Das Österreichische am Fall Amstetten
Ernsthafte Menschen, die versuchen, etwas über ihre Genossenschaft herauszufinden, können mit solchen Vokabeln wie »das Österreichische« nicht operieren. Ich operiere, auch aus Mangel an Ernst, gern mit solchen Vokabeln, weil man literarisch einiges rausholen kann und weil es eine geradezu heilige Tradition gibt, in der »das Österreichische« beschrieben und durch die Beschreibung überhaupt erst erfunden wird. Aber schon allein die Abstraktion »das Österreichische« übergeht – und das ist auch eine Stärke, diese Schwäche –, sie übergeht eine unendliche Anzahl von Differenzierungen. Aber wenn »das Österreichische« so viel ausblenden muss, damit es umso schriller wirken kann, dann wird es zu einer Art Kampfbegriff.
Und der Kampfbegriff hat, wie alles im Leben, wenigstens zwei Seiten. Die eine Seite ist: Wir lieben Österreich! Oh, wunderbar! Und die andere, »dem Österreichischen« hingegebene Seite sagt, das ist das größte Arschland auf der ganzen Erde! Also mit solchen Abstrakta wie »österreichisch«, »das Österreichische« umzugehen, ist wirklich eine Kunst.
Ich bin der Meinung, dass es für beide Behauptungen – Diese Tat hat nichts Österreichisches! Oder: Diese Tat ist typisch österreichisch! – keine Beweise gibt. Erstens: Dies hat nichts Österreichisches. Diese Behauptung kann man sehr leicht belegen. Indem man darauf hinweist, anderswo passieren ähnliche Taten immer wieder.
Ich fand es sehr charakteristisch, dass bei einer Fernsehsendung der österreichische Kriminalpsychologe vom Dienst einen Schweizer Journalisten belehrt hat. Der Journalist hatte bestimmte Zusammenhänge zwischen österreichischem Autoritarismus, Nationalsozialismus und dieser Tat hergestellt. Der Kriminalpsychologe jedenfalls sagte: Hören Sie mal, in der Schweiz rennen auch ein paar mörderische Leute herum – und der Kriminalpsychologe zählt die Schweizer Fälle auf.
Umgekehrt aber, dieser Fall ist in Österreich passiert und die Tatsache, dass er hier passiert ist, dass hier dieser Zufall eingetreten ist, bedeutet, dass verschiedene Dinge mit diesem Zufall zusammenhängen. Also etwa ein bestimmtes Agieren der Behörden. Auch ein bestimmtes Akzeptieren von autoritärem Gehabe.
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Es gibt nun zwei Möglichkeiten, wie man in dieser schwierigen Argumentationssituation reagieren kann. Entweder man sagt: Ein Einzeltäter, der Rest hat ein Zufall zu sein, warum es hier zustande gekommen ist, und somit ist es idiotisch zu denken, das sei typisch österreichisch.
Die zweite Möglichkeit: Es ist besser, darüber nachzudenken, obwohl man nicht beweisen kann, dass es mit »dem Österreichischen« zu tun hat, wie wir diese Möglichkeit, die darin besteht, dass es ja wirklich hier geschehen ist, von nun an als eine unserer Gegebenheiten hinnehmen. Und wie wir mit den Möglichkeiten solcher Gegebenheiten umgehen.
Es gibt bekannte Defizite dieser österreichischen Gesellschaft. Die haben meiner Meinung nach in der Tat damit zu tun, dass weniger Zivilcourage herrscht als in manchen anderen Ländern, weniger Freude am offenen Wort. Aber wenn man jetzt hergeht und diese offenkundigen Defizite an den Extremfall einer Kriminalität anbindet, das halte ich für idiotisch.
Trotzdem: Wenn eine Tat wirklich passiert, dann hat sie auch mit der Wirklichkeit zu tun, in der sie passiert. Das kriegt man nicht weg.
