Die Welt ist, was der Rekord ist. Gerade in einer Zeit, in der Selbstdesign und Wettbewerb alles sind, hat die exakt messbare Höchstleistung einen Wert wie nie zuvor. Wer einen Rekord hält, hat seinem Leben einen Sinn verliehen.
Die Institution, die den Kosmos der Superlative wie keine andere verkörpert, hat ihren Hauptsitz in London. Das Guinness Book of Records ist nach der Bibel und dem Koran das meistverkaufte Buch überhaupt (und hält damit selbst einen Rekord); alle Ausgaben seit dem Gründungsjahr 1955 erreichen zusammengerechnet eine Auflage von über 150 Millionen. Inzwischen gibt es Büros in New York, Tokio, Sydney, Peking, Mumbai, Panama, Paris und Hamburg und zahlreiche eigene Fernsehshows weltweit, und wer sich auf den Weg in die Zentrale im Londoner Stadtteil Camden macht, hält unwillkürlich Ausschau nach einem Büropalast aus Stahl und Glas, der einer solchen globalen Organisation entsprechen könnte. Doch die angegebene Postadresse führt nicht in ein repräsentatives Foyer mit Empfang und Wartelounge, sondern in das leicht schmuddelige Treppenhaus eines dreistöckigen Backsteinbaus, in dem alle Etagen außer der obersten gerade leer stehen.
Das »Guinness«-Hauptquartier selbst erinnert eher an ein junges Start-up-Unternehmen. In dem mit Werbeaufstellern und Erinnerungsstücken vollgepfropften Großraumbüro sitzen ein paar Dutzend Leute hinter den Rechnern, es dominieren Hornbrillen, Röhrenjeans und Fahrradkurier-Taschen. Die meisten Mitarbeiter sind für die Entgegennahme und schriftliche Bearbeitung von Rekordanfragen zuständig, die grundsätzlich an die Londoner Zentrale weitergeleitet werden und in englischer Sprache abgefasst sein müssen. Woche für Woche erhält Guinness rund tausend E-Mails mit Angeboten, im Jahr also 50 000, von denen mehr als die Hälfte sofort für unbrauchbar erklärt und mit Standard-Antworten abgelehnt wird.
Craig Glenday, Anfang 40, ist seit 2004 der Chefredakteur des Guinness-Buchs. Er ist Repräsentant eines Unternehmens, das vom Skurrilen lebt. Glenday erzählt, dass immer nur ein Teil der sechzig Londoner Angestellten im Büro arbeite; die anderen seien als Rekordrichter in der Welt unterwegs: Die meisten als Schlümpfe verkleideten Menschen in Japan, der größte Rum-Cocktail auf Hawaii – so sieht eine typische Arbeitswoche mancher Guinness-Notare aus. Und das erkläre auch den überraschend jungen Altersdurchschnitt im Unternehmen, sagt Glenday, denn ein solches Reisepensum sei nur ohne familiäre Verpflichtungen zu bewältigen: »Ich selbst bin kürzlich für einen Nachmittag nach Australien geflogen, um das größte Risotto der Welt zu wiegen.«
Vor ein paar Wochen ist die Ausgabe für das Jahr 2013 erschienen, und am 15. November, am »Guinness World Record Day«, werden sich wieder Tausende von Menschen zusammenfinden, um Rekorde zu brechen. Wenn man sich das magazinartig gestaltete Buch oder die Website ansieht, stellt sich sofort eine Frage: Nach welchen Prinzipien nimmt die Organisation Rekorde an? In den Anfangsjahren des Guinness-Buchs waren die Dinge übersichtlicher. Neben den zahlreich abgedruckten Sportbestmarken ging es um Gegebenheiten, in der Natur, im Tierreich, beim Menschen, um die bloße Auflistung des Größten, Ältesten, Schnellsten, Schwersten. Heute sind diese aus der Tradition der Wunderkammer kommenden Gestalten – der größte und der kleinste lebende Mann – noch immer die Galionsfiguren des Konzerns, doch umgeben werden sie von einem überbordenden Gemenge an schöpferischen Leistungen in Mikrodisziplinen, deren Existenz bislang niemand kannte. Die meisten Zahnstocher im Bart; die größte durch die Nase geblasene Kaugummiblase; die meisten mit einem Gewicht im Haar zerschlagenen Bretter (von einer deutschen Kandidatin, die ausgerechnet »Janna Vernunft« heißt).
