Achten Sie mal darauf, wenn Sie eines Abends im Landeanflug auf München sind und Ihr Flugzeug eine südöstliche Warteschleife drehen muss. Der weite Landstrich nordwestlich der beleuchteten Betriebsanlage von Wacker in Burghausen, das ist Niederbayern. Sehr dunkel. Aber mittendrin, etwa gleich weit zwischen Mühldorf und Passau gelegen, gibt es eine unnatürlich helle Lichtquelle. Genau da liegt das kleine Wochenendhaus meiner Familie. Das Licht kommt von einer Straßenlaterne, mit der wir seit mehr als dreißig Jahren verfeindet sind.
Als ich ein kleiner Junge war, gab es die Laterne noch nicht. Wozu auch? An dem Haus treffen sich bis heute nur eine unbefestigte Dorfstraße und ein kurzer Fußpfad, der zum Friedhof führt. An dieser Kreuzung ist tagsüber kaum was los, bei Dunkelheit noch weniger. Aber als wir eines Tages in den mittleren Achtzigerjahren für einen Pfingsturlaub aus der Stadt angerauscht kamen, stand ein solider Stahlmast in der Hecke, drei Meter von unserem Gartentürchen entfernt. Das ist so eine Sache mit Wochenendhäusern – jedes Mal wenn man dort ankommt, gibt es eine Veränderung, auf die man nicht vorbereitet ist. Manchmal sind es schöne Sachen, zum Beispiel Äpfel an einem Baum, der noch nie welche getragen hat, oder eine an die Tür gepinnte Einladung zum Pfarrfest. Meistens aber sind es Überraschungen in der Art »tote Katze auf dem Dachboden« oder »Küchenfenster beim Veteranenbegräbnis durch Salutschützen zerdeppert«.
An jenem Nachmittag also war es eine nagelneue, niederbayerische Straßenlaterne. Eine von nur sechs Stück, die es damals im Dorf gab, so klein ist das. Meine Eltern waren über diesen Zuwachs auf eine Art bekümmert, dass es mir noch heute in Erinnerung ist. Was an diesem Mast so schlimm war, bekamen wir schon ein paar Stunden später zu spüren. Das größte Ferienvergnügen meines Vaters war es, abends am großen Holztisch vor dem Haus zu sitzen und eine Pfeife zu rauchen. Dazu machten wir Brotzeit und hörten im Radio Wunschkonzert mit Ruth Kappelsberger oder Klaus Havenstein, wo die Anrufer sagten: »Ich wünsche mir den Badewannentango von Peter Alexander, und grüßen möchte ich meine Schwägerin in Neu-Ulm und alle, die mich kennen und mögen.« Mit solchen friedlichen Wünschen dämmerten wir vor dem alten Haus in die Nacht hinein, zählten Glühwürmchen und Sternschnuppen.
Nur wurde es jetzt eben nicht mehr Nacht, es dämmerte nicht mal mehr. Stattdessen hatten wir eine Laterne, die nicht nur die Ecke Friedhofsgasse/Kiesweg beleuchtete, sondern auch zwei Drittel unseres Hauses. Ihr Licht fiel auf die alte Pfeifentasche und auf die Leberwurst, und das sind beides Dinge, die keine große Ausleuchtung vertragen. Wir konnten auch die Milchstraße nicht mehr erkennen. Dabei hatte mein Vater hier immer mit großer Freude über das Kreuz des Südens und Kassiopeia doziert, wohlwissend, dass wir zwei Monate später wieder alles vergessen haben würden. Die neue Straßenlaterne streute ihr Licht auch in eines der kleinen Schlafzimmer im ersten Stock. Um das Haus mit den lustigen Bauerngardinen, das sonst immer so »kuhfinster« gewesen war, wie meine Eltern oft entzückt festgestellt hatten, machten fortan alle Glühwürmchen und Sternschnuppen einen Bogen.
Das kommunale Licht nervt vielleicht, aber es sagt immerhin: Auch in der schwärzesten Nacht gibt es hier noch etwas.
Zunächst probierte es mein Vater mit Protest bei der Gemeinde. Er musste aber einen Umstand einsehen, den der Besitz eines Ferienhauses auch mit sich bringt: Man hat vor Ort nichts zu melden. Eigentlich existiert man für die Einheimischen gar nicht richtig. Die Rathausbesatzung im nächstgrößeren Ort jedenfalls hatte kein Verständnis für die Lichtklagen, im Gegenteil. Das klinge fast so, als würden die Städter den Dorfbewohnern den Fortschritt nicht gönnen. Dem Vorwurf, die Provinz lieber im Finsteren tappen zu lassen, wollte sich mein Vater nicht aussetzen. Also beschlossen meine Eltern, das Licht zu ignorieren. Statt der lustigen Bauerngardinen gab es richtige Vorhänge, und ich bekam die Erlaubnis, abends Lagerfeuer im Garten zu machen, gewissermaßen als Gegengewicht zum künstlichen Licht. Außerdem ging die Laterne von Amts wegen um 23 Uhr aus. Davon hatten wir Kinder zwar nichts, aber wenn Freunde meiner Eltern zu Gast waren, hörten wir, wie gleichzeitig mit dem Schlagen der Elf-Uhr-Glocke ein freudiges Raunen durch den Garten ging und ein Korken aus der Weinflasche ploppte.