Die Angst des Bundeskanzlers um das Image des Landes
Dieser Bundeskanzler hat einen Berater. Und der Berater hat beim sogenannten auflagenstärksten Boulevardblatt gelernt. Ach, es ist so schwer, mich am Tisch festzuhalten und nicht unter den Tisch zu fallen, um dort zu weinen. Ich unterstelle, der Berater hat ihm gesagt, was man nach allen Regel der Kunst über das Verbrechen sagen muss, nämlich: »Wir« werden es nicht zulassen, »dass irgendjemand glaubt, unserer Jugend eine neue Erbsünde andichten zu können«. Und zusätzlich »werden wir es nicht zulassen«, dass ganz Österreich von einem Einzeltäter »in Geiselhaft« genommen wird.
Aber gesetzt den Fall, der Kanzler hat diese Rhetorik nicht vom Berater übernommen, dann wäre er von diesem Berater dermaßen infiziert, dass er so was von selbst ausspricht. Ich hoffe aus Staatsräson, es war der Berater.
Aber ich versuche meinen Kanzler zu verstehen: Wenn einer sein Lebtag lang gebuckelt, gekrochen und gekraxelt ist, damit er da raufkommt, und dann plötzlich hat er, während er an der Spitze steht, das Gefühl, das Ganze kommt in Verschiss – da wird doch jeder bis zu einem gewissen Grad verrückt und macht verrückte Äußerungen.
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Aber in welchen finsteren, verschmutzten Verzweigungen des Mainstreams will der Bundeskanzler mitschwimmen? Die Frage ist, welche Art von Populismus will er? Ich bin sicher – und das ist ein Kennzeichen der Sozialdemokratie des Augenblickes und ihrer Führung –, ich bin sicher, dass er sich bereits über diese Äußerung in den Hintern beißt. Denn er kommt in diese Unglückssituation, in der die einen von ihm nichts mehr wissen wollen und die anderen wollen diese Aussage noch viel extremer formuliert haben.
»Du wirst meiner Liebe nicht entgehen«
Darf ich Ihnen was Persönliches sagen? Es ist ja nicht nur so, dass man sich mit dem Land identifiziert, sondern wenn man als Einzelner mit einem signifikanten Verbrechen konfrontiert wird, im Sinne der von mir genannten Gemeinheit, also einer Art von Gemeinschaft, sich jetzt mit diesen Sachen beschäftigt, beschäftigen muss, und auch mit einer gewissen Gier sich damit beschäftigt, dann ist es ja nicht nur das Land, das als Identifikation dient – österreichisch oder nicht österreichisch? –, sondern es geht auch um einen selbst.
Und in dieser Geschichte gibt es einen Punkt, wo ich, als Sohn eines patriarchalischen Vaters, geradezu einen Albtraum wieder erlebe. Wenn ich lese, dass diese junge Frau, die später dann vom Vater eingesperrt wurde, zuvor nach Wien geflohen ist. Und dort hat die Polizei sie festgenommen und wieder an den Vater, an die Eltern zurückverfrachtet.
Das ist ein Albtraum, wenn die Rechtslage so ist, dass der unter der Rute des Vaters stehende Mensch zurückgeschickt werden muss, dass also die Polizei in einem bestimmten Leben als verlängerter Arm des Vaters existiert. Das ist ungeheuerlich. Wenn man Lebenserfahrungen hat mit dem Patriarchat, mit der väterlichen Gewalt, da glaube ich, könnte man den Schrecken, den man selber versteht und den man selber am eigenen Leib erfahren hat, gar nicht – ironisch gesagt – besser zusammenfantasieren: Die Polizei schickt einen wieder zurück.
Und dann natürlich auch diese Tücke. Die Tücke des Vaters gegenüber der Tochter. »Du wirst meiner Liebe nicht entgehen!« Das ist ein berühmter Satz aus einem Theaterstück von Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wienerwald. Und dann geht der Vater her und sagt: Bitte hilf mir bei der Tür zum Keller… Diese Tücke ist Teil eines solchen Albtraums. Die Geschichte bietet auch dem Individuum jede Menge an Identifikation an. Und das ist ja obszön. So ein Schicksal gehört ja dem, der es hat. Aber man bereichert sich quasi durch die Veröffentlichung des Schicksals, indem man die eigenen Albträume damit versorgt. Man »bringt sich ein« und wird zum Parasiten des Leids anderer.
