Uniform an. Gewöhnlich trug er Zivil, wie bei der Kripo üblich. Wenn Kinder Opfer waren, nie. Sie fassten schneller Vertrauen, wenn er aussah wie ein Schutzmann. So holte er den Jungen ab. Es war Frühling. Sie bretterten im Streifenwagen mit Blaulicht nach Schwabing, Eis essen. Es war ein Anfang.
Als ein Jahr später der Prozess gegen den Mörder begann, wünschte der Junge, zwölf Jahre alt, jeden Tag dabei zu sein. Alle rieten ab. Benede setzte es durch. Er hatte den Jungen das Jahr über begleitet. Sie waren gemeinsam in Stadelheim gewesen, im Gefängnis, weil der Junge dem Vater eine Frage stellen wollte: Warum? Er hatte Benede gesagt, er müsse das tun. Als er als Zeuge aussagte, ragte er kaum über den Zeugenstand. Aber seine Stimme war fest. Das Urteil lautete lebenslänglich.
Nach dem Prozess erhielt Benede eine Einladung ins Jugendamt. Der Beamte dort war ein alter, kundiger Herr; Benede fragte sich, was der Kauz wollte. Der Beamte brachte seinen privaten Tee mit ins Amt, seltene Sorten, aus denen er nun eine bedächtig aufgoss und Benede anbot. Benede ist privat eher ein Weißbier-Mann. Er wollte wissen, was los war.
Ob Benede sich vorstellen könne, ein Pflegekind aufzunehmen? Alex, der Bub aus dem Prozess, brauche ein Zuhause und kein Heim. Alex selbst habe Benede vorgeschlagen. Benede fragte, wie sich das Amt das bitte schön vorstelle. Er sei berufstätig. Er sei Single. Seine Abende ausgebucht. Ein Hund in der Wohnung. Schließlich sagte er, da müsse er mal eine Nacht drüber schlafen. Er wurde das Gefühl nicht los, dieser alte Herr wisse genau, wie seine Antwort ausfallen werde. Benede konnte nicht Nein sagen, nicht dazu.
Benede stammt aus den Bergen. Er ist am Großen Alpsee aufgewachsen, im Süden des Allgäus. Seine Mutter, eine Spanierin, arbeitete dort als Gastarbeiterin. Sie gab ihn fort, da war er vier. Seinen Vater kennt Benede nicht. Er kam zu den Nonnen der Dillinger Franziskanerinnen in Kalzhofen. Ihn packt inzwischen eine windstille Wut, wenn er im gleichen Augenblick, in dem er heutzutage offenbart, im Heim gewesen zu sein, die Gedanken der Menschen schier greifen kann, Ogottogott, im Heim!
Er mochte es dort. Sie lebten in kleinen Gruppen, immer ein gutes Dutzend Kinder und eine Schwester. Sie waren alle Mündel oder Waisen, aber die Schwestern achteten sie auf eine Art, die ihre Vergangenheit bedeutungslos machte. Sommers gingen sie schwimmen. Im Winter Skifahren, Nonnen voraus. Er war glücklich. Was immer geschah, die Schwestern waren da. Er besucht seine Nonne noch heute.
Als er älter wurde, hatten die Nonnen das Gefühl, er könnte jemanden jenseits des Klosters brauchen. Sie fragten seine Lehrerin, eine warmherzige Frau, von der eine eindrückliche Kraft ausging. Als Kind hatte sie ihren rechten Arm verloren, seitdem schaffte sie im Leben alles mit links. Sie ist vor Kurzem gestorben. In einem Treffen vor ihrem Tod erinnerte sie sich, wie eigen Carlos war, ein Bub, unbeugsam, aber wie beflügelt. Sie mochte ihn. Sie, die kinderlos geblieben war, versprach, als Firmpatin an seiner Seite zu stehen. Bald nach der Firmung brach Benede nach München auf.
München war damals gerade erst geworden, was es lange nur vorgegeben hatte zu sein - eine Weltstadt. Es waren das Ende der Siebziger, Olympische Spiele, die Weltmeisterschaft, die Stadt leuchtete. Carlos war 16. Er sollte Schuhverkäufer werden. Werktags wohnte er bei den Salesianern in Haidhausen. Am Wochenende fuhr er in sein Heim. Die Lehre stand er durch. Dann rackerte er. Abendschule, Oberschule und, unterstützt von seiner Patin, Hochschule. Er studierte Sozialpädagogik. Er lernte, wie amtlicherseits Menschen seiner Art zu handhaben waren: Bedarfsanalyse, Hilfeplanverfahren, Betreuungskonzept. Manchmal, wenn er zweifelte, sann er über das System nach, in dem er groß geworden war. Da die Kinder. Da die Nonnen. Das war keine Betreuung, das war bedingungsloser. Die Nonnen hatten ein Gelübde abgelegt, das sie an die Kinder band.
