Was tun? – Lenins berühmte Frage stellte sich auch dem Verfasser des folgenden Erfahrungsberichts, als er nach vierzig Jahren an der Schreibmaschine in den (verdienten? – eine deutsche Lebenslüge) Ruhestand eintrat. In der Christlichen Presseakademie von Bad Boll hatte er 1950 gelernt, dass ein Journalist das Wort »ich« in Wort und Schrift vermeiden soll; er habe der Wirklichkeit zu dienen, nicht seine Eitelkeit zu pflegen. So hat der Autor es in allen für die Öffentlichkeit bestimmten Drucksachen immer gehalten.
Was also sollte er nun tun? Den Gartenzaun streichen? Der hat es nicht nötig. Einen Töpferkurs belegen? Es gibt schon genug Hardware im Haus. Die Bücher lesen, deren Kenntnis er bisher nur vorgetäuscht hatte? Er las nur wieder einmal Gogols Tote Seelen. Schöne Reisen unternehmen? Er war auf vielen Flughäfen herumgehastet, hatte genügend sterile Hotels ertragen und von manchen Ländern mehr gesehen, als ein Tourist jemals zu sehen bekommt. Für Party-Geplapper reichte das allemal. Oder einfach weiter schreiben, als ob nichts passiert wäre? Sich womöglich fortan »freier Publizist« nennen? Nach etwa zweitausend Streiflichtern, Leitartikeln und Kommentaren, erst für die Stuttgarter Zeitung, dann für die Süddeutsche und für diverse Funkhäuser, wollte er künftig seine Meinung für sich behalten. Sollten jetzt andere irren! Gelegentlich beantwortete er die Frage, ob er noch schreibe, mit Ja, er sitze an einer Enzyklopädie seiner Bildungslücken, leider ohne Hoffnung auf Vollendung des Werkes. Darauf folgte meist verständnisvolles Schweigen.
Aber eine Lücke war vielleicht zu füllen. Auf der Suche nach einem Thema für Arbeit und Leben hatte er 1962 den damals noch exotischen Umweltschutz entdeckt und schrieb einigermaßen keck darüber. Von Kollegen belächelt, von liberalen Chefredakteuren geduldet, von ahnungsvollen Interessenten aus Politik und Wirtschaft als Störer beargwöhnt, predigte er die neue Lehre von der Ökologie. Er traute sich an vieles heran, von A bis Z, von Artenvielfalt bis Zirkaloy für Reaktor-Brennelemente. Doch es blieb stets ein gefühlter, oft auch erfahrener Mangel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen. (Eine dürftige Schulbildung aus Nazizeit und Kriegsjahren verbindet über alle Grenzen hinweg die Angehörigen der Jahrgänge 1923 bis 1929, von Günter Grass über Dieter Hildebrandt bis Helmut Kohl.)
Deshalb studiert er (Jahrgang 1927) als Ruheständler Biologie, theoretisch aus Büchern, aber praxisbegleitet auf dem zweiten Bildungsweg durch den Garten. Er wüsste gern, warum manche Pflanzen sich durch Stecklinge vermehren lassen, andere nicht. Das ist den richtigen Biologen sicher bekannt, aber nicht ihm, und deshalb experimentiert er. So fand er zum Beispiel nicht bestätigt, was in manchen Gartenbüchern steht: dass Reiser von Edelrosen meist Kümmerlinge ergeben. Er hat prächtig blühende Klone gezogen – selbstverständlich nur zum Eigengebrauch mit Respekt vor dem Sortenschutz der Züchter.
Bei diesem Tun gedenkt er seines tschechischen Großvaters Karel Cerny. Der hat als progressiver Gärtner um 1900 in Dresden die Tomate bekannt gemacht. Er wurde als österreichischer Staatsbürger 1914 im schon fortgeschrittenen Alter zum k.u.k.-Landsturm eingezogen und starb 1916 in rumänischer Kriegsgefangenschaft. Ihm fühlt sich der Ruheständler geistig wie genetisch eng verbunden.
Hobbygärtnerei, Naturliebe, biologischer Dilettantismus, Umgang mit geduldigen und wehrlosen Pflanzen – das alles ist doch nur sanfter Ruhestandskonsum. Zu einem guten Gewissen verhilft das nicht. Womit hat man es verdient, das mörderische 20. Jahrhundert mehr oder weniger mitschuldig überlebt und dann auch noch eine weltgeschichtlich beispiellose Welle des Wohlstands genossen zu haben? Wie kann man etwas zurückgeben oder weitergeben? Als lutherischer Evangelischer hält der Ruheständler nichts davon, sich durch gute irdische Werke einen Schatz im Himmel oder einen »gnädigen Gott« verdienen zu wollen, aber von dem moralischen Prekariat, das sich über »Gutmenschen« lustig macht und intellektuell erhaben fühlt, hält er noch viel weniger.
Deshalb ist er dabei, wenn die »Osteuropahilfe e. V.« der Landkreise Starnberg und Bad Tölz/Wolfratshausen alles sammelt, was in der vom Krieg verwüsteten armen ukrainischen Stadt Brody und in einer dortigen Schule für hörbehinderte Kinder fehlt: Krankenhausbedarf vom Röntgengerät bis zum Bettlaken, daneben Schulbänke, Computer sowie Hörgeräte und Geld für die dafür nötigen Batterien, außerdem ungezählte Säcke mit Schuhen und Kleidung. Zweimal im Jahr werden zwei Sattelschlepper von einer Truppe rüstiger Rentner beladen, nach Brody begleitet und dort wieder entladen. Die Fahrer, unbezahlt, sind Johanniter und Malteser aus Schwaben, die ihren Urlaub für die Reisen opfern. Alle zusammen sind sie eine lustige Gesellschaft mit viel Spaß, Geldbedarf und Muskelkater, eine Art Frischhaltepackung für einen Achtzigjährigen.
Hier weitere Fragen über das Alter:
Frage 2:
Wie wichtig ist im Alter das Aussehen?
Frage 3:
Entwickelt man sich mit den Jahren zum Reaktionär?
Frage 4:
Macht das Alter maßlos?
Frage 5:
Wie wird es sich anfühlen, an früher zu denken?
Frage 6:
Was kann man tun, um im Alter nicht müde zu werden?
Frage 7:
Was tun, wenn man nicht ins Altersheim will?
Frage 8:
Wie geht man mit Krankheit um?
Frage 9:
Was verändert sich im Alter überhaupt nicht?
Frage 10:
Macht es melancholisch, plötzlich Opa zu sein?