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Österreich, Amstetten und die Medien
Wir sind alle nicht im Sinne einer Gemeinschaft, sondern im Sinne der Gemeinheit, nicht zuletzt durch den medialen Diskurs, in eine Geschichte mit einbezogen, die uns dazu zwingt, Stellung zu nehmen – oder wir fühlen uns gezwungen, Stellung zu nehmen. Da spielt die Presse ihre Rolle. Das ist für uns, für die österreichische Gesellschaft, eine sehr ungute Sache.
Die Aufgabe der Presse wäre, Identität durch eine halbwegs vernünftige Diskussion unserer Angelegenheiten herzustellen, aber derzeit wird Identität hergestellt über diese Vorfälle, indem alle betroffen gemacht werden und keiner sich die Chance zur Betroffenheit entgehen lässt. Es wird ein sozialer Zusammenhang erzeugt, indem alle auf dieses Phänomen starren.
Mit einer bestimmten paradoxen Wirkung: Es wird durch die ständige Begründung, warum dies ein Einzelfall sei, eine Verallgemeinerung produziert, die auch alle zu betreffen scheint. Man sagt mir, dass ich es nicht bin, weil es ja ein Einzelfall ist, und man sagt es mir so intensiv, dass ich gemeinsam mit allen anderen glaube, es hat mit mir nichts zu tun. Das interessiert mich dann aber mächtig, dieser Fall, von dem ich nur weiß, was in der Zeitung darüber steht.
Gewiss muss man unterscheiden, bis zu einem gewissen Grad, zwischen Boulevardzeitungen und solchen Zeitungen, die darauf Wert legen, keine Boulevardzeitungen zu sein. Der Boulevard tobt sich in spezifischer Art und Weise aus, und hier werden Grenzen überschritten, die über das Erwartbare doch hinausgehen. Es herrscht ein Voyeurismus, der in dem Konsum, im Lesen und dem Zeigen dieser Tat in einer geminderten Form doch an die Geilheit und die Gier der Tat selber erinnert.
Eine der zentralen Strategien des Boulevards ist es, solche Gefühle zu erwecken, und diese Gefühle hat ein jeder; sie stecken leider auch im faszinierten Schrecken über die Tat. Diese Zeitungen, mit ihrem Ansprechen und Kontrollieren der Geilheiten, haben immer so einen hintergründigen seriösen Ton, der sagt: Wir waren es nicht! Wir tun so was nicht! Wir sind quasi etwas ganz anderes! So was tun bei uns nur Einzelne. Und dann wird hingeschaut auf die Tat und es wird genau die Art von Gefühlen erweckt, die sozusagen eine homöopathische Dosis dieser Art von Geilheit ist, die die Täter in der Realität antreibt.
Verlogenes Erstaunen
Die Frage ist, wie schätzt man denn eine sogenannte geisteskranke Tat nun tatsächlich ein? Oder die Tat eines sogenannten Geisteskranken? Wobei geisteskrank ja nicht nur heißt, im juristischen Sinn nicht dafür verantwortlich zu sein. Schätzt man eine solche extreme Tat ein als vom Leben der Menschen selbst abgekoppelte einzelne Ausnahme oder schätzt man eine solche extreme Tat ein als eine Fortsetzung der Normalität oder bestimmter Züge von Normalität mit anderen, nämlich mit verbrecherischen Mitteln? Das ist eine Frage, die man sich als Mensch stellen muss, und zwar im Sinne der Frage der Philosophen: Was ist der Mensch? Bei dem Schriftsteller Marcel Proust kommt die Eingesperrte als ein Teil des Liebesmythos vor. Alle, die jetzt so tun, als wäre das das Unvorstellbare – wer hat nicht schon die Geliebte einsperren wollen? –, dieses allgemeine Erstaunen ist auch verlogen.
