Gesine Schwan hat ihren ersten Mann früh verloren: »Einem Sterbenden bleibt man immer etwas schuldig.«
GESINE SCHWAN
Politikerin, 70, kandidierte 2004 und 2009 für das Amt der Bundespräsidentin
»Meine Mutter und mein Bruder waren viel konfliktfreudiger als ich, ich litt unter unseren Konflikten. Darum habe ich als Jugendliche versucht, in meiner Familie für Frieden zu sorgen und Streitigkeiten zu schlichten. Die Verantwortung, die ich mir damit unbewusst aufbürdete, wurde für mich später zum Problem: Ich fühlte mich auch für Ereignisse verantwortlich, an denen ich gar keine Schuld hatte. Aber ich tat mich schwer, das zu durchschauen, auch weil ich viel Zustimmung für meine Haltung bekam: alles schaffen zu können. Dann kam die schwere Krankheit und der Tod meines ersten Mannes. Danach spürte ich, dass ich nicht mehr alles bewältigen konnte wie bisher. Mit den großen Schuldgefühlen, die ich im Zusammenhang mit seinem Tod bekam - man bleibt einem Sterbenden immer etwas schuldig, aber die genauen Ursachen habe ich nicht erkannt -, wurde ich kaum fertig. Nach außen hin habe ich wie immer funktioniert, doch innerlich wurde ich depressiv. Erst eine längere psychoanalytische Behandlung half mir dabei, mich von diesem falschen Schuldgefühl zu befreien. Für Politiker ist das besonders schwierig, weil man ständig kritisiert und angegriffen wird. Man sollte diesen oft falschen Vorwürfen gegenüber resistent sein und trotzdem sensibel bleiben. Hier ist es wichtig, aber sehr schwierig, eine gute Balance zu finden. Man muss sie wohl jeden Tag aufs Neue suchen.«
ULLA HAHN
Lyrikerin, 67, wurde früh von Marcel Reich-Ranicki gefördert, ihr größter Publikumserfolg war der autobiografische Roman »Das verborgene Wort«
»Wie gern wäre ich nach der mittleren Reife auf der Realschule weiter zur Schule gegangen, aufs Aufbaugymnasium in Leverkusen. Aber das kostete Schulgeld, während ich als Industriekaufmannsgehilfelehrling - ja, so hieß das wirklich - immerhin 50 Mark monatlich nach Hause brachte. Das knappe Jahr in dem Büro war eine endlose Quälerei mit Stenografie und Schreibmaschine, Ablage und doppelter Buchführung. Bis auf einem Klassentreffen Lehrer Rosenbaum, dankbar sei hier sein Name genannt, meine Verzweiflung bemerkte und mir zurück auf die Schulbank verhalf. Unvergesslich: diese Fahrt zu meinem ersten Schultag! Die Richtung der Straßenbahn war die gleiche, aber wo die meisten wie gewöhnlich ausstiegen, bei der Fabrik, blieb ich glückselig sitzen. Fuhr vorbei an Debit und Kredit, ›Sehr geehrte Herren‹ und ›Hochachtungsvoll‹. Fuhr, den Rhein entlang, den Rhein hinauf, frei wie mein geliebter Strom. Frei. Für neue Regeln und Anstrengungen, gewiss, aber diesmal von mir selbst gewollt. Sich eigene Regeln setzen und ihnen freiwillig folgen (oder auch nicht): Das ist Freiheit!«
DORA HELDT
Schriftstellerin, 51, schrieb den Bestseller »Urlaub mit Papa«
»Ich habe immer versucht, es meinen Partnern recht zu machen, um meine Beziehungen am Leben zu halten. Meine Eltern sind seit 55 Jahren verheiratet und harmonieren noch, das war für mich die Norm. Als ich 40 wurde, ging meine Ehe trotzdem in die Brüche, was mir das Gefühl gab, versagt zu haben. Danach wurde ich in meinem Bekanntenkreis ständig gefragt, ob ich nicht endlich jemanden kennengelernt habe. Bei Feiern saß ich in der Single-Ecke, gern neben extra eingeladenen Single-Männern. Es stimmt etwas nicht, wenn man zu lange allein ist. An einem Geburtstag saß ich neben einem Paar und bekam mit, wie der Mann in ein gutes Gespräch verwickelt war und die Frau nur danebensaß. Irgendwann kam von ihr die typische Frage ›Schatz, wollen wir mal los?‹ Sie blieb ihm zuliebe noch eine halbe Stunde, dann ging er ihr zuliebe mit nach Hause, gereizt. Ich war in dem Moment sehr froh, dass ich diese Kompromisse nicht mehr eingehen muss. Mir sagt niemand: Wir wollen dies oder jenes. Da wusste ich: Ich habe mich davon frei gemacht, unbedingt einen Partner zu wollen.«
»Ich bin eine Meisterin der Selbstzerfleischung«
Freiheit durch Familie: Anneke Kim Sarnau.
