Als Frank Burkart, 37, alles erreicht hatte, was man sich im Leben wünschen kann, war der Arzt gerade einmal 34 Jahre alt – eine eigene HNO-Praxis, die Ehe glücklich, die beiden Kinder gesund, dazu eine Eigentumswohnung am Bodensee. Für die wenige Freizeit kaufte er sich ein gebrauchtes Segelboot. Um die Wohnung und die Einrichtung der Arztpraxis bezahlen zu können, nahm er im Jahr 2003 einen Kredit von 800000 Euro auf. Seine Bank erstellte ein Wirtschaftlichkeitsgutachten und genehmigte ihm den Kredit zügig. Sie hatte keine Bedenken, dass der Arzt das Geld über die Jahre nicht zurückbezahlen könnte. Frank Burkart schon. Ihn quält eine Angst, die nichts zu tun hat mit dem mulmigen Gefühl, das Existenzgründer stets begleitet: die Angst vor dem Abstieg. »Heute spricht alles vom Niedergang«, sagt Burkart. Die vielen Geschichten von Menschen, die aus dem Mittelstand erst in die Arbeitslosigkeit und dann ins Bodenlose trudeln, lassen ihn nachts nicht mehr schlafen. Sie haben ihm den Glauben an eine sichere Zukunft geraubt. »Wenn es jemand schafft, dann ich«, sagte sich Frank Burkart immer wieder selbst. Er schrieb diesen Satz auf einen orangefarbenen Merkzettel und klebte ihn auf seinen Badezimmerspiegel. Er riss einen neuen Zettel vom Block ab und schrieb darauf mit großen Buchstaben: »Ich bin mir sicher wie nie zuvor in meinem Leben.« Dann noch einen: »So wie du mit Patienten umgehst, rennen sie dir die Praxis ein.« Wenn Frank Burkart morgens aufsteht, sieht er an seinem Spiegel viele Zettel und daneben einen Mann, der Angst davor hat, alles zu verlieren. Eine neue Form der Angst hat die bürgerliche Mitte der Bevölkerung erreicht und bedrückt viele Menschen so wie Frank Burkart: die Angst vor dem sozialen Absturz. Was früher als festes Fundament selbstverständlich schien, hat sich zu einem brüchigen Boden entwickelt. Auf ihm balancieren die Menschen vorsichtig und ohne rechtes Vertrauen. Weniger als die Hälfte aller Berufstätigen hält ihren Arbeitsplatz noch für sicher, weit mehr als die Hälfte erwartet für Deutschlands Zukunft eine kälter werdende Gesellschaft, wie das Allensbach-Institut herausfand. Daran dürfte auch der Stimmungsaufschwung nicht viel ändern, der sich seit dem allseits als positiv empfundenen Start der großen Koalition eingestellt hat. Je klarer es wird, dass auch das selbstbewusste Auftreten einer Kanzlerin Merkel noch lange nicht fünf Millionen Arbeitslose wegzaubert, desto nachhaltiger wird sich das Gefühl der Bedrohung bei uns festsetzen. Wie tief sich Ängste in der Mitte der Bevölkerung eingenistet haben, zeigen die statistischen Kurven des Heidelberger Politikprofessors Manfred G. Schmidt. Sie signalisieren jahrelanges Wachstum, wie in den besten Tagen der Republik, aber kein positives. Schmidts Grafiken bilden den so genannten deutschen Angstindex ab, den die Versicherungsgruppe R+V seit 1991 veröffentlicht. An ihm lässt sich der Anteil der Deutschen ablesen, die der Zukunft mit »großer Angst« gegenüberstehen. 