Keine Ahnung? Gut so!

Mit Google, Facebook und Smartphones kommen wir jederzeit an fast jede Information, die wir brauchen. Schon praktisch. Aber dabei geht viel verloren. Denn ob Filmhandlung, romantische Begegnung oder simple Neugier: Spannend wird unser Leben doch erst dadurch, dass wir Dinge nicht wissen.

Zwischen Ich und Welt steht das Smartphone. Die Frage ist, welche Veränderungen diese allgegenwärtige Wissensquelle herbeiführt, von der Dynamik in Gesprächsrunden bis zu der Einbildungskraft verliebter Paare.

Der Film ist erst zwölf Jahre alt, aber die Geschichte, die er erzählt, wirkt wie aus fremden, längst vergangenen Zeiten: In Weil es Dich gibt mit John Cusack und Kate Beckinsale, einem der größten Kinoerfolge 2001, lernen sich ein Mann und eine Frau zufällig beim Weihnachtseinkauf kennen, und nach ein paar innig verbrachten Stunden in Manhattan trennen sich die beiden, die längst an andere vergeben sind, ohne mehr als den Vornamen voneinander zu wissen. »Denkst du, das gute alte Schicksal wird mir eine Nachricht von dir überbringen?«, fragt der Mann zum Abschied. Die Frau überredet ihn daraufhin, seinen vollen Namen und seine Telefonnummer auf eine Fünf-Dollar-Note zu schreiben, und löst den Schein sofort bei einem Straßenhändler ein. Wenn sie füreinander bestimmt seien, sagt sie, würde ihr der beschriftete Geldschein irgendwann wieder begegnen. Sie selbst speist ihre persönlichen Daten in einen ebenso unberechenbaren Kreislauf ein, indem sie Namen und Telefonnummer in einem Buch hinterlässt, das sie am nächsten Tag an ein Antiquariat verkauft. Die Handlung des Films besteht schließlich darin, die beiden Schicksalsgefährten Jahre später, kurz vor der geplanten Hochzeit des Mannes, durch die zirkulierenden Liebeszeichen von damals doch noch zu vereinen.

Heute käme ein Drehbuch wie Weil es Dich gibt schon nach den ersten Szenen auf unüberwindbare Weise ins Stocken. Die Vorstellung, dass sich zwei jüngere Menschen nahekommen, ohne sich beim Abschied zumindest »Meld dich auf Facebook« zuzurufen oder genügend Hinweise gesammelt zu haben, um einander googeln zu können, ist nicht mehr möglich. Tom Hanks hat kürzlich in einem Interview geäußert, dass »das Handy ganz viel in der Tradition der romantischen Komödie vernichtet hat, weil jeder jeden immer anrufen kann, oder man macht ein Foto von etwas, und die Wahrheit kommt heraus«. In dem Genre, das er in den Neunzigerjahren selbst mit erfolgreichen Filmen bedient hat (Schlaflos in Seattle, E-Mail für Dich), sind Wissenslücken der entscheidende Impuls, um die typischen Geschichten erzählen zu können: Ein Mann und eine Frau verlieben sich ineinander, aber sie tun das entweder in Unkenntnis der realen Person, oder sie werden nach einer kurzen Begegnung voneinander getrennt. Nach einer Reihe von Verwicklungen und Missverständnissen finden sie im Happy End zusammen. Die Medienrealität der letzten zehn Jahre hat dieses dramaturgische Prinzip weitgehend eliminiert.

Meistgelesen diese Woche:

Wie Politiker oder Soziologen regelmäßig betonen, leben wir in einer »Wissensgesellschaft«; die Herstellung, Verteilung und Anwendung von Wissen hat die Produktion von Industriegütern als bedeutendsten Wirtschaftsfaktor abgelöst. Nicht-Wissen wird mehr denn je als zwangsläufiges Defizit aufgefasst, als Absenz, als ein unter allen Umständen zu behebender Mangel. Der Tod der »romantischen Komödie« aber – im deutschen Wikipedia-Eintrag zum Stichwort endet die chronologische Aufzählung von genretypischen Filmen im Jahr 1999 – ist ein erster Hinweis darauf, dass es womöglich auch eine gegenläufige Strömung der Geschichte gibt: den Verdacht, dass gerade das Nicht-Wissen immer wieder notwendig ist, um Ereignisse zu ermöglichen oder in Gang zu setzen.