ANNEKE KIM SARNAU
Schauspielerin, 41, mit Charly Hübner im Team vom »Polizeiruf 110« Rostock
»Ich habe jetzt einen kleinen Sohn und endlich Ruhe vor mir selbst. Keine Zeit mehr für das eigene Ego, Pause. Ich bin wie befreit von der ständigen Auseinandersetzung mit mir. Als hätte es mich geerdet, ein Kind zu haben. Dabei habe ich früher nicht gewagt, von einer Familie zu träumen. Und jetzt das große Ganze. Denn eigentlich habe ich ein Talent dazu, alles schwerzunehmen, bin eine Meisterin der Selbstzerfleischung - wie viele andere sicherlich auch. Trotzdem. In meiner Jugend war ich sehr gefangen in meinen Mustern und auch meinen Selbstzweifeln ziemlich ausgeliefert. Um mich herum sah ich immer wieder Leute, die trotz Enttäuschung oder Verlust weitergemacht haben. Und ich? Habe mir bei jeder Gelegenheit - manchmal schon, wenn jemand was Falsches gesagt oder nicht angerufen hat - mein negatives Selbstbild bestätigen lassen. Es hat damals viel Kraft gekostet, mich von so etwas nicht runterziehen zu lassen. Doch heute geht das.«
JUDITH HOLOFERNES
Sängerin, 36, gründete die Band Wir sind Helden im Jahr 2000 im Popkurs Hamburg
»Als meine Band 2010 in die Pause ging, hatte ich keine Ahnung, was ich als Nächstes machen würde. Und genau das hatte ich mir gewünscht: die Freiheit, nichts zu wissen, nichts zu müssen, einfach stillzuhalten. Und so hängte ich eine imaginäre Hängematte in meinen imaginären Garten und übte mich im Schaukeln. Aber ach! Bei den ersten Versuchen wurde mir übel. Bei den darauffolgenden schlief ich ein und träumte wilde Hundeträume mit zuckenden Pfoten. Ich schreckte hoch, fiel, rappelte mich auf, stieg wieder ein. Er will geübt sein, der Müßiggang! Eine ungezähmte Hängematte kann dich abwerfen wie ein störrisches Pferd. Aber weil ich stur und ehrgeizig bin, schaukelte ich bald sanft und sicher - wenn ich träumte, schaukelte ich in den Wolken weiter. ›Ich mach heut’ nichts!‹, dachte ich beim Aufwachen zufrieden. ›Nichts! Nichts! Nichts!‹ Hmm. ›Nichts, was etwas nutzt, wobei man schwitzt oder lang sitzt.‹ Hmm. ›Ich bin Nichts! Nichts! Nichts! Nutz! Nutz! Nutz! Nichts was etwas nutzt, was unterstützt oder was putzt.‹ Und damit ging ich federnden Schrittes ins Haus, mein Notizbuch und meine Ukulele zu holen.«
MAGDALENA NEUNER
Ex-Biathletin, 26, gewann zwölfmal Gold bei den Biathlon-Weltmeisterschaften
»Als ich 2010 nach den Olympischen Spielen in Vancouver wieder in München ankam, hatte ich meinen Freund Sepp vier Wochen nicht gesehen. Ich freute mich unglaublich auf ihn. Doch als die Tür aufging und ich auf ihn zulaufen wollte, stürzte eine Horde Fotografen auf mich zu. Ich versuchte, mir den Weg freizumachen. Ein Sicherheitsbeauftragter zog mich wieder weg, schirmte mich ab, ich konnte nicht zum Sepp. In diesem Moment kam mir das erste Mal der Gedanke, mit dem Profisport aufzuhören. Ich hatte früher immer Spaß daran gehabt, aber zuletzt habe ich nur noch funktioniert, mein Alltag war fremdbestimmt, von den Medien, vom Training. Ich wollte mein Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Zuerst habe ich diesen Gedanken mit niemandem geteilt. Ich hatte Angst vor den Reaktionen meiner Familie, der Freunde, der Fans. Ich war ja erst 25, das ist jung, um sich aus dem Profisport zurückzuziehen. Ein Jahr hat es gedauert, bis ich bereit war, meinen Rücktritt öffentlich bekanntzugeben. Am 7. Dezember 2011 war die Pressekonferenz. Ich war noch nie so aufgeregt wie davor, auch noch nie so frei wie danach.«
KATRIN SASS
Schauspielerin, 56, hatte nach einer Karriere in der DDR ihr Comeback 2003 in »Good bye, Lenin!«