25 Prozent waren es noch 1991, seitdem ging es je nach Lesart bergab oder bergauf. Im vergangenen Jahr überschritt der Anteil der Deutschen mit großer Angst erstmals die Marke von fünfzig Prozent. Dafür verantwortlich ist vor allem ein sprunghafter Anstieg persönlicher Ängste. Die Deutschen fürchten sich nicht mehr so stark vor Terrorismus, Kriminalität oder Krieg. Dafür umso mehr vor eigener Arbeitslosigkeit, sinkendem Lebensstandard und schwerer Krankheit. An welchem Tag genau sich das alte Leben von Ralf Dell, 42, auflöste und er das neue nicht aufzuhalten wusste, kann er heute nicht mehr sagen. Aber er trägt ein Foto in seinem Geldbeutel, das sein Leben zeigt, als es noch in Ordnung war: Ein Mann in einem karierten Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln ist darauf zu sehen, zwei Buben im Arm, einen rechts, einen links, alle drei lachen in die Kamera, ihre Augen strahlen blau, die Haare zerzaust der Wind. Das Foto hat Ralf Dells Frau im Sommer 2002 aufgenommen. Heute ist diese Frau seine Exfrau, seine Söhne sieht er nur am Wochenende und der Mann auf dem Foto hat mit dem, der vor einem sitzt, nur noch die blauen Augen gemeinsam. Alle Haare sind ihm ausgefallen, jedes einzelne am ganzen Körper, und manchmal, wenn alles ganz schlimm wird, weichen ihm auch die Fingernägel auf und auf der Haut bilden sich juckende Ausschläge. Ärzte können ihm nicht helfen, »ist wohl was Psychisches«, sagen sie. Ralf Dell erzählt, dass er schon als Kind immer viel zu sensibel auf alles reagiert habe – und als er zum ersten Mal hörte, dass die Firma, für die er als Dreher arbeitete, verkauft werden würde, traf es ihn tief in der Seele.
Seit einem halben Jahrhundert stellte LOH in Wetzlar optische Präzisionsmaschinen her, ein deutsches Weltunternehmen in der Hand der Gründerfamilie, aber dem Druck der globalisierten Welt konnte es irgendwann nicht mehr standhalten – genau wie viele andere in Wetzlar ansässige Firmen, zum Beispiel Leitz, Buderus oder Hensoldt, die verkauft oder zerschlagen wurden. Dell befiel panische Angst, seine junge Familie nicht mehr ernähren zu können: »Hartz IV, das wäre das Letzte für mich! Da könnte ich morgens nicht mehr in den Spiegel schauen.« Die Angst zermürbte ihn, dazu die andauernden Streitereien mit seiner Frau – plötzlich fielen ihm die Haare aus. Irgendwann brach die Welt von Ralf Dell ganz in sich zusammen: Zuerst kam die Scheidung, dann die Schweizer Investorengruppe, die LOH kaufte, zerschlug und mit anderen Firmen fusionierte. Heute wirbt das neu gegründete Unternehmen Satisloh auf der strikt englischen Homepage damit, ein Komplettanbieter für die Bearbeitung von Brillengläsern zu sein, mit einem Weltmarktanteil von sechzig Prozent und 14 Firmensitzen in elf Ländern, in Brasilien, Hongkong, Indien. Auf der Homepage kann man die Produktionsstandorte auf einer Weltkarte anklicken, bei Nummer drei landet man in Wetzlar. Und bei Ralf Dell, dem Mann ohne Haare, der jetzt Angestellter einer neu gegründeten Subfirma von Satisloh ist, weil seine Abteilung »outgesourct« wurde, ausgelagert also. Jetzt hat Dell Angst, dass auch sie bald zumachen wird, wenn sie nicht profitabel genug ist. Dell ist aber keiner, der meckert und motzt. Er versteht, dass die neuen Chefs, die sich jetzt CEOs nennen, wirtschaftlich denken, dass sie von 260 Mitarbeitern ein Drittel entlassen mussten. Dell kann sich mit allem arrangieren, mit dem bisschen, was er hat: Er ist zufrieden, wenn er sich einmal im Monat einen Spieß mit Reis beim Griechen bestellen kann, und er schneidet ein Küchenkrepp in der Mitte durch, um es zweimal zu benutzen. Aber mit der Angst kommt er nicht zurecht. Allein im letzten Jahr war er siebzig Tage krank, andauernd hat er Infekte, Allergien und immer diese Probleme mit der Haut – nichts kann er dagegen unternehmen. Ralf Dell ist einer, der im Stillen leidet. Dells Schicksal zeigt, dass es nicht nur gesundheitsgefährdend ist, den Job zu