Ich bin in einem Alter, in dem ich mir aufschreiben muss, was ich einkaufen möchte. Ohne Einkaufszettel geht es nicht mehr. An einem Tag vor einigen Jahren schrieb ich nur wenige Punkte auf den Zettel. Tomaten, Joghurt, Bergkäse. Ich steckte den Zettel und meinen Geldbeutel in die Seitentasche meines Einkaufskorbes, schloss den Reißverschluss und lief zum Supermarkt.
Dort zog ich den Einkaufszettel heraus, den Reißverschluss ließ ich offen, ich brauchte ja nur ein paar Dinge. Am Kühlregal stellte ich den Korb kurz am Boden ab. Mein Lieblingsjoghurt steht immer im obersten Regal, ich komme knapp heran, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle und die Arme strecke. Bis ich in den Joghurt in der Hand hielt, war es nur ein kurzer Moment, aber es muss dem Dieb gereicht haben. Als ich an der Kasse meinen Geldbeutel aus dem Seitenfach holen wollte, merkte ich, dass das Fach leer war.
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken umher. Nein, sowas passiert doch nicht. Nicht in dem Supermarkt in meiner Nachbarschaft. Ich muss den Geldbeutel vergessen haben. Aber nein, er war in dem Seitenfach. Jemand muss ihn in dem kurzen Joghurt-Streckmoment, als ich den Korb am Boden abgestellt hatte, genommen haben. Der Geldbeutel steckte zu tief in der Tasche, um einfach herauszufallen. Und ich habe die Gänge ja abgesucht. Nein, jemand hat ihn genommen.
Als mir das klar wurde, blieben nur noch zwei Gefühle in meinem Kopf: Wut, so viel davon. Und Scham. Ich überlegte, wie ich für den Dieb wohl ausgesehen haben musste, als ich mich nach dem Joghurt streckte. Wie eine alte Frau, die es schon nicht mitkriegen würde, wenn man sich schnell bückt und den Geldbeutel aus ihrer Tasche zieht. Die zu langsam reagieren würde, keine Chance hätte. Ein perfektes Opfer. Die Vorstellung machte mich rasend. Dass jemand meine Hilflosigkeit bewusst ausgenutzt hatte.
Gleichzeitig schämte ich mich dafür, dass ich so naiv gewesen war und voller Urvertrauen den Reißverschluss offen gelassen hatte. Wie ein altes Mütterchen, das es nicht besser wusste. Das man leicht ausnutzen kann, wenn man es darauf anlegt. Wenn der Reißverschluss geschlossen gewesen wäre, hätte sich der Dieb vielleicht nicht getraut, weil es länger gedauert hätte. Oder weil ich das Geräusch hätte hören können.
Mit etwas Abstand ist mir klar, dass nichts, wirklich nichts daran meine Schuld war. Aber ich beschreibe meine Scham, weil ich mir sicher bin, dass es ein Gefühl ist, das viele Opfer von Verbrechen beschäftigt. Immer wieder lese ich in der Zeitung von Senioren, die auf Betrüger hereingefallen sind, auf den sogenannten Enkeltrick. Die geglaubt haben, dass jemand aus ihrer Familie in einer Notsituation sei und Geld brauche. Und dieses dann einem vermeintlichen Bekannten mitgegeben haben. Oder sogar in ihrer Demenz ausgenutzt wurden, weil die Betrüger merkten, dass sie die eigenen Enkel gar nicht mehr erkannten und unterscheiden konnten.
Mich machen solche Fälle so wütend. Denn sie sind noch viel schlimmer als der Diebstahl meines Geldbeutels. Alten Menschen einen Notfall vorzutäuschen, der sie enorm belastet, und dann ihre Hilflosigkeit auszunutzen – immer wenn ich darüber nachdenke, fällt es mir ein paar Stunden lang schwer, den Mensch als eine im allgemeinen Durchschnitt liebenswerte Gattung zu sehen. Wie können Menschen, die das Urvertrauen anderer so ausnutzen, sich danach noch, eine abgedroschene Phrase, aber ich frage es mich wirklich, im Spiegel ansehen? Wie können sie damit leben, wie rechtfertigen sie das vor sich selbst?
Es ist für mich absolut nachvollziehbar, warum manche Senioren nicht erzählen wollen, dass sie auf einen solchen Betrüger hereingefallen sind. Weil sie sich schämen, dass sie so gutgläubig waren, so tatterig, so ausnutzbar. Ein Opfer wie ich in dem Joghurt-Moment. Als alter Mensch bekommt man sowieso immer wieder die Rückmeldung, dass man zu langsam ist für eine Welt, die sich immer schneller verändert. Wer dann auf eine seit Jahren bekannte Betrugs- oder Diebstahlsmasche hereinfällt, geniert sich.
Aber die Scham löst sich mit der Zeit auf und heute, mit etwas Abstand, sehe ich es deutlich und trennscharf. Und sehe wieder, was sich jedes Opfer einer Straftat bewusst machen sollte: Es trifft einen keine Schuld. Die Schuld trägt allein der Täter. Er hat aktiv gehandelt, sich dafür entschieden, die grundlegenden Werte unseres Zusammenlebens zu ignorieren. Egal, wie gutgläubig man reagiert haben mag: Im Zweifelsfall bedeutet das nur, dass man an das Gute im Menschen glaubt. Und mir ist es in meinem konkreten Fall lieber, ein Leben lang daran zu glauben, dass andere Menschen mir nicht schaden wollen, und dann einmal bestohlen worden zu sein, statt ein Leben lang voller Angst und Missgunst durch meinen Alltag zu laufen – was mich vor einem Diebstahl übrigens auch nicht bewahrt hätte.