WAS SOLL DAS GANZE?
Am schönsten ist der Trick mit dem Schlüsselbund. Man nimmt so einen richtig großen Hausmeisterring, 20 bis 30 Schlüssel, und zieht ihn mit Wucht über eine Tischplatte, immer und immer wieder. Nach einer Viertelstunde sieht der Tisch aus, als hätten schon fünf Generationen dran gegessen: überall kleine Dellen, Kratzer, Löcher, Unebenheiten. Wenn Möbel gebraucht aussehen sollen, ist Unregelmäßigkeit alles. Würde man die Ecken einer Kommode von einem Automaten abschleifen lassen, sähen sie alle gleich aus. Damit alles echt gebraucht aussieht, hilft nur: selber schleifen, hauen, kratzen. Von Hand. Stundenlang. Mal heftig, mal sanft, so uneinheitlich wie möglich.
Aber wozu der ganze Aufwand? Weil heute nichts so antiquiert wirkt wie Dinge, die neu aussehen. Patina ist alles. Immer mehr Menschen kaufen am liebsten Möbel, die zumindest so wirken, als hätten sie Geschichte. Aber klären wir erst mal ein paar Begriffe:
1 »Vintage« bezeichnet eigentlich alles, was alt ist (zum Beispiel den berühmten Eames-Chair). Sehr häufig aber wird der Begriff auch verwendet für Gegenstände, die nur so aussehen, als seien sie alt.
2 »Retro-Design« bedeutet in der Regel: neu gemacht, aber nach Vorlagen aus früherer Zeit (ein fabrikneuer Sessel, der dem Eames-Chair ähnelt).
3 »Shabby Chic« bedeutet: künstlich angegammelt (ein neuer Sessel, der so aussieht, als hätte er schon zu Charles Eames’ Zeiten in einem Wohnzimmer gestanden).
UND WER WILL SOWAS HABEN?
Glaubt man den Zahlen der Möbelindustrie: eine Menge Leute. Franz Hampel, Sprecher der Fachgruppe Möbel im Mittelstandsverbund, sagt: »Shabby Chic liegt voll im Trend: Unsere Verkaufszahlen zeigen, dass besonders jüngere Menschen immer mehr Möbel im alten Stil kaufen.« Das gute alte Versandhaus Otto gibt an, die Häufigkeit des Suchbegriffs »Vintage Möbel« habe sich zwischen Sommer 2011 und Sommer 2012 verdoppelt. Michael Eck vom Hamburger Möbelhaus »Die Wäscherei« berichtet, er mache 20 bis 30 Prozent seines Umsatzes mit Vintage-Produkten, bald sollen es 40 Prozent werden.
WEM NÜTZT ES WAS?
Der Möbelhändler Jürgen Reiter führt gut gelaunt durch die Halle im Norden Münchens, in dem er die Stücke seiner Geschäftskette Kare präsentiert. Drei Stockwerke voller Möbel, viele schreiend bunt und kitschig; immer mehr aber auch dezent, warme Holztöne, gebrochener Lack, Gebrauchsspuren. Sie wirken antik – und sind gerade mal ein paar Wochen alt. Der Rheinländer Reiter lacht viel und gern, seine Firma war vor 30 Jahren nur eine kleine, etwas schräge Möbelkette in München, heute hat Kare 400 Angestellte und Läden in fast 40 Ländern.
SZ-Magazin: Vor ein paar Jahren hatten Sie noch fast keine Vintage-Möbel im Angebot, heute jede Menge. Wie viel genau?
Jürgen Reiter: Fast ein Drittel. Wir haben dafür sogar eine eigene Produktlinie. Die Leute stehen so sehr auf alte Anmutung, wir kommen kaum hinterher.
Warum verkaufen sich die künstlich gealterten Möbel so gut?
Die Kunden wollen weg vom einfach Reproduzierbaren. Bei Vintage ist jedes Stück ein Unikat, die Kratzer sind nie an der gleichen Stelle. Es geht um Individualisierung.
Aber wie individuell ist es, wenn bei zwei baugleichen Kommoden der Kratzer mal einen Zentimeter weiter links oder rechts ist?
Das klingt jetzt etwas arg pragmatisch, aber: Was wollen Sie machen, wenn es nun mal nicht genug echtes Altes gibt?
Wo lassen Sie die Möbel herstellen?
Wir arbeiten mit Herstellern in der ganzen Welt, aber am besten sind die Inder – die wissen genau, wie man Möbel auf alt trimmt.
Welche Techniken kommen zum Einsatz?
Oh, das ist doch quasi unser Coca-Cola-Rezept! Das geben wir nicht einfach raus.
Ist es denn so kompliziert?