verlieren, sondern auch, sich davor zu fürchten: »Angst vor Arbeitsplatzverlust kann in ihren vielfältigen psychosozialen Facetten die Folgen von Arbeitslosigkeit sogar übersteigen und ist insofern sehr ernst zu nehmen«, sagt der langjährige WHO-Berater Professor Thomas Kieselbach, Sprecher des Instituts für Psychologie der Arbeit an der Uni Bremen. Sie könne zudem negative Folgen für das Zusammenleben der Menschen haben, warnt auch der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer. Der hohe Anteil an Menschen, denen ein grundlegendes Sicherheitsgefühl abhanden gekommen ist, sei alarmierend. Gut zwei Drittel von Heitmeyers Befragten sagten, sie wüssten nicht mehr, was los ist und wo sie stehen – hätten aber früher genau gewusst, was zu tun ist. Eine der Folgen könnte steigende Fremdenfeindlichkeit sein, meint der Soziologe. Über sechzig Prozent sagen, es lebten zu viele Ausländer im Land, ein über die Jahre deutlich gestiegener Wert. Wie die Angst vor dem Abstieg die Menschen krank macht, wie sie sich in Gewaltausbrüchen entlädt und Familien zerstört, weiß die Psychotherapeutin Elisabeth Grotmann. Sie leitet die Beratungsstelle für Ehe- und Familienfragen in Wetzlar. In ihren Räumen sitzen Ralf Dell und Klienten mit ähnlichen Schicksalen auf etwas in die Jahre gekommenem Mobiliar – Grotmann arbeitet schon mehr als zwanzig Jahre hier. Sie sagt, dass sich die Gesprächsinhalte über die Jahrzehnte immer wieder verändert haben, doch nie so massiv wie in den letzten drei, vier Jahren: Früher ging es um die Selbstbestimmung der Frau, um Kindererziehung, später um Probleme bei Patchwork-Familien, aber immer um eine Lebensberatung nach dem Stil: Wie wollen wir unser Leben gestalten? »Heute geht es in neunzig Prozent der ungefähr 370 Familien, die wir beraten, um drohenden Existenzverlust, um Eheprobleme, die aus einem starken Sozialdruck resultieren, um panische Angst, durch das soziale Netz zu fallen.« Die neuen Fragen der Menschen bringen auch für die Berater neue Herausforderungen mit sich: Deswegen hat Grotmann zusammen mit einer Frankfurter Kollegin die Arbeitsgruppe »Angst vor dem sozialen Abstieg« ins Leben gerufen, um im Mai auf der Bundestagung psychoanalytischer Paar- und Familientherapeuten über die neuen Fragen zu diskutieren.
Grotmanns Klienten fällt es oft schwer, über die Abstiegsangst zu sprechen, »ein Tabuthema«, sagt sie. Meist kommen sie aus anderen Gründen, »doch dann quillt es während der Beratung aus ihnen heraus«. Viele versuchen den Schein zu wahren und kaufen ihren Kindern weiterhin die teuren Turnschuhe, behalten das große Auto, auch wenn sie es sich schon gar nicht mehr leisten können. Einige zeigen körperliche Symptome, wie man sie auch von anderen Angst- und Traumastörungen kennt: Die Menschen wirken gehetzt, ähnlich einem Hamster im Laufrad. Sie leiden unter Schlaflosigkeit, Kopf- und Magenschmerzen, Verspannungen, Allergien, sie essen zu viel oder zu wenig. Die meisten empfinden ihre Situation als beklemmend. »Wer Angst hat, ist nicht mehr fähig zu Kreativität, macht keine Musik, malt keine Bilder, träumt schlecht, vergisst alles andere. Eine Gesellschaft voller Menschen in Angst entwickelt sich nicht mehr weiter«, sagt Grotmann. Die neue Angst habe aber auch eine weitere, fast zynische Dimension: »Während wir diese Menschen beraten, müssen wir Berater uns selber mit dieser Abstiegsangst auseinander setzen: Im letzten Jahr wären uns um ein Haar dreißig Prozent der Zuschüsse gestrichen worden. Mein Job ist bedroht, während ich jemanden berate, dessen Job bedroht ist. Ein seltsames Gefühl.