Wo also ist die Grenze zwischen Rekord und Wahnsinn; was ist ein Fall für Guinness und was ein Fall für den Psychiater? »Es gibt Kriterien«, sagt Craig Glenday. »Am einfachsten ist es natürlich, wenn jemand unser Buch aufschlägt und beschließt, eine darin abgedruckte Bestmarke zu verbessern.« Dann werden dem Bewerber die Regeln zugesendet, denen der bisherige Rekordhalter gefolgt ist. Für die Aufnahme einer neuen Kategorie gilt: »Die Leistung muss messbar und auf einen klaren Superlativ zu reduzieren sein. Wir können nicht die hässlichste Katze küren, das ist Geschmackssache, aber die, welche die meisten Wettbewerbe zur hässlichsten Katze gewonnen hat. Außerdem muss der Rekord überbietbar sein, um Konkurrenz anzureizen.« Nach dieser Definition wäre allerdings jede bizarre Alltagstätigkeit potenziell rekordwürdig. Warum schaffe ich es nicht ins Guinness-Buch, Herr Glenday, wenn ich, sagen wir, meine Wohnungstür länger auf- und zuschlage als jeder andere vor mir? Oder wenn ich zwölf Stunden lang auf einem Bein stehend in Münchner U-Bahn-Zügen verbringe?
An dieser Stelle schaut der Chefredakteur nicht nur ein wenig irritiert, sondern gibt eine Antwort, die einen Einblick in die Entwicklung seines Unternehmens erlaubt. »Entscheidend ist für uns immer mehr, dass ein Rekordangebot auch gut visualisierbar ist und zu einem Event gemacht werden kann«, sagt er, »zum Beispiel in einer unserer vielen Fernsehshows.« Als der Geschäftsführer der Guinness-Brauerei 1955 zum ersten Mal ein Buch in den britischen Pubs anbot, das Stammtisch-Streitereien über Bestmarken schlichten helfen sollte, mag es tatsächlich noch um die getreue Abbildung des Wirklichen gegangen sein. Heute versteht sich die Marke Guinness World Records, seit 2004 im Besitz eines kanadischen Konzerns, als Wirtschaftsunternehmen, und es steht eher die lukrative Produktion dieser Wirklichkeit im Vordergrund. Jede neue Rekordkategorie wird daher vor allem auf ihre Tauglichkeit untersucht, in einem der Medienformate inszeniert zu werden.
Es gibt ständig aktualisierte Richtlinien bei Guinness, die festlegen, was ein Rekord sein kann und was nicht. Craig Glenday möchte ungern über diese Vorgaben sprechen, sagt aber zumindest, dass sie die überreiche Vermehrung der Superlative eindämmen sollen; wenn jemand die Bestzeit im Marathonlauf mit einem Fünfzig-Kilogramm-Sandsack auf dem Rücken hält, kann er nicht zusätzlich einen Rekord mit einem Dreißig-Kilo-Sack beantragen. Zu den wirkungsmächtigsten Begrenzungen gehören ethische und ästhetische Fragen. »Wir sind eine Familienmarke«, betont Glenday, und deshalb finden sich bei Guinness (mit Ausnahme der »größten Naturbrüste«) keine Rekorde, die in den Bereich des Sexuellen oder Anstößigen fallen. »Es kommen pausenlos Angebote wie ,Ich kann am längsten pinkeln‘ oder ,Ich habe den größten Penis‘, aber einerseits müsste man diese Dinge auch zeigen« – wieder das Argument der Darstellbarkeit –, »und andererseits würden wir die Leute damit zu gesundheitsschädlichem Verhalten auffordern.« Und der Chefredakteur erzählt, dass er in seiner Ära auch altehrwürdige Kategorien wie den »schwersten Hund« abgeschafft habe, weil sie ehrgeizige Besitzer dazu ermunterten, ihre Haustiere zu mästen.