Nur so viel: Bei manchen Möbeln sind es bis zu sieben Arbeitsschritte, erst Lack, dann mit dem Bunsenbrenner ran, damit er aufspringt, dann die nächste Lackschicht, die wiederum verkratzen, dann wieder ein bisschen Thermik … Das kann dauern. Am Ende hat so eine Kommode vielleicht fast so viel abgekriegt wie eine 100 Jahre alte Kommode – nur eben innerhalb von ein paar Tagen.
Sie altert also im Zeitraffer.
Genau! Und wenn Sie da in Indien in der Werkstatt stehen, da geht es zu wie bei der spanischen Inquisition: Die hauen mit neunschwänzigen Eisenpeitschen auf Tische ein. Da hab ich selber schon mitgemacht, toll!
Und was sagen die indischen Handwerker dazu, dass sie für den komischen Mann aus Europa Möbel extra kaputtmachen sollen?
Die finden das natürlich eigenartig. Aber es gibt prinzipiell eine Schizophrenie des Marktes: Je reicher ein Land, umso besser gehen da unsere angegammelten Möbel. Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen dem Wohlstand und der Sehnsucht nach dem Einfachen.
Künstliche Alterung in vielen Bereichen
GEHT ES NUR UM MÖBEL?
Absolut nicht! Der Trick mit der Alterung sorgt vor allem in der Mode schon seit Jahren für Umsatz: Gucci verkauft handgefärbte Handtaschen und Schuhe mit Patina-Effekt, Miu Miu hat ein Plisseekleid auf den Markt gebracht, das wie von Motten zerfressen aussah, Schmuckdesigner wie Arielle de Pinto setzen auf angeschwärztes Silber. Jeans und Hemden mit Löchern, abgenutzten Bündchen oder gekonnt unsauberer Vernähung gibt es sowieso von allen – Polo Ralph Lauren, Acne, Closed, Levi’s, Diesel.
Inzwischen werden auch Gegenstände auf alt getrimmt, von denen man es nicht erwarten würde. Zum Beispiel Gitarren. Die E-Gitarren der Marke Fender hat jeder schon mal gesehen: Jimi Hendrix, Eric Clapton und Kurt Cobain haben sie gespielt. Doch die Instrumente der Stars sehen nicht aus wie Gitarren aus dem Laden. Sondern ziemlich abgeschrammelt – eben so wie ein Instrument, mit dem man jeden Abend auf der Bühne steht: Dellen, Kratzer, abgesprungener Lack.
»Viele Menschen wollen eine Gitarre, die genauso ramponiert daherkommt«, sagt Tim Houben, »also erfüllen wir ihnen diesen Wunsch.« Houben ist gelernter Zupfinstrumentenmacher mit Elvis-Frisur und Turnschuhen, auf seine Unterarme sind F-Löcher tätowiert, wie Geigen sie haben. Im Keller der deutschen Fender-Zentrale in Düsseldorf steht er an einer Werkbank und zeigt, wie man eine neue Gitarre so zurichtet, als hätte sie 40 Jahre Rock ’n Roll hinter sich. Vor ihm liegt ein Gitarrenhals, scheinbar uralt – aber fabrikneu. Houben beschreibt, was er damit gemacht hat: Lack mit einer Klinge abziehen, mit grobem Schleifpapier drübergehen, dann eine Mischung aus Ölen und Pigmenten einreiben, noch mal schleifen, bis das Ahornholz richtig verwittert aussieht. Um den Lack einer Gitarre schön rissig hinzukriegen, wird sie in einem speziellen Raum behandelt, den man nur mit Gasmaske betreten darf, weil dort mit Chemiekeulen wie Wasserstoffperoxid hantiert wird. Von den teuersten handgefertigten Gitarren ab 3500 Euro aufwärts werden rund 80 Prozent mit künstlichen Schrammen verkauft, schätzt Ralf Benninghaus-Fliedner, der Deutschland-Chef von Fender. »Wer so viel Geld ausgibt, kauft nicht nur ein Instrument, sondern auch gleich die passende Geschichte dazu.« Zumindest die Illusion davon. In Amerika gibt es eine eigene Fabrik, in der ein gutes Dutzend Fachleute nagelneue E-Gitarren mit Eisspray, Bimssteinen, Schlüsselbund und Feilen ramponiert. Muss das sein? Houben, der Instrumentenbauer, zuckt mit den Schultern. »Am Anfang war es schon eine Überwindung, ein neues Instrument mit Werkzeug zu malträtieren.« Aber viele finden es nun mal cooler, wenn eine Gitarre so wirkt, als hätten sie damit schon Hunderte Konzerte gespielt.
