Sie und ich leben in Zeiten eines neuen Wir-Gefühls. Das zeichnete sich schon vor einem Jahr ab, als die SPD mit ihrem Slogan »Das Wir entscheidet« immerhin 25,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht abschrecken konnte. Und spätestens seit wir Weltmeister sind, ist klar: Wir sind wieder wir.
Das Wesen des »Wir« kennen wir alle aber nicht nur aus der Politik oder dem Sport, sondern vor allem aus der Paarbeziehung. Und aus unseren Erfahrungen wissen wir: Es ist ein mächtiges Wort, und man darf ihm nie trauen, es ist wie ein Gesicht mit tausend Masken. In der Liebe wird das Wörtchen oft benutzt, um Gemeinsamkeiten zu betonen, auch oft, um Unterschiede zu verwischen – und besonders gern, um Verantwortung abzuwälzen.
Die erste Person Plural fängt dabei harmlos an. Am Anfang einer Beziehung ist »wir« tatsächlich ein Ausdruck von Zuneigung, es umgrenzt so eine Art Liebeskleingarten, in dem man ein besseres und innigeres Leben führt als der versprengte Rest der Welt. Man merkt es als Unbeteiligter, wenn man den Kollegen oder die Freundin fragt: »Was hast du am Wochenende gemacht?«, und plötzlich keine individuelle Antwort mehr bekommt: »Wir waren super schön essen«, »Wir haben den ganzen Tag im Bett gelegen«. Vor allem der zweite Satz unterscheidet sich fundamental von »Ich habe den ganzen Tag im Bett gelegen«, man hört förmlich die Federn quietschen. Selbst eine an und für sich banale, fast deprimierende Auskunft über die Wochenendeinkäufe bekommt durch das »wir« etwas leicht Süßliches: »Ich war im neuen Baumarkt« klingt pragmatisch bis resigniert, »Wir waren bei Ikea« klingt nach Händchenhalten, Lebensplanung, Küchenabteilungszank und Versöhnungsknutschen vor der Kasse.
Die einschließende und abgrenzende Funktion des Wir verschärft sich, wenn man beide Partner im Gespräch direkt vor sich hat. Man redet übers Kino, und sie sagt: »Also, wir fanden Boyhood magisch.« Er nickt. Es mag stimmen, aber, liebe Paare, das ist wirklich viel langweiliger, als wenn jeder für sich antwortet. Wenn ihr immer »wir« sagt, macht ihr euch zur zwischenmenschlichen Geschmacks- und Weltsicht-Einheit, und das wollt ihr womöglich sogar, aber ihr macht damit das Leben auch deutlich uninteressanter, als es ist. Wir haben ja begriffen, dass ihr ein Paar seid. Wenn Paare »wir« sagen, ist das immer ein bisschen Angeberei, Über-betonung der vollkommenen Privat-Utopie, die man sich zu zweit erschafft; aber vielleicht wird es auch benutzt aus Angst, den anderen irgendwie hängenzulassen oder den Eindruck von Illoyalität zu erwecken, wenn man plötzlich »ich« oder »du« sagt.
Besonders deutlich wird das an der übereifrigen Formulierung »Wir sind schwanger«, die ja naturwissenschaftlich gesehen Unfug, aber geläufig ist; sogar ein Buch und ein Blog heißen so. »Wir sind schwanger«, damit ganz klar ist: Ich zieh’ das hier nicht alleine durch.
Der Schlüssel zum Verständnis einer längeren Partnerschaft aber ist, wer wann »Wir« und wann »Ich« sagt. Man kann das lesen wie einen Code, bei dem es immer um Machtverteilung geht. Jeder Satz, der in einer Beziehung mit »Wir müssen mal …« beginnt, bedeutet übersetzt: »Kannst du mal bitte, und zwar pronto . . ?« Also etwa: »Wir müssen endlich mal den Router so einrichten, dass er alle Geräte erkennt« bedeutet: Dein nächstes Wochenende wirst du am Telefon mit mehreren Hotlines verbringen. Hier wird im Grunde, gender-unabhängig, die utopische Einheit des frühen »Wir« ausgenutzt, um kleine und mittlere Aufträge im Haushalt zu verteilen: »Wir haben schon so lange nicht mehr deine herrlichen Involtini gekocht.« Schon klar.
Noch deutlicher aber zeigt sich die Gestalt einer Beziehung am Einsatz der besitzanzeigenden Fürwörter: Unser Kind ist so wahnsinnig groß geworden, deine Tochter liegt den ganzen Tag im Bett und telefoniert. Die Rede ist vom selben Mädchen, aber diesmal wird das »dein« genutzt, um dem anderen einen Erziehungsauftrag unterzujubeln: Wir müssen dringend mit ihr über Telefonzeiten reden. Also mach du mal.
Meistens geht es bei »mein«, »dein« oder »unser« allerdings um Gegenstände. Statt von besitzanzeigenden Fürwörtern sollte man vielleicht von »verantwortungsabwälzenden Fürwörtern« sprechen. In der Phase nach dem Zusammenziehen lässt sich damit leicht passiv-aggressiv die Unzufriedenheit über Klein- und Großmöbel ausdrücken, die der andere irgendwie doch in die gemeinsame Wohnung gekriegt hat: »Wie oft soll ich mir eigentlich noch an deiner Lampe den Kopf stoßen« (Betonungshilfe: ohne Fragezeichen sprechen). Später ist interessant, wie und wem der gemeinsam erworbene Besitz zugeordnet wird. Eher prosaische Gegenstände bekommen dabei gar kein Fürwort: Niemand sagt »mein Klodeckel« oder gar »unser Klodeckel«, das ist einfach »der«. Wir müssen nur daran denken, ihn runterzuklappen. Verstehe. Beim Auto ist es »unser«, solange beide drinsitzen, doch sobald der andere nicht mehr in Sichtweite ist, wird es »mein Auto« (bis man einen Blechschaden hat: »Ich habe unser Auto zu Schrott gefahren«). Wobei von Eltern und Schwiegereltern prinzipiell alle technischen Geräte, die nicht im weitesten Sinne mit Hygiene zu tun haben, gern dem Mann im Paar zugeordnet werden: »Sohn, bist du noch zufrieden mit deinem Auto?« Dies über eine fünfsitzige Familienkutsche mit Dachsarg und Hello-Kitty-Aufklebern an der Innenseite der Fenster.
Jedenfalls kommt immer eine seltsam unscharfe Botschaft dabei heraus, wenn man »wir« sagt. Das Wir-Gefühl ist eins, das wohl einfach gefühlt und nicht dauernd ausgesprochen werden sollte. Wir waren ja in Wahrheit damals auch gar nicht Papst, zumindest ich ganz bestimmt nicht. Beim Wir-Sagen rührt man so eine süßliche Sauce an, die beim Kaltwerden stockt und die kleinen Risse und Brüche verdeckt, die das Leben an sich und als Paar überhaupt erst interessant machen. Zu viel von der Sauce, und eines Tages hört man sich sagen: »Also, wir fanden die Paartherapie nicht so magisch.«
Illustration: Bendik Kaltenborn