Die Freiheit vor der Wohnungstür

Im Alter einen Stock oder Rollator zu benutzen, ist erst eine Überwindung. Aber dann eine Möglichkeit, sein Leben noch viel mehr zu genießen, findet unsere Senioren-Kolumnistin.

Illustration: Nishant Choksi

Ich habe eine Bekannte, die ihre Wohnung seit Jahren kaum mehr verlässt. Sie kann nicht mehr gut laufen. Ihr Mann kümmert sich um die Einkäufe und alle anderen Besorgungen. Ihre Welt ist hingegen auf Wohnzimmer, Badezimmer und Schlafzimmer geschrumpft. Das ist so schade. Denn sie hatte früher so große Freude daran, spazieren zu gehen und Ausstellungen zu besuchen. Das könnte sie immer noch – wenn sie bereit wäre, sich von ihrem Mann im Rollstuhl schieben zu lassen. Aber sie sagt, dass sie nicht möchte, dass sie jemand in diesem Zustand sieht.

In solchen Momenten denke ich mir, dass das Alter wirklich auch eine Prüfung ist. Es verlangt von dir, immer wieder zuzugeben, dass dein Selbstbild – dass du gerne noch jung und beweglich wärst – nicht mehr mit der Realität übereinstimmt. Und du kannst diese Erkenntnis nicht einmal für dich behalten. Wenn du mit einem Rollator unterwegs bist oder dich im Rollstuhl schieben lässt, sagst du jedem Menschen, an dem du vorbeitrottest oder -rollst: Anders geht es nicht mehr. Und zu diesem Gefühl kommen noch ganz andere Ängste hinzu: Wird man es schaffen, immer abgesenkte Bordsteinkanten zu finden, über die man rollen kann? Was soll man bei der Ampel mit der viel zu kurzen Grünphase machen? Und was, wenn man trotz all der Vorsicht stürzt?

Ich habe das Glück, noch sicher laufen zu können. Aber mein Mann verlernte das Laufen am Ende seines Lebens und deswegen habe ich aus nächster Nähe gesehen, wie schleichend und doch stetig der Prozess verläuft. Wer viel in der eigenen Wohnung bleibt, kann sich noch lange Zeit selbst belügen. Sich von Möbelstück zu Möbelstück hangeln, sich immer wieder abstützen und sich vormachen, dass sich die Beine gar nicht so weich anfühlen und der Schwindel gar nicht so schlimm ist. Aber jede Strecke außerhalb der Wohnung führt einem die Realität vor Augen. Da hilft auch die beste Routenplanung entlang von Parkbänken, auf denen man sich ausruhen kann, nicht mehr. Also steht man vor dem gleichen Zwiespalt wie meine Bekannte: zu Hause zu bleiben und zu versuchen, alles Organisatorische anders zu lösen – oder einen Stock, Rollator oder Rollstuhl zu benutzen.

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Ich verstehe, dass das Überwindung kostet. Sich gegenüber all seinen Bekannten einzugestehen, dass das Alter dazu geführt hat, dass das mit dem Laufen nicht mehr richtig klappt. Aber ich kann trotzdem nur Werbung dafür machen. Denn wer sich überwindet, muss seine Freiheit nicht aufgeben. Wer sich überwindet, kann an den ersten warmen Frühlingstagen nach außen gehen, seinen Rollator an eine schöne Stelle im Park stellen, sich darauf absetzen und genießen, wie weich sich die Luft anfühlt. Im Sommer spüren, wie die Sonne die Haut wärmt und in der Nase kitzelt. Im Herbst das Laub riechen. Und im Winter das Knirschen des Schnees hören, wenn man darauf läuft.

Von all den Möglichkeiten, sich beim Laufen Unterstützung zu holen, finde ich gerade Rollatoren toll. Man kann seine Einkäufe verstauen, manche Modelle kommen sogar mit einem eingebauten Regenschirm und man hat quasi immer seine eigene Parkbank dabei, weil man sich so gut auf ihnen absetzen kann. Außerdem stabilisieren sie wirklich gut, weil man sich gleich mit beiden Händen an ihnen festhält. Rollatoren sind damit wirklich ein großer Fortschritt. Ich erinnere mich noch an viele alte Frauen, die ich in meiner Jugend dabei sah, wie sie mit zwei Stöcken – einen rechts, einen links – sich ihren Weg entlangkämpften. Wie viel besser es ihnen mit einem Rollator gegangen wäre. Oder mit einem Rollstuhl.

Wenn ich an meine eigene Zukunft denke, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch bei mir einmal der Tag kommen wird, an dem ich nicht mehr gut laufen können werde. Also habe auch ich mir Gedanken gemacht, wie ich mit der Situation umgehen möchte. Mir ist klar: Meine Welt kann sehr klein oder sehr groß sein, je nachdem wie ich mich verhalten werde. Und ich bin zu neugierig auf diese Welt, um jemals die Grenzen meiner Wohnung zu meinen Grenzen zu machen.

Außerdem ist mir klar geworden: Die Leute halten mich ja sowieso schon für gebrechlich, weil ich alt aussehe. Da macht ein Rollator oder Stock keinen Unterschied mehr. Und überhaupt: Wer sagt, dass man mit einem Stock oder Rollator schlecht aussehen muss? Die Rollatoren gibt es in tollen Farben. Und zum Stock: Früher trugen elegante Männer immer Stock und Hut. Die formvollendeten Gentlemen flanierten mit Anzug, Melone und Gehstock durch die Innenstädte.

Vielleicht schaue ich mir das von ihnen ab und lege mir auf die alten Tage noch einen richtig guten Hut zu. Wenn ich anfange, beim Laufen zu wackeln, kommt dann der Stock dazu. Oder der Rollator. Ich werde ihn in den Flur schieben, aus der Haustür hinaus und dann aufatmen. Ich bin viel zu lufthungrig, um mich selbst einzusperren.