Die sogenannte Privatsphäre und die Nachbarschaft
Man kann den Satz von Alexander Kluge zitieren: »Der Mensch ist nicht sachlich.« Und diese Nichtsachlichkeit bedeutet, dass unsere Gesellschaft – und das macht sie eigentlich ja auch interessant – mit sehr vielen widersprüchlichen Aufforderungen die Teilnehmer der Gesellschaft anstachelt, teilzuhaben, mitzuspielen. Und eine der widersprüchlichsten Aufforderungen ist: Schau hin, schau weg! Es gibt ja eine vollkommen vernünftige Aufforderung zum Wegschauen. Denn, um ein schmieriges Beispiel zu nehmen, wenn ich im Park sitze und als verheirateter Mann eine junge Dame küsse, dann würde ich doch eher wollen, dass mein Nachbar wegschaut. Und ich habe eigentlich auch ein Recht dazu, nicht ins Gerede zu kommen durch Leute, die in mein Leben eingreifen, ohne dass sie es führen müssen.
Das Familiäre hat in seiner In-sich-Geschlossenheit alle möglichen Keime zur Bestialität, aber es ist ein notwendiger Kampf, über den Freiraum zu verfügen, nicht einem Dreinreden und Reinblicken ausgeliefert zu sein – also diese sogenannte Privatsphäre zu bewahren. Das bedeutet also, dass das Wegschauen oder ein bestimmtes emanzipiertes Desinteresse an den Angelegenheiten der anderen eine Notwendigkeit aller unserer Freiheitsvorstellungen ist.
Dass es aber zugleich eine Art von parasitärem Wegschauen gibt, also ein Wegschauen, das sehr gerne weiß, was die daneben treiben, und sich an diesem Wissen partiell sogar aufgeilt, aber keine Konsequenzen daraus zieht. Das ist dieser Moment, wo Wegschauen und Voyeurismus ineinanderfallen. Und wo man, ohne irgendeine Konsequenz daraus zu ziehen, die Skandale der Nachbarschaft genießt.
Wie man aus dieser Wechselwirkung von Wegschauen und Hinschauen ein emanzipierter Mensch wird und damit cool und rational umgeht, das muss wohl jeder lernen. Das wichtigste soziale Ferment ist Vertrauen. Und Vertrauen heißt eigentlich, eine unbeweisbare, einer Begründung nicht bedürftige Erwartung, dass es halt so geht, so läuft, dass nicht das Schreckliche um die Ecke steht.
Die Polizei schaut für uns hin
Beamte müssen naturgemäß vor und zu ihren Behörden stehen. Und bevor man denen nichts nachweisen kann, haben sie nie irgendeinen Fehler gemacht. Rein sprachlich ist das schon interessant. Einerseits dürfen sie nichts sagen; auf der anderen Seite müssen sie ja zeigen, dass sie da sind und alles gut machen. Sie dürfen nur nicht sagen, was genau sie gut machen. Da haben sie dann diese Abwehrrhetorik: »können leider nicht«, »ermitteln noch«. Das ist teilweise so wie in schlechten Tatort-Krimisendungen.
Ich denke, dass die Polizisten sich jetzt eine gewisse Chance ausrechnen, mit ihrer eigenen Befindlichkeit punkten zu können. Der eine Bezirkshauptmann, der etwa gesagt hat: Von nun an vertraut er niemandem mehr! Das habe er aus diesem Verbrechen, begangen von einem doch so vertrauenswürdigen Menschen, gelernt. Woraufhin der Dienst führende Kriminalpsychologe ihn übers Fernsehen gebeten hat: Bitte, vertraue doch wieder! Ziehe diesen falschen Schluss nicht! Oder die Äußerung des ermittelnden Polizeioffiziers: Man denkt, es kommt nichts Schlimmeres mehr. Und das habe er jetzt gelernt: Es wird immer noch schlimmer!
Ich finde, das ist eine interessante Nebenwirkung dieser Geschichte, dass die Polizei, die ja prinzipiell schweigt, jetzt einiges über sich selbst erzählt. Und jetzt hat sie auch ein Publikum dafür. Die Polizei hat ja im Psychohaushalt einer solchen Gesellschaft unter anderem die Funktion, den unmittelbaren Eindruck, den »Horror«, für alle anderen abzufangen; die Polizei sieht, was die anderen nicht zu sehen brauchen, worüber sie aber unaufhörlich Vermutungen anstellen. Die Polizei ist das Auge, das wirklich sieht. Wir sehen nur all das, was uns nicht gefährdet. Und wir können unsere Gefährdung, wie ich das vorhin beschrieben habe, zwar hinzufantasieren. Aber die sehen, wie so was aussieht. Die schauen für uns hin, und zwar direkt.