Was die Triebfeder von Filmhandlungen angeht, hat Tom Hanks zweifellos recht: Mit dem stets verfügbaren Smartphone sind viele der früher erzählten Geschichten nicht mehr denkbar, und es ist kein Zufall, dass das erfolgreichste Komödien-Konzept der letzten Jahre, die Hangover-Trilogie von 2009, 2011 und 2013, mit einem Total-Blackout der Helden am Morgen nach durchzechter Nacht beginnen muss. Das Web 2.0 hat die Wissenslücken im alltäglichen Handeln der Figuren gestopft – also bleiben nur noch Alkohol und Drogen, um die unerlässlichen Amnesien herbeizuführen, die Verwicklungskomödien am Laufen halten.

II

Die Idee der romantischen Liebe zählte auf die Unvorhersehbarkeit der Begegnung: dass im ewigen Strom der Passanten und flüchtig vorbeiziehenden Gesichter plötzlich der eine auftauchen würde, der dem Leben einen neuen Sinn gibt. Die frisch Verliebten wurden, den Redensarten nach, vom »Blitz« getroffen oder vom »Schlag«, lauter Metaphern der Ankündigungslosigkeit. Seit einigen Jahren verschwinden diese schicksalhaften Momente nicht allein aus den Filmplots, sondern auch aus den maßgeblichen Vorstellungen, wie reale Menschen Tag für Tag ihre Lebenspartner finden wollen. Laut den jüngsten Umfragen nutzen zwei Drittel der Alleinstehenden in Deutschland Online-Dating, um jemand Neuen kennenzulernen. »Liebe ist kein Zufall«, heißt der flächendeckend plakatierte Werbeslogan einer Agentur in Deutschland, und genau das, was Märchen vom Aschenputtel bis zu Pretty Woman den gerührten Lesern und Zuschauern als romantisches Modell vorführten, wird nun in erster Linie für ineffizient gehalten. Liebe soll berechenbar sein: Wer nur genügend Informationen über sich und seine Wünsche im Profil hinterlässt, so das Versprechen, wird den Richtigen schon finden. Die Auswahl künftiger Partner bei match.com etwa, einem der ältesten und größten Anbieter, ist, wie die Firmengründer erzählen, dem Algorithmus der Amazon-Empfehlungen nachgebildet. Es sind also nicht nur die Klienten, die in den Profilen nach möglichen »Treffern« suchen, sondern Computerprogramme, die aus dem Suchverhalten eines Menschen womöglich verlässlichere Vorlieben destillieren als er selbst. (Wobei die Komplexität des Online-Datings im Vergleich zu Amazon dadurch erschwert wird, dass ein Roman oder Hörbuch die Liebe des Käufers nicht erwidern muss.)

Eva Illouz hat diese neue Rationalität der Liebe in ihren Büchern umfassend beschrieben – eine Rationalität, die das Zueinanderfinden von Paaren nicht mehr einem unerwarteten Blitz der Leidenschaft überlässt oder zumindest einem verlorenen Schuh, sondern der akkuraten Auswertung angekreuzten Wissens. Es hat den Anschein, als würde die Geschichte der Liebesbeziehungen damit in eine neue Epoche treten. Bis ans Ende des 18. Jahrhunderts reichte die Ära der aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen angebahnten Vernunftehen. Die seither bestimmende romantische Idee, dass sich Partnerschaft allein den Passionen zweier Menschen verdanke, beginnt mit dem kollektiven Vertrauen ins Online-Dating zu verblassen. Denn die Profile, Suchmasken und Algorithmen schaffen erneut eine äußere Instanz, die über die Stiftung amouröser Beziehungen entscheidet. Heute sind es nicht mehr Eltern oder Familien, die das Zusammenkommen von Paaren mitbestimmen, sondern die Programmierer und Psychologen der Dating-Agenturen. Die Schmetterlinge im Bauch der Klienten entpuppen sich je nach Datenlage.