»Ich habe mich immer frei gefühlt - auch in der DDR. Ich konnte alles machen, hatte Freunde, meine Karriere lief gut. Ich habe das System nie hinterfragt. Erst als ich nach dem Fall der Mauer Einblick in meine Stasi-Akte hatte, wurde mir klar, wie massiv der Einfluss des Systems auf mein Leben war: Meine beste Freundin hatte mich jahrelang bespitzelt. Und ich hatte ihr alles erzählt: von Problemen mit Partnern, Stress bei der Arbeit, Streit in der Familie. An den vielen gemeinsamen Abenden habe ich dem ganzen Stasi-Apparat Einblick in meine Gefühlswelt gegeben. Aus meiner Akte ging auch hervor, dass die Stasi mir viele Aufträge nicht zugestanden hatte - aus Ost und West. Wer weiß, was für Rollen mir entgangen sind. Einladungen aus dem Ausland haben mich nicht erreicht. Im Nachhinein von Unfreiheit zu erfahren ist furchtbar. Nach der Wende stand ich da mit einer Biografie, die ich nicht selbst gewählt hatte, sondern die man für mich vorgesehen hatte. Im Sommer nach der Wende haben mein damaliger Mann Siegfried Kühn und ich uns als Erstes ein Wohnmobil gemietet. Jeden Sommer hatten wir beobachtet, wie die Westdeutschen in ihren Wohnmobilen durch den Osten fuhren. Das war Freiheit für uns. Wir fuhren einfach los. Erster Stop: Romy Schneiders Grab bei Paris. Abends dann landeten wir in einem kleinen Ort an der Atlantikküste und stellten unser Wohnmobil auf einen Parkplatz direkt am Strand.«
»Ich möchte meine Gedanken bestimmen«
Nie mehr rauchfrei: Helene Hegemann.
HELENE HEGEMANN
Schriftstellerin, 21, wurde für ihren Debütroman »Axolotl Roadkill« hochgelobt
»Vor drei Jahren besuchte ich eine Bekannte im Krankenhaus. Sie war 53 Jahre alt und starb gerade an Lungenkrebs. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie an einer Zigarette gezogen und auch sonst überdurchschnittlich gesund gelebt. Sie sah aus, als sei sie bereits tot, sie wusste das und lächelte. Ich war überfordert, aber sie lächelte weiter. Ich hatte damals viele französische Siebzigerjahre-Filme gesehen, in denen zynisch gelassene Protagonisten selbst in größtem Elend cool geblieben waren. Im Gegensatz zu denen bekam ich ernsthafte Panik. Nachdem ich eine halbe Stunde lang brutal hysterisch versucht hatte, nicht zu weinen, sagte sie zu mir, ich solle niemals aufhören zu rauchen. Die Befreiung war die Feststellung, dass wir Fesseln brauchen. Keine dummen Regeln, sondern natürliche Begrenzungen, die uns davon abhalten, uns zu langweilen. Die größte Begrenzung besteht darin, dass wir sowieso alle sterben, zum Glück. Man sollte sich also nicht noch mehr auferlegen. An einer Zigarette zu ziehen und zu demonstrieren, dass mir gerade etwas wichtiger ist, als lange zu leben, kommt mir seit diesem Tag im Krankenhaus lebenswerter vor, als davon ausgehen zu müssen, selbst für den Zeitpunkt meines Todes verantwortlich zu sein.«
HAFSUA HERZI
Schauspielerin, 26, spielt in Caroline Links neuem Film »Exit Marrakech« eine Prostituierte
»Ich bin in einem Vorort von Paris aufgewachsen, in dem es nicht leicht war, Frau zu sein und einen weiblichen Körper zu haben. Die Männer saßen draußen rum und starrten die Mädchen an. Um keine Blicke auf mich zu ziehen, habe ich immer weite Klamotten getragen. Die Frauen, die sexy waren, wurden gleich als Schlampe abgestempelt. Ich war immer dünn, beinahe mager. Das war ein Schutz. Es war mir vielleicht auch nicht so bewusst, aber ich war nicht dazu bereit, eine Frau zu werden und zu mir selbst zu stehen. Für meine erste große Rolle als Schauspielerin im Film Couscous mit Fisch musste ich 15 Kilo zunehmen. Ich hatte Panik. Die Rolle sah vor, dass ich Bauchtanz machte, laut war, sexy und meine Weiblichkeit einsetzte, Blicke auf mich zog. Genau das, was ich immer vermieden hatte. Ich musste innerhalb von kurzer Zeit meine Körperform ändern, sichtbar werden und trotz breiterer Hüften und ein wenig Bauchansatz ein gutes Körpergefühl entwickeln. Schließlich war ich im Film eine selbstbewusste, junge Frau. Irgendwann waren die Dreharbeiten zu Ende, aber dieses gute Gefühl ist geblieben - und hat mir Kraft gegeben, auch andere Dinge zu ändern. Ich bin aus meinem Vorort im Norden von Marseille weggezogen nach Paris, ganz alleine. Mittlerweile bin ich seit acht Jahren hier und fühle mich wohl. Manchmal denke ich, dass ich mal wieder ein Kilo abnehmen könnte - wie viele andere Frauen auch. Aber das ist nicht mehr das Wichtigste. Ich schreibe selbst an Drehbüchern, will bald auch Regie führen. Die Blicke der anderen entscheiden nicht mehr darüber, wie ich lebe.
