Es ist nie zu spät

Die beste Phase des Lebens ist im Alter vorbei? Ganz sicher nicht. Unsere Senioren-Kolumnistin über ihren ersten Burger – und das Abenteuer, das im Alltag steckt.

Illustration: Nishant Choksi

Der Burger liegt vor mir auf einer Platte. Aber wie soll ich ihn bitte essen? Am Nachbartisch hält ihn der Mann einfach in den Händen und beißt hinein. Die Zwiebel aus seinem Burger rutscht dabei auf den Teller. Nein, so will ich in der Öffentlichkeit nicht gesehen werden. Ich schiele rüber zu meiner Enkelin. Sie löst die Aufgabe deutlich eleganter und schneidet sich mit dem Besteck Stückchen aus dem Burger wie ein erfahrener Chirurg. Das kriege ich hin. Messer ansetzen, Gabel in den Mund.

Wie unglaublich köstlich. Wie kann es sein, dass ich 78 Jahre gelebt habe, ohne einen Burger zu essen? Was für eine Verschwendung von Lebenszeit.

Aber es hat etwas Gutes, dass ich mit 78 Jahren meine Burger-Premiere feiere. Denn durch München zu schlendern und mit meiner Enkelin zu beschließen, dass es Zeit geworden ist, dass ich endlich meinen ersten Burger probiere, zeigt, dass es noch so viel gibt, das ich noch entdecken kann.

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Es gibt in meinem Alter eine große Gefahr. Das Jammern. Viele meiner Altersgenossen tun es ununterbrochen. Entweder es geht um ihre Gesundheit – oder darum, dass die beste Zeit ihres Lebens vorbei ist. Ich nenne diese Form des Jammerns das »Nie wieder«-Mantra. Weil die Sätze, die meine Bekannten sagen, immer gleich anfangen. Nie wieder werde ich dies tun können, nie wieder jenes.

Ich verstehe sie ja. Älter zu werden bedeutet vor allem, dass sich immer mehr Türen im Leben schließen. Dass man realisiert, dass die Alpenüberquerung, die man gerne mal gemacht hätte, wirklich vom Tisch ist. Keine Chance mehr.

Aber das hilft dem Lebensglück nicht unbedingt. Sich darauf zu konzentrieren, wie schön alles hätte sein können und was alles nicht mehr geht, zerstört die guten Momente des Tages. Und das fängt nicht erst im hohen Alter an: Auch ein Dreißigjähriger macht sich unglücklich, wenn er sich nur vorhält, dass er mit seinem festen Familienleben keine Zeit mehr hat, jeden zweiten Abend mit Freunden am Fluss zu sitzen und Weißwein zu trinken.

Manchmal spüre ich, dass ich kurz davor bin, einen »Nie wieder«-Satz zu sagen. Aber ich habe mir schon vor Jahren eine Regel überlegt: Wann immer ich unzufrieden bin, was ich alles nicht mehr wiederholen kann, überlege ich, was ich alles noch nie gemacht habe und was ich alles noch entdecken kann. Die Liste ist lang.

Bis ich mit meiner Enkelin nach Rom fuhr, hatte ich noch nie das Kolloseum gesehen. Bis ich mir ein iPad gekauft habe, hatte ich nicht gewusst, dass ich mit meinem Enkel, der in Kolumbien lebt, über Skype sprechen und ihn dabei sehen kann. Und bis ich mich getraut habe, meinen ersten Burger zu essen, hatte ich nicht gewusst, wie großartig ein belegtes Brötchen schmecken kann.

All diese Eindrücke sind mehr wert, als es vielleicht im ersten Moment klingt.  Denn sie zeigen, wie viel Abenteuer im Leben eigentlich steckt. Jeden Morgen kann ich aufstehen und etwas Neues lernen.

Ich gehe am Morgen gerne schwimmen. Richtig gut bin ich trotzdem nicht darin, ich bin Brustschwimmerin, ausdauernd, aber schlecht. Auf der Bahn neben mir war oft derselbe Mann, ein junger Student, der richtig gut kraulen kann. Ich war neidisch, mir hat das nie jemand beigebracht. Irgendwann nahm ich meinen Mut zusammen und fragte den Studenten, ob er bereit wäre, mich zu unterrichten. Jetzt treffen wir uns alle paar Wochen, ich versuche das mit der Atmung hinzukriegen, schlucke jede Menge Wasser, pruste, aber das ist alles egal. Ich lebe.