Die Anhäufung von Wissen ist also nicht immer gleichbedeutend mit einer Zunahme von Erkenntnis.

III

Ein Emblem unserer Zeit: die Tischrunde, in der eine Frage auftaucht, und einige greifen zum Telefon oder Tablet, um das Problem durch ein paar Tastendrucke zu lösen. Es ist ein unendliches, stets verfügbares Archiv entstanden; jede Abendgesellschaft, jeder Spaziergang findet inzwischen in einer perfekt ausgestatteten Bibliothek statt. Die Frage ist, wie sich die soziale Dynamik durch diesen allgegenwärtigen Zugriff auf das Weltwissen verändert hat. In Erinnerung bleibt die Energie nächtlicher Runden – Handys gab es schon, aber noch keine Smartphones –, als in der Bar etwa ein Austropop-Hit aus den frühen Achtzigerjahren lief, Du entschuldige – I kenn di, dessen Refrain zwar jeder noch auswendig konnte, über das Mädchen, das mit 13 schon kokett war, von dem aber niemand mehr wusste, wer ihn gesungen hatte. Über Stunden hinweg gab es am Tisch kein anderes Thema mehr, jeder hatte noch eine Anekdote, eine Assoziation beizutragen, um die Frage vielleicht zu klären; das Gespräch strömte von der Band STS zum Genre des Wiesnhits, zu Rainhard Fendrich und der Herzblatt-Sendung (einer Vorform des Online-Datings), zum Herzblatt-Hubschrauber und der Bedeutung des Helikopters in Musikvideos; Freunde wurden angerufen, die auch nicht weiterwussten. Und dann, es war schon gegen halb drei in der Früh, betrat der größte Pop-Experte im Freundeskreis die Bar, und einer aus der Runde fragt ihn sofort: »Hey, von wem war noch mal Du entschuldige – I kenn di?« Er stutzte kurz, wunderte sich, wie man diesen Namen nicht parat haben könne, und sagte: »Von Peter Cornelius natürlich.« Tumulte, Schreie, Menschen, die quer über den Tisch stiegen, um denjenigen zu umarmen, der die verzweifelt gesuchten Losungsworte einer ganzen Nacht ausgesprochen hatte.

Dieser Freund wurde ehrfurchtsvoll »wandelndes Lexikon« genannt – eine Bezeichnung, die inzwischen auf jeden Menschen mit Smartphone in der Tasche zutrifft und als Kompliment keinen Sinn mehr ergibt. Im Jahr 2013 ist nicht einmal ein Blick auf Wikipedia nötig, falls ein Song im Hintergrund eine solche Frage auslöst; es würde bekanntlich reichen, ein Handy mit installierter Shazam-App an den Lautsprecher zu halten, und Interpret und Songtitel laufen nach ein paar Sekunden über den Bildschirm. Sind Abendgesellschaften im Durchschnitt also langweiliger und uninspirierter geworden? Wohl kaum, die Herausforderung an unterhaltsames, über das faktisch Nachprüfbare hinausgehende Erzählen ist heute einfach größer, und vor allem die Herrschaftsgeste von Dozenten aller Art, die in Konferenzen, Seminaren oder Kneipen ihre Halbwahrheiten im Tonfall tiefster Überzeugung verbreiten, geht nun, da ein Korrektiv jederzeit griffbereit ist, ihrem verdienten Ende entgegen.

Was sich allerdings abzeichnet in diesen letzten 15 Jahren, die für die Verfügbarkeit von Daten größere Veränderungen erbracht haben als das halbe Jahrtausend zwischen Gutenberg und Google, ist ein neues Verhältnis von Wissen und Einbildungskraft. Auch die Fantasien, Imaginationen und Erinnerungen der Menschen sind ja nicht einfach subjektive, zeitlose Regungen, sondern haben eine alle betreffende Geschichte; sie reagieren zum Beispiel auf die Weisen, wie technische Medien Vorstellungen in Realitäten verwandeln. Was besagt es also, dass eine Urlaubsliebe nach der Rückkehr nicht mehr lange Tagträume darüber auslöst, wo sie wohl zu Hause ist, sondern einen Blick auf Street View? Oder wie ist jene aktuelle Studie zur Selbstbefriedigung von Jugendlichen zu verstehen, in der kaum ein Befragter noch das »Kopfkino« als Stimulationsmittel angibt, wo die naturwahren Sexszenen doch mit ein paar Klicks erreichbar sind?