Seine Zweifel gingen vorbei. Er war jung, ein Stenz mit einer Gitarre. Das Leben lag vor ihm. Es dauerte Jahre, ehe er sich wieder an jene Gedanken erinnerte, in einer schlaflosen Nacht, nach einem Termin auf dem Jugendamt. Er, einen Ziehsohn?
Er rief seine Patin an. Sie wusste nicht, was sagen. Benede hatte nach seinem Eintritt bei K 314 begonnen, sich in seiner Freizeit um Jugendliche zu kümmern, die als schwer erziehbar galten. Aber nun sagte er, er wolle einen Ziehsohn aufnehmen. Ein Kind. Mit einer solchen Geschichte. Benede sprach kaum darüber, was er bei K 314 erlebte. So hält er es bis heute. Nur manchmal entfährt ihm etwas, ein Bruchstück. Die Socken, die ein Vater dem Sohn in den Mund schob, damit die Nachbarn keine Schreie hören. Die Finger einer sterbenden Mutter, die Sanitäter brechen mussten, weil sie ihr Kind im Angesicht des angreifenden Vaters so stark umklammert hatte. Benedes Patin hatte Sorge, wie viele Bruchstücke mehr er ertragen könne. Sie fürchtete, jetzt schultere er etwas, das seine Kräfte übersteigt. Aber sie kannte ihren Patensohn. Die Entscheidung war schon erkämpft. Schön, sagte sie. Ich werde Oma.
Am Anfang kam Alex nur an den Wochenenden zu Benede, eine Empfehlung des Amts, alles Schritt für Schritt. Aber schon nach wenigen Wochen entschieden die beiden, nun reiche es. Alex zog ein. Benede adoptierte ihn bald darauf. Es war Alex’ Wunsch gewesen: Er wollte ein Benede sein. Es waren keine einfachen Zeiten. Es gab eine Frau damals, aber ein Arzt aus dem Amt hatte Benede gewarnt: Alex werde keine Konkurrenz zu seiner toten Mutter zulassen. So war es. Vor eine Entscheidung gestellt, sagte Benede, er habe sich schon entschieden. Er war jetzt Vater.
Es war manchmal komisch. Er hatte nie einen Vater vermisst. Jetzt musste er einer sein. Alex spielte Fußball, bei den Löwen in Giesing, und er war gut. Als Alex größer wurde, tauchten Talentscouts auf. Das Angebot kam, ins Ausland zu wechseln, nach Italien. Alex war 16. Er wollte aufbrechen in die Welt, Profi werden, berühmt! Kommt nicht in Frage, entschied sein Vater. Nicht in dem Alter. Nicht ohne Abitur. Alex war außer sich. Heute spielt er neben seinem Studium in der Bayernliga, aus dem Ärmel seines Trikots ragt dann eine Tätowierung, per aspera ad astra, über raue Pfade zu den Sternen. Altlast aus seinem Latein-Leistungskurs.
Benedes Sohn bereitete sich damals auf das Abitur vor, als die Streifenwagen kamen und den Kleinen brachten. Alles war wieder da. Die Angst. Die Erinnerung. Aber er war nicht allein. Vater und Sohn sprechen nicht über diese ersten Tage oder die Zeit danach. Der Kleine gehört inzwischen zur Familie. Benede sagt, es laufe ganz gut. Sie haben ein Ritual, seine Söhne. Immer am Geburtstag ihrer Mütter fahren die beiden nach Sendling, auf den Friedhof, dort liegen sie. Eigentlich ist es Alex’ Mutter allein, die Mutter des Kleinen ist im Ausland begraben. Sie haben sich deswegen ein Grab gesucht, das nicht mehr gepflegt wird. Das ist jetzt ihres. Sie schmücken es gemeinsam. Früher musste Benede mitgehen. Aber inzwischen besuchen die Brüder die Gräber ihrer Mütter auch ohne Vater, allein.