« Wie leicht man durch billige Konkurrenz zu ersetzen ist, weiß Andreas Hedler, 42. Im März 2005 wurde dem Ingenieur mitgeteilt, dass sein Arbeitsplatz bei IBM nach Osteuropa verlagert werde. Anfang Juni standen dann Veronika und Louisa in seinem Büro, zwei junge Tschechinnen, erst 20 und 21 Jahre alt, seine Nachfolgerinnen, die Hedler und eine Kollegin nun anlernen mussten. Eine Woche lang wohnten und arbeiteten die beiden Frauen in Schweinfurt. Zu viert saß man im selben Raum, Hedler mit seiner Kollegin, Veronika und Louisa, auf wenigen Quadratmetern, Rücken an Rücken. Jeder neue Handgriff, den er den beiden beibrachte, war ein Schritt näher an seine Arbeitslosigkeit. Er war damals 41, die Arbeitslosenquote in Schweinfurt betrug zwölf Prozent. »Sie waren sehr gut ausgebildet, die Übergabe ging leicht, sie haben schnell verstanden, das war zusätzlich frustrierend«, erinnert sich Hedler. Veronika und Louisa war die Situation sehr unangenehm, »sie haben sich zurückgezogen«. Noch am ersten Tag sagte er ihnen: »Mädels, ihr könnt doch nichts dafür.« Drei Monate später, am 30. September 2005, einem Freitag, war für rund 300 Mitarbeiter in Schweinfurt der letzte Arbeitstag. Bis zum letzten Moment hat Hedler für IBM gearbeitet, sechs Monate in dem Wissen, dass es zu Ende geht – »die Arbeit hat nicht groß darunter gelitten. Vielleicht hätten wir zeigen sollen, dass es ohne uns nicht geht«, sagt Hedler. »Als die SPD 1998 die Neue Mitte beschworen hat, war die Erosion der Mittelklasse bereits im Gange«, sagt Klaus Dörre, Professor für Arbeitssoziologie an der Universität Jena. Dass in Deutschland etwas schief läuft, sieht Dörre schon von seinem Wohnzimmerfenster aus: Er blickt auf den Unternehmenssitz von Carl Zeiss Jena, »ein Teil der dortigen Produktion wird nach China verlagert«. Dörre sieht von seinem Haus aus auch die großen Leuchtbuchstaben von »Jenapharm«, dem Pharma-Unternehmen droht eine feindliche Übernahme, ein Stellenabbau wäre wohl die Folge. Dörre hat eine wissenschaftlich belegte Erklärung für die Angst der Deutschen vor dem Abstieg: immer mehr unsichere Beschäftigungsverhältnisse. Quer durch alle Branchen geht man dazu über, Angestellte nur noch mit Zeitverträgen zu beschäftigen. In den letzten zehn Jahren hat sich ihre Zahl verdreifacht. Von seinem Büro in der Universität Jena aus schaut der Soziologe auf die Firma Jenoptik. Das Unternehmen hat einem Teil seiner Angestellten gekündigt und diese anschließend über eine Leiharbeitsfirma wieder eingestellt, zu einem deutlich niedrigeren Gehalt. In einer Studie bei einem großen Automobilwerk fand Dörre heraus, dass ein paar hundert Leiharbeiter nach kürzester Zeit die gesamte Belegschaft von 30_000 Beschäftigten verunsichert hatten. »Soziale Unsicherheit ist wie ein Virus«, sagt Dörre, »sie lähmt die Menschen.«
Yvonne Schmitt, 52, war aus dem Gröbsten heraus und hatte es ganz gut verkraftet, Anfang der neunziger Jahre ihren Posten als Referentin in der Grünen-Bundestagsfraktion verloren zu haben. Dann kam der Tag im Juni vor drei Jahren, an dem sie zum zweiten Mal den Arbeitsplatz verlor. Mit vielen anderen saß sie in einer großen Halle in einem großen Verlag. Der Sanierungsbeauftragte erklärte, warum im Unternehmen gerade die dritte Entlassungswelle rolle, aber nicht daran gedacht sei, die großzügigen Dienstwagenregelungen für die im Haus Verbleibenden auch nur anzutasten. Da brach es aus ihr heraus, sie zitterte und die Stimme war brüchig: »Haben Sie sich mal Gedanken um die Menschen gemacht?