Mein Urenkel geht nicht gerne in Restaurants. Das ist nachvollziehbar, er ist ja gerade erst zwei Jahre alt. Die Begeisterung wird schon noch wachsen. Aber gerade bedeutet auswärts essen für ihn nur, dass er lange still sitzen und warten muss. Ich fände das ja auch langweilig als Kleinkind. Als wir vor kurzem im Restaurant waren, lutschte er an zwei Frühlingsrollen und war satt. Danach sank seine Stimmung kontinuierlich. Also musste Uromi Mechthild aktiv werden. Ich verzog im Restaurant mein Gesicht zu Grimassen, steckte ihm die Zunge raus, bis der Kleine lachte und gluckste.
Ich weiß, dass ich das bei meinen eigenen Kindern niemals gemacht hätte. Damals dachte ich noch, dass ich als Mutter über so einer Situation stehen, sie ruhig und entschieden klären können muss. Aber seit ich Urgroßmutter bin, merke ich, wie sehr sich meine Rolle für die Erziehung des Kindes geändert hat. Man kann es wohl so zusammenfassen: Eltern müssen im entscheidenden Moment streng sein. Großeltern müssen schon viel weniger Regeln aufzeigen. Und Urgroßeltern? Dürfen quasi alles.
Ich bin eine Schönwetteruroma, die einfach nur dafür zuständig ist, dem Kind eine schöne Zeit zu bereiten. Es ist eine dankbare Aufgabe. Und mir fällt es auch viel leichter, in anstrengenden Situationen die gute Laune zu behalten, weil ich ja – anders als die Eltern – die Urenkel und Enkel für viel kürzere Zeitspannen betreue. Denn so schön das Elterndasein ist: das wirklich schlauchende ist doch, 24 Stunden, sieben Tage die Woche die Verantwortung dafür zu tragen, dass alles läuft. Alle großen und kleinen Krisen lösen zu müssen. Nachts aufstehen zu müssen, immer etwas müde zu sein.
Ich hingegen habe selbst bei meinen Enkeln all das nicht mehr gehabt. Ich war nur noch vorübergehend zuständig, für ein paar Stunden oder für eine Nacht, aber wusste immer, dass ich spätestens am nächsten Tag wieder ein Mittagsschläfchen machen kann. Das ist ein großer Unterschied, der half, die Nerven zu behalten, wenn meine Enkel nicht ins Bett oder unbedingt noch einen Kakao wollten. (Ich löse dafür kein Pulver, sondern frische Schokolade in Milch auf, entsprechend geliebt haben meine Enkel den Kakao.)
Wenn man sich allerdings immer nur für eine kürzere Zeit um das Kind kümmert, ergibt sich auch eine gewisse Gefahr: Kinder versuchen, aus der neuen Situation Vorteile für sich zu schlagen. Man kann es vielleicht als die Scheidungskindertaktik zusammenfassen. Ich habe die Taktik früher selbst sehr kompetent angewendet, weil ich wusste, dass meine Eltern sich sehr schlecht absprachen. Wenn ich mit 15 Jahren auf ein Tänzchen – so hießen früher die Abende, an denen Jugendliche zum Tanzen einluden – gehen wollte, fragte ich immer zuerst meine Mutter, die sagte: »Ich erlaube es dir, wenn dein Vater auch zustimmt.« Dann lief ich zu meinem Vater und fragte: »Darf ich heute Abend ausgehen? Mama hat nichts dagegen.« Die entscheidende Info, den Halbsatz »wenn es für dich auch in Ordnung ist«, ließ ich natürlich weg. Es klappte jedes Mal.
Meine Enkelkinder hofften natürlich auch, dass ich nicht wusste, wie wenig Süßigkeiten sie eigentlich essen und wie früh sie ins Bett gehen sollten. Aber weil ich eine Expertin für diese Taktik bin, hatten sie bei mir keine guten Chancen. Ich sprach einfach viel mit ihren Eltern darüber, welche Regeln bei ihnen gelten und ob es in Ordnung ist, dass ich manche Regeln als Großmutter (Stichwort Kakao nach dem Abendessen) etwas weniger streng handhabe. Sobald ich die Zustimmung zu Kakao und längerer Vorlesezeit hatte, konnte ich es mit gutem Gewissen machen. Denn ich denke auch, dass kleine Kinder verstehen, dass in verschiedenen Situationen unterschiedliche Regeln gelten. Dass es bei mir Kakao gibt, aber zu Hause eben nicht jeden Abend.
Ich genieße es, die Regeln etwas großzügiger auslegen zu können. Denn ich will, dass meine Enkel sich gerne an die Stunden bei mir erinnern. Dass sie meine Wohnung als einen magischen Ort im Kopf behalten, wo es frischen Kakao, eine Kinderbuchvorleserin mit Ausdauer und ein tolles altes Puppenhaus gibt und sich alles immer sehr warm und geborgen anfühlt.
Als Großmutter weiß ich, dass ich meine Enkel und Urenkel nicht ihr Leben lang begleiten kann. Ich werde bald sterben, nur ob sehr, sehr bald oder langfristig bald steht nicht fest. Deswegen will ich schöne Erinnerungen in ihrem Leben schaffen. Ich hoffe, dass sie in den Stunden mit mir immer merken, wie sehr ich sie liebe. Ich weiß, dass mein Urenkel noch zu klein ist, um sich später daran zu erinnern, wie ich ihm im Restaurant die Zunge gezeigt habe, um ihn von seiner Langeweile abzulenken. Aber falls er das hier eines Tages liest: Ich würde alles machen, um dich zum Lachen zu bringen, Kleiner.