Eines Abends in diesem ersten Sommer mit Laterne hörten meine Schwester und ich in unserem Stockbett aber ein anderes Geräusch. Das war nicht die Glocke und auch nicht der hustende Igel, sondern eine Art Kampfschrei. Gefolgt von einem metallischen Aufschlag, kurzer Stille und dann unterdrücktem Jubel und Applaus. Es war noch deutlich vor elf Uhr. Was war passiert? Wir bekamen später eine Zusammenfassung der Geschehnisse: Mein Vater war spontanwütend aus dem Garten gestürmt und hatte in Karate-manier gegen den Mast getreten. Das Licht war tatsächlich ausgegangen, wie in einem Slapstickfilm. Beim Frühstück am nächsten Tag war er immer noch stolz auf seinen Sieg. Am Abend jedoch lag der Garten wieder im Schein der Laterne, als wäre nichts gewesen. Es handelte sich bei unserer Laterne um eine Gasentladungslampe, deren Funktion sich durch zielgerichtete, stumpfe Gewalt beeinträchtigen lässt: feste schütteln, Licht geht aus. Ein zentral gesteuerter Zündimpuls lässt sie am nächsten Tag aber pünktlich zur gewohnten Zeit wieder leuchten. Das Wissen um die Verwundbarkeit seines Gegners befriedigte meinen Vater immerhin so weit, dass er fortan behauptete, er könnte die Laterne jederzeit austreten, wenn wir es wollten. Wir wollten natürlich immer. Es klappte in meiner Erinnerung aber nicht mehr oft. Vermutlich lag es daran, dass man schon sehr heftig treten musste und mein Vater im Ferienmodus immer nur irgendwelche Schlappen trug.
Im nächsten Sommer gab es eine neue Offensive. Diesmal waren Freunde meiner Mutter zu Besuch gekommen, Uni-Freunde: eine promovierte Meteorologin und ein mehrfach diplomierter Atom- und Quantenphysiker. Sie kannten die Klagen über die Lichtimmission und hatten sich ein interessantes Gastgeschenk ausgedacht – eine selbst entwickelte Photonenfalle. Sie ähnelte Spielzeug-Fallschirmen zum Werfen, nur größer, aus lichtdichtem Gewebe, und an den acht Ecken waren Messinggewichte an Schnüren befestigt. Die Folie sollte sich um die Laterne legen und das Licht verhüllen. Ein Akt feinster Sabotage! Die Übungen mit dem Wurfschirm lockten allerlei Dorfkinder an. Als das Abendlicht anging, schritten die Erwachsenen großspurig zur Verdunklung: Photonenfalle knüllen, werfen und – vorbei. Es war nicht einfach, den Laternenkopf zu treffen. Oft schwebte der Fallschirm knapp an der Leuchte vorbei, fast genauso oft landete er in einem Apfelbaum oder der hohen Hecke und musste mit viel Gestocher wieder befreit werden. Mittlerweile war das halbe Dorf Zeuge der verhinderten Verhüllungs-Performance, die damit endete, dass bei einem groben Befreiungsversuch aus dem Apfelbaum die Photonenfalle zerriss. Die Einheimischen lachten, die Akademiker waren bekümmert.
Wie jeder gute Gegner war sie uns nach diesen Aktionen ein bisschen ans Herz gewachsen. Zwar schimpften wir jeden Abend reflexhaft, wenn das Licht auf den Grill fiel, aber irgendwie gehörte die Laterne jetzt zum Haus dazu, so wie der schlecht ziehende Kamin, die Mittagshornisse und die leicht durchhängende Dachrinne. Außerdem lernten wir den einen oder anderen Vorteil des Gemeindelichts zu schätzen. Zum Beispiel sah bei Herbststürmen im Schein der Laterne alles viel dramatischer aus. Und die Mückenstiche im Garten wurden weniger, weil sich das Getier von dem Licht über unseren Köpfen anziehen ließ. Warum das so ist, wissen die Wissenschaftler immer noch nicht genau. Möglicherweise verwechseln die Insekten das Licht mit dem Mond, den sie sonst als Navigationshilfe nutzen. Mainzer Forscher haben einmal in einer Hochrechnung geschätzt, dass an den Straßenleuchten Deutschlands in einer Nacht eine Milliarde Insekten verendet, weil sie irgendwann erschöpft vom irren Kreiseln sind oder von dort lauernden Räubern gefressen werden.
