Wenn es dem Hund peinlich war, dann war er höflich genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Sein Herrchen fuhr in München auf einem Monowheel vorneweg, einem elektrischen Einrad mit links und rechts ausklappbaren Standflächen, der Vierbeiner trottete hinterher. »Gassi stehen«, kommentierte das jemand auf Instagram, und besser ließ es sich nicht beschreiben.
Spontan würden einem noch ein paar Wortschöpfungen für die moderne Großstadt einfallen: »Stadtrundstand« für die Segway-Touren, in denen Touristen wie auf riesigen Personenwaagen stehend durch die Innenstadt rollen. »Zur Arbeit stehen« für alle, die für den Weg ins Büro einen Elektro-Tretroller nutzen. »Schulsteg«, wenn Schüler auf einem Hoverboard dahingleiten. Ständig kommen neue Fortbewegungsmittel auf den Markt, die uns in den von Autos verstopften Städten schneller und bequemer von A nach B befördern sollen, uns gleichzeitig aber auch fort von der körperlichen Bewegung bringen. Einfach gehen? Total überholt.
Die Zahl der Meter, die Deutsche im Alltag zu Fuß zurücklegen, hat über die Jahre deutlich abgenommen. Laut einer Studie der Technischen Universität Dresden zur Mobilität in Städten waren die Deutschen 1982 noch auf 43 Prozent aller Wege als Fußgänger unterwegs, 2013 nur auf 30 Prozent. Klar, vom Büro zum Restaurant, zur Garage, zum Fahrradständer, beim Einkaufen in der Fußgängerzone – gefühlt latschen wir ständig durch die Gegend. Darauf ist der Homo sapiens, als aufrecht gehender Mensch, ja auch ausgelegt. Doch was man unter »fußläufig« versteht – da haben sich die Dimensionen gründlich verschoben. Lief der Durchschnittsdeutsche Ende des 19. Jahrhunderts gezwungenermaßen bis zu 15 Kilometer am Tag, sind es heute rund 1,1 Kilometer. Trotzdem fragen wir weiter: »Wie geht’s?« Ursprünglich um sich höflich zu erkundigen, ob jemand gesundheitlich noch auf der Höhe, also gut zu Fuß war. Antwort: »Gut«, »Schlecht«, »Muss ja« oder eben: »Geht so«. Wobei bei vielen in Wahrheit eben nicht viel geht.
Dabei ist Gehen eine unglaublich gesunde Sache. Täglich 10 000 Schritte wären ideal, sagen Mediziner, um das Herzinfarktrisiko zu senken und das Übergewicht dazu. Bei einer Körpergröße zwischen 1,70 und 1,90 Metern käme man da auf gut sieben Kilometer am Tag. Wenn es nur nicht so mühsam wäre.
Für den modern gestressten Menschen ist Laufen jedoch vor allem zu langsam. Ständig ist die Rede davon, wie sehr sich das Leben beschleunigt – wie soll man da im Gehen Schritt halten? 2007 wurde untersucht, wie sich die Laufgeschwindigkeit in Großstädten innerhalb eines Jahrzehnts verändert hatte. Im Schnitt war sie um zehn Prozent gestiegen. Am schnellsten waren die Leute in Singapur unterwegs, Berlin lag mit 1,6 Metern pro Sekunde noch vor New York. Schnell zum Zug, schnell noch was besorgen, schnell irgendwo reinspringen, ein häufig genutzter Status in Social Media: »Always on the run.«
Schon Kinder bekommen das zu spüren. Ihr Bummelgang, der von Sitzstreiks und spontanen Richtungswechseln geprägt ist, passt oft nicht in das verfügbare Zeitfenster. Also werden sie vom Kinderwagen aufs Trittbrett auf den Fahrradsitz gesetzt, mit Rollern, Laufrad, Kinderrad mobilisiert. Wenn dann doch mal ein Fußweg ansteht, sagt das Kind nach kurzer Zeit: »Ich kann nicht mehr.«
Sie müssen ja auch nicht, »urban mobility« ist das Trendwort der Stunde: die möglichst hohe Beweglichkeit von Personen im städtischen Raum – was sich total agil anhört, aber nicht zwangsläufig mit Körperertüchtigung zu tun hat. Autos sollen wegen Feinstaub und Dieselgate eine immer geringere Rolle spielen, die »micro mobility« dagegen eine große: Gemeint sind elektrobetriebene, umweltfreundliche Transportmittel wie eBikes, Segways oder eVespa-Sharing, das seit Kurzem Berlin überrollt. Vor allem die ersten und letzten Meter könnten sie überbrücken, von der Haustür bis zur nächsten Bahnstation oder zum Carsharing.
Irgendwann könnte man die Bürgersteige dann wirklich hochklappen. So wäre auch die Sache mit dem fehlenden Parkraum gelöst. Zwar müssten die letzten Schuster auf Schlüsseldienst umschulen, dafür würden sie ziemlich viele Schlösser für die neuen Transportmittel verkaufen. Oder kommt dann das Shoe-Sharing? In den USA werden elektrische Rollstühle längst nicht mehr nur von Gehbehinderten, sondern mehr und mehr von Lauffaulen genutzt. Das ganze Land: eine einzige No-go-Area.
Allerdings gibt es auch die Gegenbewegung. Fußgänger sind für Verkehrsplaner plötzlich wieder interessant, weil sie sich sauber, leise und energieschonend bewegen und selten Stau verursachen. In den nächsten Jahren wollen Städte und Kommunen mehr in Fußwege investieren. Es wird über neue Flaniermeilen nachgedacht, so wie die bereits erfolgreich bevölkerte High Line in New York oder die »Paris Plages«, wo im Sommer Straßen zugunsten von Strand und Promenade geschlossen werden.
Die »walkability« von Vierteln ist schon lange ein gut vermarktbares Premium-Merkmal von Städten. Jetzt, wo die Innenstadtlagen für immer weniger Leute bezahlbar sind, könnte sie bald auch zum sozialen Distinktionsmerkmal werden. Wer zu Fuß unterwegs ist, kann es sich von der Wohnlage her leisten, zeitlich offensichtlich auch. Wer geht, signalisiert: Läuft bei mir.
Fotos: Coke Bartrina / AP