« Der Sanierungsbeauftragte stutzte und sagte dann: »Davon können Sie ausgehen.« Sie musste zum zweiten Mal von vorn anfangen: Jobsuche, erfolglose Bewerbungen, ihr Studium und ihre große Erfahrung halfen ihr wenig. »Um dich mache ich mir keine Sorgen«, hatte Yvonne Schmitt immer von ihrem Vater gehört. Wer ihr ansteckendes rheinländisches Lachen hört, der glaubt ihm eigentlich aufs Wort. Die Sorgen machte sie sich selbst. Sie schlief schlecht, ihr Blutdruck war zu hoch, ihre Beziehung geriet in Turbulenzen, sie zog in eine kleinere Wohnung, um zu sparen. Jetzt hat sie wieder einen Job, bei einer Stiftung. Die Lage stabilisiert sich. Yvonne Schmitt wirkt fröhlich, fast wie immer. Nur ihre Freunde merken, dass manche ihrer Bewegungen etwas fahriger sind als noch vor drei Jahren, dass manchmal ein Schatten über ihr Gesicht huscht, den man nicht kannte. In ihr hat sich etwas geändert: »Das Vertrauen ist weg«, sagt sie, »das ist meine neue Grundmentalität.« Und was sie richtig empört, das sind PR-Kampagnen mit der Botschaft, man müsse sich nur was zutrauen, dann werde man die Bäume schon ausreißen, so wie die Aktion Du bist Deutschland. Yvonne Schmitt wird richtig sauer: »›Du bist Kati Witt‹«, schnaubt sie abschätzig, »durch solche Sprüche fühl ich mich wirklich geohrfeigt.« Als Anne Koark mit ihrem Unternehmen Insolvenz anmelden musste, erlebte sie, wovor sich so viele fürchten, »Kreditkarte, Handy, Auto, alles weg, ein Leben ohne Altersvorsorge. Ich hatte unglaubliche Angst, als allein erziehende Mutter ohne Geld, bis ich begriffen habe: Ich bin kein Unternehmen, ich bin Anne Koark, ich habe einen Wert auch ohne Geld.« Sie hat einen Bestseller geschrieben: Insolvent und trotzdem erfolgreich. »Die Menschen lassen es sich im Buchladen als Geschenk einpacken und sagen: ›Das ist für einen Bekannten‹«, so peinlich sei ihnen das. Sie hat einen Verein gegründet für Menschen mit Insolvenzproblemen, 3500 sind in ihrer Kartei, tausende haben ihr am Telefon von ihren Sorgen erzählt. Anne Koark ist Engländerin, sie hat sich viele Gedanken darüber gemacht, warum die Deutschen so viel Angst vor dem sozialen Niedergang haben. Auch in Großbritannien werden tausende entlassen, weil die Arbeit in anderen Ländern billiger ist. »Wenn ein Unternehmer in England Probleme hat, unterrichtet er als Erstes sein ganzes Umfeld davon, er nutzt seine Kontakte«, sagt sie. In Deutschland ist es eine Schande, wenn man hinfällt, in England dagegen, wenn man hinfällt und nicht wieder aufsteht – das erzählt man schon den Schulkindern. Dass die Deutschen schlechter mit beruflichen Umbrüchen umgehen können als die Menschen in Spanien, Italien oder Griechenland, hat eine vergleichende Studie in mehreren Ländern zum Thema Jugendarbeitslosigkeit ergeben. Die Deutschen haben demnach ein höheres Bedürfnis nach persönlicher Sicherheit. Doch sie müssen sich wohl auf schwierige Situationen dauerhaft einstellen, so sieht es auch der Bremer Psychologie-Professor Kieselbach: »Wir müssen nicht nur Inflation oder Wirtschaftswachstum kontrollieren, sondern auch den Menschen besser auf kritische Lebensereignisse vorbereiten« – frühzeitig, schon in der Schule und der Universität. Kieselbach hat dafür einen einprägsamen Begriff: »In Zukunft brauchen die Menschen sozialen Geleitschutz.«