Die künstliche Alterung wird auch da immer populärer, wo es um Dinge geht, die uns eher kühl und technisch erscheinen. Seit Jahren wächst die sogenannte Steampunk-Bewegung: Computertüftler bauen für ihre Rechner Verkleidungen aus Holz und Gusseisenimitat, bis sie aussehen, als stammten sie aus einem Roman von Jules Verne. Futurismus einer vergangenen Epoche. Da verbinden sich Nostalgie und moderne Technik zu einer Art Parallelgegenwart – der Gedanke dahinter: Es könnte heute eben auch alles ganz anders sein, als es gerade ist.
WAS SAGT ES ÜBER UNS AUS, WENN WIR AUF ALT GETRIMMTE SACHEN KAUFEN?
»Der Mensch wird in der funktionellen Umwelt nicht heimisch.« Auf dieses Prinzip geht im Grunde alles zurück. Der Philosoph Jean Baudrillard hat die Sehnsucht nach scheinbar individuellen Gegenständen schon in den Sechzigerjahren beschrieben. Sein Befund von damals: Unser Alltag wird von Dingen bestimmt, die aus Fabriken kommen; Massenwaren für einen Massenmarkt. Daraus hat sich eine typische Verhaltensweise entwickelt: Wenn wir mit etwas Neuem konfrontiert sind, versuchen wir immer erst mal, es in etwas Vertrautes zu verwandeln. Das nimmt uns die Angst vor dem Unbekannten. Die Kulturtheoretikerin Susan Pearce ging vor ein paar Jahren noch einen Schritt weiter. Sie bezeichnet die Objekte, mit denen wir uns umgeben, als Zeichen unserer Identität: »Sie erzählen die eigene Lebensgeschichte in einer Art und Weise, die sonst unmöglich wäre.« Ein Schrank oder eine Gitarre sind also immer mehr als bloße Gegenstände – sie drücken auch aus, wie wir von anderen gesehen werden wollen. Künstlich gealterte Dinge sollen sagen: Seht her, ich habe gelebt. Ein guter Trick in Zeiten, in denen Möbel nicht mehr von Oma geerbt, sondern bei Ikea gekauft und nach dem zweiten Umzug weggeschmissen werden. Baudrillard nennt moderne Gegenstände »reich an Funktionalität, aber arm an Bedeutsamkeit«. Also muss die Bedeutsamkeit irgendwie rein in die Möbel, in die Jeans oder die Gitarre – notfalls mit Gewalt. Der Dreh setzt sich überall in unserem Alltag fort: Wir fotografieren mit Handys, die ein altbekanntes Verschlussklicken von sich geben. Und wenn das Handy klingelt, dann gern mit dem Ton eines Apparats von 1930.
UND TAUGT DAS ZEUG JETZT WAS? ODER EHER NICHT?
Wie mans nimmt. Clemens Tissi kann sich stundenlang über das Thema Vintage aufregen. Er gilt als einer der Vorreiter des Vintage-Booms, er hat in Berlin lange eine erfolgreiche Galerie für alte Möbel betrieben. Dann hat er den Laden dichtgemacht.
SZ-Magazin: Herr Tissi, warum sind Sie aus dem Vintage-Geschäft ausgestiegen?
Clemens Tissi: Ich hatte genug von der Oberflächlichkeit. Die Leute widmen sich nicht den tatsächlichen Haltungen einer anderen Zeit, ihnen genügen die äußerlichen Ausformungen. Das ist ganz billig im Grunde.
Aber muss ein Möbelstück im Wohnzimmer denn gleich eine Haltung transportieren?
Das tut es doch zwangsläufig. Schauen Sie, die Freude am Retro-Design spiegelt etwas, was sich in vielen Bereichen der Gesellschaft findet. Wenn Menschen vom Glück reden, von ihrem ganz privaten, eigenen Lebensglück, dann reden sie oft nur von einem Bild von Glück, das sie irgendwoher haben.
Sie meinen Menschen, die über Träume reden, die sie angeblich immer schon hatten – und dann kommen nur Klischees wie »einen Baum pflanzen«, »den Mount Everest besteigen«.
Ganz genau. Und dazu passen Möbel, die nur so tun, als hätten sie eine Geschichte. Und der Wahnsinn geht ja noch weiter! Die Leute kaufen Möbel, die alt aussehen sollen – und verpacken sie für den Transport in Folie, um sie vor Kratzern zu schützen!
ALSO?
Vielleicht einfach mal drauf verlassen, dass unsere Möbel schon ein paar schöne Gebrauchsspuren abkriegen werden, wenn wir es nur erlauben. Wir geben ihnen ja nicht mal die Chance, mit uns zu altern. Lieber kaufen wir Dinge, die nur so tun, als seien sie alt – und stecken dafür unsere iPhones in Hüllen. Damit sie ja keine Spur von Leben abkriegen.
Fotos: Tanja Kernweiss, Fender Magazine