Das Faszinierendste und Merkwürdigste am Guinness-Kosmos ist zweifellos das Verhältnis zwischen Spektakel und Bürokratie, zwischen der Ansammlung von extremen, außergewöhnlichen Leistungen und dem buchhalterischen Ernst, mit dem sie gewürdigt werden. Nichts ist genormter als die Erfassung des Anomalen. Was muss geschehen, damit Guinness eine Überbietung oder eine neue Rekordleistung offiziell beglaubigt? Craig Glenday, der nun förmlich wird wie ein echter Jurist, sagt: »Unerlässlich ist ein Videobeweis. Außerdem müssen zwei unabhängige Zeugen, die keine Verwandten oder Untergebenen des Rekordbrechers sein dürfen, anwesend sein und die Leistung schriftlich bestätigen.«
Die notariellen Bestimmungen werden tatsächlich mit aller Strenge ausgelegt. Vor kurzem wies Guinness den Rekord eines jungen amerikanischen Organisten, der 33 Stunden am Stück auf seinem Instrument gespielt hatte, aus dem Grund zurück, weil der Einsendung keine vollständigen Filmaufzeichnungen beigefügt und nur die Eltern als Zeugen angegeben waren. Und der von großem Medieninteresse begleitete älteste Marathonabsolvent aller Zeiten, ein nach eigenen Angaben 100-jähriger Inder, konnte nicht bestätigt werden, weil er keine gültigen Papiere besaß; in seiner Heimat gab es Anfang des 20. Jahrhunderts noch keine Geburtenregister.
Die Legitimation des Geleisteten ist auch deshalb so kompliziert, weil die Guinness-Mitarbeiter nur einen Bruchteil der Rekorde persönlich abnehmen können, drei- bis vierhundert im Jahr. Diese Einschränkung hat natürlich damit zu tun, dass die Organisation ein kommerzielles Unternehmen ist. Es wird zwar jeder akzeptierte Rekordversuch unentgeltlich geprüft, aber das kann Wochen und Monate dauern. Wer eine sofortige Begutachtung seines Beweisvideos wünscht, muss für den »Premium Service« zahlen, mindestens 350 Pfund. Die Kosten für die persönliche Anwesenheit eines Mitarbeiters, inklusive Reise, Hotel und eventuellen Personenschutz, sind so hoch, dass die Leistung fast nur von großen Firmen in Anspruch genommen wird, die eine Rekord- mit einer Werbeveranstaltung kombinieren. »Sony hat neulich elf Leute von uns in die verschiedensten Groß-städte bestellt«, sagt Glenday, »das wird natürlich teuer.« Die Profite über das Buch, das sich Jahr um Jahr etwa 3,5 Millionen Mal verkauft, 350 000 Mal davon in Deutschland, machen 85 Prozent des Umsatzes bei Guinness aus. Die restlichen Einnahmen stammen von solchen PR-Kampagnen und der Zusammenarbeit mit den Medien.
Die Arbeit des deutschen Repräsentanten Olaf Kuchenbecker, der von einer Hamburger Werbeagentur aus für Guinness arbeitet, reduziert sich fast vollständig auf diesen Marketingaspekt. Rekordangebote bearbeitet allein die Londoner Zentrale; seine Aufgabe besteht darin, Guinness-würdige Leistungen vor allem im deutschen Fernsehen präsent zu halten. In den letzten Wochen war Kuchenbecker unter anderem bei Kabel 1 zu Gast, wo er die längste Kettenreaktion der Welt überwachte, und bei der Spielshow Eins, zwei oder drei.