Österreich, Amstetten und die Psychologen
Die sogenannten Experten können einem schwer auf die Nerven gehen, auch weil sie die Tonart bestimmen, in der man plötzlich selber glaubt, etwas zu sagen zu haben. Also dieser eine Psychiater, der schon die Frau Kampusch therapiert hat, der mit seinem weißen Arztkittel und mit seinem Bart aussieht wie ein Vorstadtfriseur – das ist alles unerträglich. Da hat man das Gefühl des Verkehrten, weil die mit ihren Daten und Erkenntnissen nur hausieren gehen, damit sie sich präsentieren können. Aber das ist deshalb ungerecht, weil solche Fachleute bei der Sache bleiben; ihr Leben lang beschäftigen sie sich mit Kriminalität, beschäftigen sie sich mit Opfern, mit Kriminalitätsopfern.
Sie schaffen dann auch die notwendige Kontinuität, um nicht bodenlos überrascht zu sein von den Phänomenen, die sich ja immer wieder ereignen. Sie bleiben dabei und können im besten Fall kenntnisreich helfen, während die Medien sich immer Neuem zuwenden.
Und trotz aller Skepsis im Hinblick darauf, was ich über das Österreichische sagte, muss ich doch einem Psychiater danken, der die Frage stellte: Welche spezifisch pathogenen, also krankheitserzeugenden Möglichkeiten nützt ein Land aus? Also welche Krankheiten kriegt man hier leichter als anderswo und aus welchen Gründen?
In der Schweiz gab es ein Buch von Fritz Zorn, Mars, ein Buch, das erklärt hat, wenn man an der Züricher Goldküste lebt, gibt es eine bestimmte Art von Chance, krank zu werden, einfach deshalb, weil man in diesen reichen Familien als aufwachsender Mensch überhaupt keine Möglichkeit hat, einen Widerstand zu finden, geschweige denn zu äußern. Weil die so geschickt ein Milieu um einen bilden, dass jedes Problem stets unter der krank machenden Perspektive steht: Das Problem ist kein Problem! Dergleichen mag für bestimmte Milieus spezifisch sein.
Was überredet uns Österreicher zu jenen seelischen Deformationen, für die wir, falls man uns überhaupt kennt, berühmt sind? Die einfachen Antworten darauf kann man in jeder Zeitung nachlesen. Es ist zum Beispiel das Katholisch-Heuchlerische. Ich muss sagen, mir steht das Katholische so fern, dass ich ohne Probleme Kirchenleute schätzen kann. Aber als der Kardinal Schönborn einmal predigte, man müsse auch Geschiedenen gegenüber mehr Liebe an den Tag legen, hab ich gedacht, ich weiß nicht, in welcher Zeit oder in welchem Land ich lebe. Dass die Kirche immer mehr an Einfluss verliert, mag statistisch wahr sein, aber die Verwurzelung des Kirchenglaubens ist tief, auch bei den eingeborenen Atheisten.
Vom Katholisch-Heuchlerischen bleibt ein undurchschauter Einfluss, der uns auf der einen Seite Geilheit beschert, weil viele durch Übertretung dieser verinnerlichten Regeln zu einer unerhörten Lust kommen, aber auf der anderen Seite sind das natürlich Beschränkungen, die nicht immer gesund sind. Für die Selbstüberhöhung der Kirche ist es charakteristisch, dass einer der Bischöfe über das Verbrechen von Amstetten sagte, es resultiere aus der Liberalisierung der Sitten, man müsse Sexualität wieder strenger regulieren. Und zugleich hat die Kirche – bei aller deklarierten Strenge –selbst sexuelle Übertretungen sondergleichen in den eigenen Reihen zu verantworten.
Kein Land kann ein Land sein, ohne dass es Eigentümlichkeiten hätte. Entweder man wirft sie dem Land vor, diese Eigentümlichkeiten, oder man feiert und zelebriert sie. Und die Eigentümlichkeiten rühren sicherlich von den politischen, gesellschaftlichen und mentalen Konflikten her – das können ja gar nicht exklusiv allgemein menschliche sein.
(Protokoll: Sabine Magerl)