Ich mag es, die Geschichten von Bildern zu kennen. Denn häufig kann man die Bilder erst dann überhaupt verstehen. Im Museum Brandhorst in München hängt ein Bild des Malers CY Twombly, das mir wegen seiner Geschichte sehr gut gefällt. Es heißt »Nini’s painting« und gehört zu einer Reihe von Bildern, die Twombly malte, nachdem die Partnerin seines guten Freundes gestorben war.
Das Bild ist riesig und voller Schleifen, die eine Handschrift andeuten. Wirr durcheinander, in vielen Schichten. Wer die Geschichte des Bildes nicht kennt, sieht nur Gekrakel. Aber in meinen Augen beschreibt Twombly die Unmöglichkeit, bei Trauer die richtigen Worte zu finden. Das Bild ist wie ein Brief, eine Essenz all der Worte, die man erst auf einem Bogen Papier aufschreibt und dann wieder zerknüllt und wegschmeißt, weil Worte manchmal einfach nicht reichen. Ich glaube, es gibt kaum andere Werke, die die Sprachlosigkeit der Trauer für mich besser ausdrücken.
»Das hier ist kein guter Brief. Aber ich bin zu traurig, um einen guten Brief zu schreiben«, schrieb Ernest Hemingway einmal in einem Kondolenzbrief. Ich weiß genau, was er meint. Ich musste schon viele schreiben, aber zufrieden war ich nie damit. Dabei war die Trauer so groß. Wer älter wird, verliert auf dem Weg geliebte Menschen, gute Freunde und herzliche Bekannte. Der Verlust macht stumm. Er fühlt sich ungerecht und willkürlich an.
Aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man als Angehöriger in der Trauer so dankbar für ehrliche Worte der Anteilnahme ist. Ich fühlte mich wie in einem schwarzen Strudel, als ich meinen Mann Ulli verlor. Aber jeder Mensch, der mir glaubhaft machen konnte, wie sehr er Ulli geschätzt hatte, wie wichtig Ulli in seinem Leben gewesen war, wie gern er Ulli zugehört hatte, tröstete mich. Weil ich wusste, dass ich mit meiner Trauer nicht alleine war und Ulli viele Menschen berührt hatte. Dass er nicht vergessen wird, verschluckt von einer Welt, die sich immer weiterdreht, egal, was auf ihr passiert.
Zu wissen, wie viel Worte bedeuten können, führt dazu, dass ich fast immer versuche, einen Kondolenzbrief zu verfassen. Aber es ist so schwierig, wie das Bild von Twombly andeutet. Wer es sich einfach machen will, könnte auf Phrasen ausweichen, aber das Problem ist: diese Phrasen haben keine Wirkung. Sätze mit Bausteinen wie »Ich nehme Anteil«, »mein Beileid« oder dem noch schlimmeren »Melde dich, wenn du etwas brauchst« sind so beliebig, dass sie keinen Unterschied machen.
Also suche ich nach Worten, die ansatzweise ausdrücken, was mir der Verstorbene bedeutet hat. Bis ich mich bereit fühle, den Brief zu schreiben, entwerfe ich immer wieder einzelne Sätze auf Notizzetteln. Ich lege sie in ein Fach meines Sekretärs, bis mir die nächste gute Zeile einfällt. Briefe auf Schmierzetteln vorzubereiten, ist eine alte Tradition von mir. Weil mein Mann eine so elegante Schönschrift hatte, machten wir früher immer die Arbeitsteilung, dass ich Notizzettel mit passenden Worten anlieferte, die er dann in Schönschrift auf die Karten schrieb. Wie sehr ich ihn selbst in den kleinen Dingen vermisse.
Aber all die Satzentwürfe, die ich in meinem Sekretär sammle, zeigen auch, wie sprachlos Kummer macht. Umso dankbarer bin ich für all die Zeilen, die mir Menschen nach Ullis Tod geschickt haben. Ich habe sie damals gelesen, als die Trauer noch wie eine Wand zwischen mir und der Welt stand und alles dumpf und grau war. Ich habe die Karten und Briefe aufgehoben. Sie liegen mit den Friedhofsunterlagen in einer Schublade in einem Schrank im Gästezimmer. Ich habe sie zwar in der Nähe, muss sie aber nicht jeden Tag sehen. Ich glaube, das täte mir nicht gut.
Aber ich habe durch meine eigene Trauer noch etwas Wichtiges gelernt: Wenn man einmal wirklich keine Worte findet, weil der Schmerz zu groß ist, ist das nicht schlimm. Denn es gibt noch andere Faktoren, die einen nach dem Tod eines Angehörigen trösten. Ich war unendlich gerührt davon, wie viele Menschen zu Ullis Trauerfeier kamen. Allein ihre Anzahl zu sehen als Beleg dafür, dass ich nicht alleine war.
Deswegen gehe ich, wenn es irgendwie möglich ist, lieber zu der Beerdigung, als nur einen Kondolenzbrief zu schicken. Weil ich dann die Angehörigen umarmen kann und ihnen durch meine Anwesenheit zu verstehen gebe, dass wir in der Trauer vereint sind.
Ich kann mich noch genau an die Umarmungen nach Ullis Tod erinnern. Wie manche mich festhielten, ihr Brustkorb bebte und sie nur herausbrachten: »Ich vermisse ihn.« Drei Worte. Aber sie sagen alles.