Die Fantasie wird sicher nicht »verkümmern«; dieses unermüdliche Kaleidoskop sucht sich im Zeichen einer neuen Medienwirklichkeit neue Muster und Einstellungen. Es könnte aber sein, dass traditionelle Kondensate der Einbildungskraft, zum Beispiel die Literatur, künftig auf veränderte Grundbedingungen stoßen werden. Am Anfang der großen autobiografischen Werke im 20. Jahrhundert etwa, von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder Nabokovs Erinnerung, sprich, steht ein Mangel an konkreter Vergegenwärtigung. Literatur heißt: eine Welt durch Sprache aufleben lassen, für die es keine verifizierbaren Bilder mehr gibt. In welcher Situation befindet sich ein heutiger Schriftsteller, der sich mit der gleichen poetischen Sorgfalt seinem Aufwachsen in den 1970er- oder 80er-Jahren widmen wollte? Überall im Netz sind die Gegenstände seiner Kindheit versammelt; er wird der Versuchung nicht widerstehen können, nostalgische Websites wie meine-70er-jahre.de oder allesbonanza.net anzuklicken – kein Spielzeug, kein Schokoriegel, keine Fernsehfigur, die nicht präsent wäre. Es ist die Frage, ob diese lückenlose Präsenz künftige Werke der Einbildungskraft nicht behindert. Die berühmte »unwillkürliche Erinnerung« Prousts benötigte ein Defizit, um aktiviert zu werden.

Die Anhäufung von Wissen ist also nicht immer gleichbedeutend mit einer Zunahme von Erkenntnis, wie es die PISA-Studien nahelegen oder die Plädoyers für Torlinien-Technik zur Verhinderung von Phantomtoren. Etwas dingfest zu machen, kann diese Dinge auch zerstören. Ein Übermaß an Wissen gefährdet sensible Konstellationen – nicht zuletzt die Beziehungen zwischen Ländern, die nun zum ersten Mal nicht wegen Streitereien um Territorien und Ideologien, sondern um Daten in ernsthafte Krisen geraten.

IV

Peter Cornelius’ Du entschuldige – I kenn di, jenes Lied, das auch auf heutigen Festivals noch Zehntausende Zuhörer in erinnerungsselige Ekstase versetzt, beginnt mit den folgenden Zeilen:

Wann i oft a bissl ins Narrenkastl schau,
dann siech i a Madl mit Augn so blau,
a Blau, des lasst si mit gar nix anderm vergleichen.
Sie war in der Schul’ der erklärte Schwarm,
von mir und von all meine Freund’, doch dann,
am letzten Schultag, da stellte das Leben seine Weichen.
Wir habn uns sofort aus die Augn verlorn,
I hab mi oft gfragt, was is aus ihr wordn,
die Wege, die wir beide ’gangen sind, warn net die gleichen

Und dann sitzt der Sänger eines Abends in einem Lokal, erkennt die unvergleichlichen blauen Augen am Tisch gegenüber und stellt der Frau die lebensverändernde Titelfrage des Songs.

Am letzten Schultag mag das Leben zwar auch heute noch seine Weichen stellen, aber es geschieht nicht mehr, dass jemand seinen erklärten Schwarm aus der Klasse sofort aus den Augen verliert. Wir schauen nicht mehr ins »Narrenkastl« (ein österreichischer Ausdruck für »seinen Gedanken nachhängen«), sondern sind umgeben von verlässlicheren Quellen. Das Narrenkastl des 21. Jahrhunderts ist ein Display.

Illustrationen: Nishant Choksi