Ich habe als junge Frau einige Jahre in München gewohnt. Ich zog Ende der 1950er Jahre dahin. Ich war an der Schauspielschule und hatte nicht viel Geld, deswegen teilte ich mir ein Zimmer mit einer Bekannten. Es war eng und schmal, es passten gerade unsere zwei Betten und ein kleiner Schrank hinein. Wir wohnten zur Untermiete bei zwei Schwestern, die sich den Rest der Wohnung teilten. Die Küche durften wir nicht mitbenutzen, also machten wir meistens Brotzeit auf unserem Bett. Oder wir gingen eben aus und aßen die gute Gulaschsuppe, von der ich schon einmal erzählt habe. Egal, wie klein unser Zimmer gewesen sein mag: Mein Leben fühlte sich nicht beengt, sondern nach großer Freiheit an.
Seit einigen Jahren fahre ich wieder häufiger nach München, weil dort meine Enkelin lebt. Vor kurzem spazierten wir durch die Maxvorstadt – und plötzlich erkannte ich das Haus wieder, in dem ich früher wohnte. Obwohl das Viertel heute so anders aussieht, war ich mir ganz sicher. Denn schon damals waren an der Außenseite des Hauses wunderschöne Fliesen mit Blumen angebracht. Und die gibt es heute noch.
Meine Enkelin und ich liefen in den Innenhof des Hauses, ich suchte das Fenster unseres früheren Zimmers und erzählte ihr von meiner Studentenzeit. Von den Käsebroten auf dem Bett, dem Ausgehen und meinem Lieblingsritual mit der nächtlichen Gulaschsuppe. Und dachte mir: Wie komisch, dass wir erst jetzt darüber reden.
Mir fällt häufiger auf, dass meine Enkelinnen und Enkel vieles von meinem früheren Alltag nicht wissen. Weil es als Großmutter ein Phänomen gibt, das ich früher beim Theaterspielen nur zu gut kennenlernte: Man verschwindet hinter seiner Rolle. Die Funktion ist wichtiger als die Person dahinter. Das bedeutet: Ich bin für meine Enkelinnen und Enkel zuallererst Großmutter. Nicht eine Frau mit einer Vergangenheit, sondern jemand, den es in ihrem Leben eben schon immer gab. Eine Art Zusatzmutter, die sich kümmert und sich für sie interessiert. Die mitfiebert, wenn sie nervös sind und sich mitfreut, wenn es etwas zu feiern gibt. Ein Stützpfeiler ihrer Welt.
Natürlich interessieren sich meine Enkelinnen und Enkel für mich. Sie stellen aber Fragen zur Gegenwart. Wie es meiner Hüfte geht, ob ich Frühschwimmen war, ob das Wasser wieder so kalt war und wie ich mich da nur überwinden kann, wie meine ehrenamtliche Arbeit läuft, ob ich mir den Tatort angeschaut habe, wie es mir mit der Kolumne geht und welches Buch ich gerade lese.
Es liegt also nicht daran, dass sie nichts über mein Leben wissen wollen. Sondern dass es vielleicht schwer fällt, sich bei einem alten Menschen vorzustellen, dass dieser mal genauso jung war und mal ein ähnliches Leben führte wie sie. Weil ich selbst in ihren frühesten Erinnerungen ja schon erwachsen war.
Das klingt, wenn man es so zusammenfasst, etwas schlimm: dass meine Vergangenheit für meine Nachfahren irgendwie nicht existiert, sondern nur die Gegenwart. Aber das ist es überhaupt nicht. Man gewöhnt sich daran, sobald man Kinder bekommt. Denn auch als Elternteil ist man für Kinder in der Funktion viel wichtiger. Für sie ist es entscheidend, dass du für sie da bist und mit ihnen darüber sprichst, was in diesem Moment wichtig ist. Nicht über deine Vergangenheit. Nach und nach kommt es natürlich zu Situationen, in denen man mal von seinem früheren Leben erzählt. Aber es ist nie der allumfassende Rundumschlag. Ich finde das ganz normal. Man lernt seine Nachfahren eben nicht auf einer Party kennen, auf der man sein früheres Leben für sie als netten Smalltalk zusammenfassen würde.
Auch ich habe meine Mutter und meine Großmütter immer nur in ihrer Rolle wahrgenommen. Das fiel mir erst auf, als ich selbst Mutter wurde. Nun finde ich es schade, dass ich viel über ihre Vergangenheit nicht weiß und nicht mehr herausfinden kann. Haben sie nach der Schule auch mal Liebesbriefe zugesteckt bekommen? Zu welchen Liedern haben sie gerne getanzt? Gab es Bücher, die sie immer wieder gelesen haben, weil sie die Gedanken darin so mochten? Ich kann sie all das nicht mehr fragen.
Meine Enkelin war begeistert, als ich ihr die Geschichten von meinem Studium erzählte. Von meiner zugegebenermaßen kurzen, aber doch etwas wilden München-Zeit. Danach dachte ich an meine Mutter und Großmutter, an all die Fragen, die ich ihnen nicht mehr stellen kann. Und wie sehr ich mich gefreut hätte, wenn sie von sich aus mehr erzählt hätten. Und dass ich, wenn meine Enkelinnen und Enkel bei mir in der Wohnung sitzen, ja auch einmal die Kiste mit den Fotos hätte herausholen und ihnen das Bild zeigen können, auf dem ich auf meinem Abschlussball tanze. Kein langweiliger Dia-Abend, sondern eine ehrliche Einordnung dieser verdammt aufregenden Jugendzeit. Ich hole das nach, versprochen.