Der ganze Ärger um unsere Kiesweglaterne wäre in Vergessenheit geraten, hätte es nicht auch da ein Update gegeben. Als ich dreißig Jahre nach der Ur-Aufstellung der Laterne eines Freitagabends mit meiner Frau das müde quietschende Gartentürchen öffnete, sah der Garten aus, wie wenn im Fernsehen ein nächtlicher Tatort kriminaltechnisch untersucht wird. Er war so kosmetisch ausgeleuchtet wie eine Tiefgarage. Das war nicht mehr die alte Quecksilberdampflampe, die hier ihren Dienst mit gutmütiger Streuung verrichtet hatte. Die Laterne sah auch nicht mehr nach Laterne aus, sondern wie ein Kampfroboter aus einem der modernen Star Wars-Filme: flacher, mattschwarzer Kopf und kalte, blaue Augen. Ihr Licht war sehr hell. Und es war nach Mitternacht. Offenbar musste dieses Modell nicht mehr ins Bett. Was war passiert?
Am nächsten Tag machten wir uns schlau. Wir hatten es mit der Umsetzung der Verordnung 245/2009 der Europäischen Kommission zu tun, die sich auf die umweltgerechte Gestaltung sogenannter Nichthaushaltslampen bezieht. Die LED-Lampe, die vor unserer Nase installiert worden war, hat allerlei Vorteile, sie spart viel Energie, hat eine lange Lebensdauer und als Punktlichtquelle eine bessere Lichtausbeute als ihre Vorgänger. Aber während herkömmliche Natrium- oder Quecksilberdampflampen eher im gelb-orangen Bereich leuchten und fast keine Emissionen im kurzwelligen Spektralbereich abgeben, hat das Licht von LED-Leuchten oft einen relativ hohen Blauanteil. Deshalb wirkt das Dorf jetzt, als wären alle hundert Meter Außerirdische gelandet. Das ärgerte uns in den folgenden Abenden auf eine Weise, die mir sehr vertraut war. Ich schimpfte, ich trat gegen den Mast, ich schleuderte meinen Pullover und verbranntes Grillgut in den Apfelbaum. Aber das neue Licht leuchtete nur provozierend steril dazu.
Wir sind nicht die Einzigen, die Probleme damit haben. Ein Ehepaar aus der Gemeinde Feldkirchen-Westerham klagte gegen zwei LED-Laternen, von denen es sich um seine Nacht gebracht sah. Das Verwaltungsgericht München entschied, dass die Laternen ausgetauscht oder abgedunkelt werden müssten. Forscher der TU Berlin beobachten, wie sich durch die flächendeckend eingewechselten LED-Leuchten die Nacht verändert. Gerade bei bedecktem Himmel ergibt sich jetzt eine neue Nachtfarbe – die alten Laternen erzeugten eine eher gelb-rötliche Reflexion gegen die Wolken, die neuen eine weiß-bläuliche Atmosphäre. Nicht so schlimm? In einer Stadt wie Rom, wo in den vergangenen Jahren eine gigantische Licht-Umrüstung stattfand, ist der Effekt enorm. »Als hätte man von einem Candle-Light-Dinner zur Kühlregalbeleuchtung gewechselt«: So beschreibt die in Rom lebende Fotografin und Foodbloggerin Elisabeth Minchilli auf Facebook wütend die Veränderung in ihrer Straße. Kein Wunder, dass die Römer gegen die Ausleuchtung protestierten und sie teilweise stoppten – dabei hatte sich die Stadt von der neuen Beleuchtung millionenschwere Einsparungen bei Energie- und Wartungskosten versprochen.
Welche Wirkungen die Lichtveränderung und die schrittweise Abschaffung des Dunkels auf Mensch und Tiere hat, ist noch unklar. Eine spanische Studie hat einen Zusammenhang zwischen LED-Licht und Karzinomwachstum hergestellt. Die Stadt Nieuwkoop in der Provinz Südholland hat in einem Neubaugebiet versuchsweise rote Leuchtdioden in die Straßenbeleuchtung verbaut, die Fledermäuse nicht beim nächtlichen Fliegen irritieren sollen. Die Tiere nehmen Rotlicht nicht wahr, für sie herrscht damit jetzt wieder Nacht. Die Anwohner aber sehen, nun ja, Rot. Allgemein ist mit der neuen Technik auch eine grundsätzliche Frage in den Mittelpunkt gerückt: Wie hell muss eine Stadt eigentlich sein? Wissenschaftler in Deutschland gründeten schon vor einigen Jahren den Forschungsverbund »Verlust der Nacht«, der in mehreren Projekten diese Frage und die Folgen der zunehmenden Lichtverschmutzung auf die Menschen untersuchen soll.
Die Laterne vor unserem Häuschen in Niederbayern ist zu modern für den Platz, an dem es steht, so zwischen Kiesweg und Kirche. Aber es ist auch rührend. Denn wenn man so möchte, sind diese Dioden heute das Einzige, was das Dorf an Infrastruktur zu bieten hat. Alle kleinen Geschäfte, die Tankstelle, sogar die Telefonzelle und die einzige Sitzbank sind in den vergangenen Jahrzehnten verschwunden, aufgegeben worden, abhanden gekommen. Das kommunale Licht nervt vielleicht, aber es sagt immerhin: Auch in der schwärzesten Nacht gibt es hier noch etwas.