NECLA KELEK
Soziologin und Autorin, 56. Für ihr Buch »Die fremde Braut« erhielt sie den Geschwister-Scholl-Preis
»Als ich 18 wurde, habe ich als Erstes ein Würstchen aus Schweinefleisch gegessen. Das war für mich: Freiheit. Von dem Tag an durfte ich meine Entscheidungen selbst treffen und konnte ein anderes Leben führen als meine Familie für mich vorgesehen hatte: nicht heiraten, sondern studieren; wegziehen. In einer muslimischen Familie entscheiden die Männer über das Leben der Frauen, sie kontrollieren und überwachen sie in der Öffentlichkeit. Sie haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Frauen möglichst unfrei sind. Ihre Macht über die Frauen scheint mir ihre größte Legitimation überhaupt zu sein. In der Schule habe ich gesehen, wie Klassenkameradinnen sich in der Pause Jungsgeschichten erzählten und abends feiern gingen. Ich musste nach der Schule sofort nach Hause. In der 10. Klasse haben sich alle überlegt, was sie später machen wollten. Ich habe sie bewundert: Das durften sie selbst entscheiden! In meiner Ausbildung zur technischen Zeichnerin wurde ich zur Jugendvertreterin gewählt, für mich ein erster Weg in die Eigenständigkeit. Niemand außer meiner Mutter wusste von meiner Gewerkschaftsarbeit. Sie war meine Verbündete. Als ich 17 war, verließ uns mein Vater. Von da an war alles einfacher. Es war ein langer Weg, sich von der Bevormundung anderer zu befreien. Mit dem Problem bin ich nicht allein. In der muslimischen Welt wird gerade über Tradition und Moderne gestritten. Wir wären weiter, wenn es möglich wäre, kritische Bücher darüber zu schreiben, ohne gleich mit einer Fatwa bedroht zu werden.«
CLAUDIA MICHELSEN
Schauspielerin, 44, bekannt aus »Der Tunnel«, ermittelt ab Sonntag im »Polizeiruf 110« aus Magdeburg
»Ich möchte nicht, dass meine Gedanken mich bestimmen. Ich möchte meine Gedanken bestimmen. Dafür nehme ich mir jeden Tag fünf Minuten Zeit. Kein Telefon, kein Beruf, keine Familie. Zeit, in der ich meine Gedanken weglenke vom Alltag, um mich in einen anderen inneren Zustand zu versetzen: mal nicht Erwartungen entsprechen, keinen Zeitplan einhalten, keinen Druck aushalten, keine E-Mail verschicken, nicht an Vergangenheit und Zukunft denken. Das versuche ich einzuhalten wie Zähneputzen, und das klingt einfacher, als es ist. Manche Leute nennen das Meditation, ich nicht. Ich versuche nur, den Kopf leer zu kriegen von all den Gedanken, die einen verrückt machen. Und wenn es mir nicht gelingt, weil ich mich über etwas ärgere oder sehr traurig bin, kriegt der Gedanke noch eine Minute, aber dann verabschiede ich ihn. Oft kommt erst mal Langeweile, und da kann man sich sogar drüber aufregen. Das ist wie eine Säuberung. Daraus entsteht eine andere Wahrnehmung, auch Fantasie.«
Fotos: Andreas Lux c/o Brigitta Horvat; Produktion: Sarah Beckhoff; Haare und Make-up: Lisa Zeitler; Protokolle: Marie Gamillscheg, Laetitita Grevers)
Fotos: Andreas Lux