Der Chef war irritiert. Warum laberte ich ihn so voll? John, so hieß der Gruppenleiter einer Videospielfirma in London, hatte mich an meinem ersten Morgen als Aushilfs-Produkttester gefragt: »Hi, Marc, how are you?« Für mich, Student im Auslandssemester, erst zwei Wochen in England, hieß das übersetzt: »Wie geht es dir?« Also antwortete ich. Sehr ausführlich. Ich erzählte: »400 Pfund Miete für ein Zimmer sind doch Wucher … Bauarbeiter haben mich um 6.30 Uhr aus dem Schlaf gehämmert … Mein linkes Bein tut vom Fußballspielen im Park weh und …« Ein Telefon klingelte, John rief »Oh, für mich!« und ging schnell weg. Es war nicht sein Apparat, wie ich später merkte.
Der nächste Morgen. John sah mich verschlafen an, fragte abwesend »Hi, Marc, how are you?«, stockte aber schon beim Wort »how«, er ahnte, was jetzt kommen würde. Ich erzählte und erzählte und … »Marc!«, unterbrach mich John. Er erklärte mir, »How are you?« sei keine Frage. Das würden Engländer so dahinsagen wie Deutsche ein »Hallo«. Ich solle künftig einfach »Fine, how are you?« antworten, und fertig.
Von da an sagte ich jeden Morgen brav »Fine. How are you?« zu John. Mein Cousin starb in dieser Zeit bei einem Autounfall. Er war Anfang zwanzig. Am Morgen nach der schlimmen Nachricht aus Deutschland sagte ich: »Fine. How are you, John?« Sagt man halt so, nur eine Redewendung, verstanden. Aber es fühlte sich sehr seltsam an.
Als Vater verbringe ich gerade viel Zeit auf Spielplätzen in München. Die Kinder toben durch den Sand oder über Klettergerüste, die Eltern stehen rundherum und halten Small Talk. Man kennt sich vom Sehen und mag den anderen dafür, dass sein Kind mit dem eigenen Kind spielt. Eine Frage, die ich dort sehr oft höre, meistens unter Müttern, lautet: »Mensch, schön, dich mal wieder zu sehen! Na, geht's euch gut?«
Ich finde »Na, geht's euch gut?« noch verkehrter als »How are you?«. Denn »Geht's euch gut?« gibt schon vor, dass es einem gut zu gehen hat. Und die Antwort »Nein, mir geht es gerade schlecht« ist nicht als Option mitgedacht oder erwünscht. Ernste Problemgespräche sind unter Spielplatzbekanntschaften, am Zaun des Kindergartens oder an der Kasse im Supermarkt ja auch unpassend. Dann würden die meisten nur erschrocken »Das tut mir leid« stammeln und verlegen das Weite suchen. Ich habe das übrigens ausprobiert.
Auf einem großen Flohmarkt auf der Theresienwiese in München lief mir ein Bekannter vom Sport über den Weg, den ich lange nicht gesehen hatte. »Na, geht's dir gut?«, fragte er. Ich sagte: »Mein Vater ist gestorben.« (Das stimmt, ist aber 25 Jahre her.) »Oh«, nuschelte der Bekannte, »furchtbar …« Dass er überfordert war, verstehe ich. Er tat mir natürlich ein bisschen leid, aber er musste mich ja nach meinem Befinden fragen.
Zugegeben, ich bin bei der Frage empfindlich. Weil dahinter eine Art steckt, die Welt zu sehen, sie straffzuziehen, sie noch oberflächlicher zu machen. Nach außen hin wirkt eine Stadt wie München, als wären alle Menschen darin glücklich, wohlhabend, verliebt, gesund. Und auf Facebook sind alle im Urlaub oder feiern berufliche Erfolge. Aber das Leben ist ja nicht ganz so. In meinem Bekanntenkreis haben zwei junge Mütter Krebs, ein Vater trennt sich von seiner Frau und bangt, wie oft er seine Kinder künftig sehen wird, Paare fragen sich, ob sie sich München noch leisten können, einer hasst seinen Job, eine befürchtet mit Mitte vierzig, nie den Mann fürs Leben zu finden, einer pflegt seinen neunzigjährigen Vater zu Hause, bei anderen wird das Kind in der Schule gemobbt.
Na, geht's denen gut? Nee, grad nicht so.
Auch ohne Schicksalsschläge ist das Leben eher Achterbahn als Zeppelinflug, eher Dienstagmorgen als Samstagabend. Darum zwingt einen die Frage »Na, geht's euch gut?« regelmäßig zur Lüge. Denn der erwünschte Zustand ist: immer super drauf sein. Ich finde: Deutschland grinst zu viel.
»Na, geht’s gut?« ist nicht mal böse gemeint, die Frage ist wohlwollend und hofft auf ein: »Ja, alles toll« als Antwort – es ist tatsächlich so etwas wie die deutsche Variante des »How are you?« geworden. Ist ja auch schön, wenn es allen gut geht. Es ist nur wichtig, dass es einem auch schlecht gehen darf. Dass man sich nicht obendrein noch schämt dafür, oder es versteckt, mal länger als einen Tag und ein »Wird schon!«-Schulterklopfen lang krank, traurig oder in einer Krise zu sein. Können wir einander etwas weniger fragen, wie es uns geht, und dafür etwas mehr darauf achten, wie es anderen wirklich geht?
Man kann doch »Schön, dich zu sehen« sagen, das ist nett – und wenn es gelogen ist, lügt man wenigstens freiwillig, statt zur Unwahrheit genötigt zu werden. Man kann auch zu bewährten Small-Talk-Klassikern greifen: »Endlich wieder Sonne / Tolle Tasche, wo gibt es die? / Fußball war echt spannend.« Oder man sagt einfach: »Hallo«.