Ich habe 50 Jahre neben meinem Mann Ulli geschlafen. Wenn ich mich morgens zur Seite drehte, sah ich sein Gesicht. Die gerade Nase, die sanft geschwungenen Lippen, seine Bartstoppeln. Selbst wenn er frisch rasiert war, schimmerten die Haarwurzeln noch durch die Haut an seinen Wangen. Sie waren immer da. Wie er.
Seit sechs Jahren liege ich allein im Bett. Wenn ich mich zur Seite drehe, blicke ich auf meinen Kleiderschrank. Oder auf die Raufasertapete. Ich wusste nicht, dass man Bartstoppeln so vermissen kann.
Eine der grundsätzlichsten Fragen im Leben ist, wie man mit Einsamkeit zurechtkommt. Jeder Mensch fühlt sich einsam, unabhängig davon, ob es einen Anlass dafür gibt. Das Gefühl taucht einfach auf, bei mir am liebsten sonntagabends. Und es wird zu einem Filter, der all die Farbe aus dem Leben saugt. Man kann mit Freunden am Esstisch sitzen und sich einsam fühlen. Man kann seine Tochter im Arm wiegen und sich einsam fühlen.
Aber alte Menschen sind noch gefährdeter, von dem Gefühl übermannt zu werden. Sie haben keine Arbeit und keine feste Aufgabe. Sie leben oft allein. Und wenn dann an einem Wochenende zufällig kein Freund, Kind, Enkel oder Urenkel anruft, kann sich das nach einer Leere anfühlen, die einen fast zerreißt.
Viele meiner Freundinnen und Freunde beschweren sich bei ihren Familien darüber. Manche von ihnen leben sogar in einer Einliegerwohnung im Haus ihrer Kinder und sagen trotzdem, dass sie zu selten besucht werden. Ich bin mir sicher, dass diese Gespräche niemandem weiterhelfen. Sie drücken den Kindern und Enkeln Schuld auf, die sie nicht tragen können. Zu sagen, dass man sich einsam fühlt, ist wie ein Hilferuf, mit der Leere nicht alleine umgehen zu müssen. Aber niemand kann einem das abnehmen. Und wenn man merkt, dass man alleine nicht mehr dagegen ankommt, kann ich nur empfehlen, sich professionelle Hilfe zu holen. Es ist doch toll, dass man heute die Tragweite psychischer Probleme kennt und niemand mehr stärker sein muss, als er ist.
Das Tröstliche ist: Wenn man nicht aufgibt und in der Trauerphase stehen bleibt, kann man das Leben irgendwann wieder genießen. Ich habe nach dem Tod meines Mannes auch gelitten, weil so viele Situationen mir klar gemacht haben, wie anders mein Leben schon war. Aber ich habe gelernt, mit dem Gefühl umzugehen.
Den Kampf gegen die Einsamkeit bin ich angegangen wie eine Hausaufgabe in der Schulzeit. Ich habe genau darauf geachtet, was mir gut tut und was alles noch viel schlimmer macht. Meine wichtigste Erkenntnis war: Ich muss aufhören, es mir auch noch vorzuwerfen, dass ich mich einsam fühle. Früher hat es mich richtig wütend gemacht, weil sich Einsamkeit wie Selbstmitleid anfühlt. Und ich will kein Mensch sein, der sich selbst bemitleidet. Aber sich über das Gefühl zu ärgern, macht den Abend nicht besser.
Was den Abend auch nicht besser macht ist, sich traurige Musik anzuhören. Es fühlt sich vielleicht einen Moment lang tröstlich an, aber eigentlich suhlt man sich nur in dem Gefühl. Ein viel besseres Notfallprogramm ist: Eiscreme essen gegen das komische Surren im Bauch. Es gibt Zeiten, in denen man auf gesunde Ernährung achten kann und es gibt Zeiten, in denen man auf sein Glück achten muss und das wächst, wenn man es mit Zucker füttert. Dazu schaue ich einen guten Film, lese ein Buch oder höre mir eine Radiosendung an. Denn das lenkt ab, statt alle Gedanken auf den Schmerz zu lenken. Und beim Einschlafen helfen die Stimmen als sanftes Hintergrundgeräusch im Zweifelsfall auch.
Egal, wie schlimm es sich anfühlt: Einsamkeit geht vorbei. Es ist eine Phase. Das ist eine Gewissheit, die mir an Sonntagabenden hilft. Genau wie die Gewissheit, dass in meinem Kalender für die darauffolgende Woche wieder Termine stehen. Und die Erkenntnis, dass ich ja auch eine Person bin. Ich bin mir selbst Gesellschaft. Und zwar nicht die schlechteste. Meine Gedanken sind ziemlich witzig. Ich muss nur zuhören.