Wenn ich an meine Kindheit denke, spüre ich Sonne auf der Haut. Ich fühle Gerstenhalme, die um meine Beine streichen, während ich durch das Feld zu den Nachbarskindern renne. Ich schmecke die Birnen, die wir in ihrem Garten pflückten und aßen, während wir uns an den Birnbaum lehnten.
Ich bin mir sicher, dass es in meiner Kindheit oft geregnet hat. Wenn ich mich zwinge, darüber nachzudenken, fallen mir auch all die unangenehmen Momente ein: das Stapfen durch die Kälte zum Schulbus, die Zeit im Internat oder manche Worte meines Vaters, die mich verletzten. Aber wenn ich flüchtig an meine Kindheit denke, spielt mein Kopf dennoch zuerst den Goldenen-Sommernachmittage-Film für mich ab.
Es gab diese schönen Sommertage ja auch. Aber wie sehr mein Gehirn diese Momente in den Vordergrund rückt, ist eine Gemeinheit. Denn es streicht damit all die trägen, schmerzhaften und langweiligen Augenblicke, bis ich mich zwinge, über sie nachzudenken. Ich erinnere mich bewusst an die guten Momente, während all die anderen in meinem Hinterkopf schlummern. Und das führt zu einem Phänomen, das der Autor Paul Watzlawick in seinem Buch »Anleitung zum Unglücklichsein« als Verherrlichung der Vergangenheit zusammenfasst. Als einen Filter, »der nur das Gute und Schöne in möglichst verklärtem Licht durchlässt.«
Ich finde diese Formulierung sehr treffend. Denn ich bin mir sicher, dass dieser Nostalgiefilter, wie ich ihn hier nennen möchte, sehr viele ältere Menschen sehr unglücklich macht. Wenn unser Kopf die Vergangenheit verklärt, uns immer nur an Momente erinnert, die wir intensiv erlebt haben, und nicht auch an all die öden Nachmittage, an denen man sich fragte, was man eigentlich mit sich anfangen soll, kann die Gegenwart im Vergleich nur schlecht abschneiden.
Selbst junge Menschen können das machen. Wenn sie eine verflossene Beziehung idealisieren und keinem neuen Partner eine Chance geben wollen. Oder wenn sie ihrem Studium und all der Freiheit hinterhertrauern, während sie mit der U-Bahn am frühen Morgen ins Büro zu ihrem Job fahren.
Aber als alter Mensch wird es noch viel leichter. Denn oft war der Alltag vor einigen Jahrzehnten ja tatsächlich schöner. Ich war bis vor einigen Jahren glücklich mit meinem Ehemann. Dass er nicht mehr lebt und wir unser Leben nicht mehr teilen, ist so traurig, dass ich den Nostalgiefilter noch nicht einmal auflegen muss. Oder wenn ich an all die Menschen denke, die im Alter Schmerzen haben. Natürlich ist es da naheliegend, die Jahrzehnte der Jugend zu verklären, in denen man morgens auf dem Bett hätte springen können, statt mit Schmerzen dazuliegen.
Deswegen bin ich dieser Kolumne sehr dankbar. Wenn ich mit meiner Enkelin über Themen spreche, fallen mir nämlich auch wieder all die unschönen Dinge ein. Es ist der zuverlässigste Weg, um nicht dem Nostalgiefilter zu verfallen. Weil ich immer wieder merke: In unserer Gesellschaft sind so viele Dinge besser geworden. Und in meinem Leben auch. Das einzig Schlimme, das ich im Alter durchstehen musste, ist die Trauer um meinen Ehemann Ulli. Aber abgesehen von diesem Einschnitt ist mein Leben im Alter voller schöner Momente, die mir Glück bringen. Ich habe kaum mehr Verpflichtungen und so viel Freiheit, meine Tage nach meinem Geschmack zu gestalten, wie ich hier schon einmal beschrieben habe. Ich kann im Bett frühstücken, in Büchern schmökern, Mittagsschläfchen einlegen und mir nachmittags ein Pistazieneis kaufen.
Wenn ich merke, dass ich auf dem Sofa sitze und mein Kopf beginnt, nostalgisch an die goldenen Sommernachmittage meiner Kindheit zu denken, rufe ich also stattdessen also meine Enkelin an und rede mit ihr über die Kolumne. Oder ich schlüpfe in meinen Mantel und laufe in den Park. Denn wenn es eine gute Sache gibt, die ich von der Verklärung der Vergangenheit lernen kann, ist es doch: Im Leben zählen die intensiven Momente. Sie sind das Wertvollste, das wir haben.
Also schaffe ich mir einfach neue Glücksmomente. Jetzt. In der Gegenwart.