Aufzählungen wie diese erwecken den Eindruck, Guinness World Records sei inzwischen in erster Linie eine Unternehmung für Kinder. Tatsächlich wird das Buch laut Kuchenbecker in Deutschland vorwiegend von Jungen zwischen sieben und 17 gelesen. Dieser harmlose, spielerische Zugang gilt aber keinesfalls für jene Rekordhalter, von deren Existenz die Popularität des Guinness-Konzerns weiterhin lebt: Menschen wie der 27-jährige Türke Sultan Kösen, mit 2,51 Meter derzeit größter Mann der Welt, oder der mit 54 Zentimetern kleinste, Chandra Bahadur Dangi aus Nepal. Um solche Rekordhalter ausfindig zu machen, reisen die Guinness-Leute natürlich persönlich und unentgeltlich an. Craig Glenday sagt, dass »diese Kategorien elementar für das Buch sind«. Er hat den 72-jährigen Dangi, der in einem abgelegenen Bergdorf lebt und von einem Holzfäller aus der Nachbarschaft an Guinness empfohlen wurde, im Frühling 2012 selbst gemessen.
In solchen Fällen zeigt sich die ungebrochene Macht des Konzerns. Guinness hat für diese Menschen eine ähnliche Bedeutung wie die Castingshows für Nachwuchstalente: Prekäre Existenzen können durch sie mit einem Schlag zu Berühmtheiten werden. Glenday sieht deshalb auch keine Schwierigkeiten darin, einen alten, gebrechlichen Mann, der Zeit seines Lebens sein Heimatdorf nicht verlassen hat, der Öffentlichkeit auszusetzen. »Er zieht enormen Profit aus der Tatsache, dass er der kleinste Mann ist. Er kann in der Welt umherreisen, Geld verdienen, seine Familie ernähren.« Der Leitspruch heißt nun: »Nepal hat den größten Berg und den kleinsten Mann.« Dangi selbst hat noch nie vom Mount Everest gehört.
Dennoch stehen die bekannten Bilder, wie Repräsentanten in Schlips und Kragen ein Metermaß über dem Kopf von Kleinwüchsigen anbringen, in einer fragwürdigen Linie. Unter dem Deckmantel des »Rekords« führt Guinness die Tradition der Freakshow weiter, wie sie in den USA und Europa bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts hinein verbreiteter Bestandteil von Jahrmärkten waren. Und es ist auffällig, dass all die skurrilen Bestmarken inzwischen allein von Bewohnern nicht mitteleuropäischer Länder gehalten werden. Der größte Mann stammt aus der Türkei, der kleinste aus Nepal, die kleinste Frau aus Indien, der Teenager mit der dichtesten Gesichtsbehaarung aus Thailand, der Mann mit der längsten Nase ebenfalls aus der Türkei. Es ist offenkundig, dass sich die Bemächtigung des Fehlgebildeten durch die Agenten des »Normalen« hier mit einem geographischen Gefälle paart. Denn in jenen Ländern, aus denen die Guinness-Richter kommen, sind Krankheiten der Hirnanhangdrüse, die zu Riesen- und Kleinwuchs sowie übermäßiger Behaarung führen, längst mit Hormongaben in der Kindheit zu regulieren. Insofern weist das Buch der Rekorde im Jahr 2013 auch auf die neue Körper- und Gesundheitspolitik in den reicheren Teilen der Welt. Pränataldiagnostik und Schönheitschirurgie sorgen dafür, dass auf unseren Straßen so gut wie keine entstellten oder missgebildeten Menschen mehr zu sehen sind. Wir müssen aber nur das Guinness-Buch aufschlagen, um zu erkennen, dass diese Standards noch nicht überall gelten.
In der fantastischen Rekordwelt, die am »Guinness Day« am 15. November wieder Menschenmassen mobilisieren wird, geht es also um ganz reale Macht- und Geschäftseffekte. Dies hat letztlich auch der Himmelssprung Felix Baumgartners gezeigt, der nur deshalb zustande kommen konnte, weil sich die Firma Red Bull davon eine Verbesserung ihres Umsatzes erwartet. Guinness, die eigentlich zuständige Instanz, kam in der Berichterstattung über Baumgartner kaum vor, und wenn man die Verantwortlichen auf diese publizistische Verdrängung anspricht, reagieren sie ungewohnt nachdenklich. Denn wo Bestmarken fallen, muss weiterhin der Name Guinness im Spiel sein. Sonst droht sich die Marke aufzulösen wie ein leerer Heliumballon in der Stratosphäre, während der Rekordheld auf der Erde von anderen gefeiert wird.
Fotos: Martin Parr / Magnum Photos / Agentur Photos