Seit 24 Jahren liegt er im Sterben und lebt immer noch. Er ist eine Legende. Sein Name ist Craig Shergold, und jeder, der einen E-Mail-Eingang ohne Spamfilter besitzt, kennt seine Geschichte: Ein krebskranker Junge will einen letzten Wunsch erfüllt sehen, bevor er stirbt – so viele Genesungskarten zu erhalten, dass er ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen wird. Diese Geschichte ist ein modernes Märchen, und sie handelt von einem Wunder, das zum Fluch wird.
Im Jahr 1989 liegt ein neunjähriger Junge auf der Krebsstation des Londoner Great Ormond Street Hospital. Sein Kopf ist kahl geschoren, eine frische Narbe zieht sich von Ohr zu Ohr. Die Ärzte haben versucht, ein Geschwulst aus seinem Gehirn zu schneiden, aber der Tumor hatte schon die Größe einer Orange. Um ihrem Sohn Mut zu machen, bittet Marion Shergold alle Bekannten, ihm Genesungskarten zu schreiben. Erst sind es keine 30 Stück. Dann über hundert. Bald sind die Wände des Krankenzimmers bis zur Decke mit Karten bedeckt. Ein Chirurg sagt im Spaß, dafür sollte sein kleiner Patient ins Guinness-Buch aufgenommen werden. Die Idee ist in der Welt.
Anfangs tragen nur Freunde der Familie das Anliegen weiter – per Telefon. Guinness wird kontaktiert. Das Krankenhaus sagt Hilfe zu. Boulevard-Medien springen auf die Geschichte an. Innerhalb einer Woche erreichen Craig 64 000 Karten. Als eine große Zeitung eine Genesungskarte zum Ausschneiden abdruckt, komplett mit Adresse, klingelt der Leiter des Postamts von Carshalton im Süden Londons bei den Shergolds: Ob sie wüssten, auf was sie sich da einlassen?
Der Briefträger bringt zu diesem Zeitpunkt nur noch die Post für die Nachbarn der Shergolds. Die Post für Craig bringt ein Lieferwagen. Auch Guinness macht einen Versuch, den Sturm zu stoppen: Man werde keinen Rekord anerkennen. Eine Unterhändlerin erklärt der Mutter, man habe Sorge, dass die Sache außer Kontrolle gerate und jemand einen Nervenzusammenbruch erleide. Marion Shergold ist Mutter von zwei Söhnen, arbeitet, meistert einen Haushalt. »Was wissen die von Nervenzusammenbrüchen?«, sagt sie. »Ich habe jeden Monat einen.«
Inzwischen reicht das schmale Reihenhaus der Shergolds nicht mehr aus, alle Post zu lagern und auszuzählen. Marion Shergold aktiviert Kaffeekränzchen und Kirchengemeinde. Als das nicht genügt, Pfadfinder und Fußballverein. Die Genesungswünsche kommen aus aller Welt. Die Post ist gezwungen, Craig eine persönliche Postleitzahl zuzuweisen. Ausgezählt werden die Briefe von einer Armee an Freiwilligen. Marion Shergold stellt beschriftete Schachteln auf, um den Inhalt der Briefe wenigstens grob zu sortieren: »Geld« (geht an die Krebsforschung), »Geschenke« (Stofftiere/Maskottchen), »Berühmt« (Schreiben von Prominenz), »Lustig« (Dinge, die Craig zum Lachen bringen sollen) und »Heilig« (jede Art von religiösen Artefakten).
Craig Shergold bekommt Karten von Michael Jackson, Michail Gorbatschow, Sean Connery, den Rolling Stones, Ronald Reagan, Arnold Schwarzenegger, Madonna und den englischen Erstliga-Teams. Von der Osterinsel erreicht ihn eine Genesungs-Kokosnuss, aus Berlin ein Stück der Mauer. Literweise Weihwasser aus Lourdes, heilige Asche aus Indien, Bibeln und Buddha-Figuren sowie ein Stück Teppich, über das der Papst geschritten ist. Und Wunderkuren: Flaschen mit roter Flüssigkeit, Seetang und unbestimmbare, in Alkohol eingelegte Pilze, mit Zettel daran: »Das wird ihn heilen.« Auf einmal ist das Telefon abgestellt. Die Rechnung und alle Mahnungen waren in der Flut der Post untergegangen. Bis zum Mai 1990 bekommt Craig Shergold 16 250 292 Genesungswünsche – Rekord. Guinness hat unter dem Eindruck der Geschehnisse nachgegeben. Die Urkunde schicken sie nicht. Sie überbringen sie. Auch den Brief, der das Leben ihres Sohnes retten wird, entdeckt Marion Shergold nur, weil er nicht mit der Post kommt, sondern per Kurier.
Der amerikanische Milliardär John W. Kluge schreibt, Craig brauche keine Karten, sondern eine erstklassige Behandlung. Er bezahlt die OP, es gelingt, den Tumor zu entfernen. Craig Shergold ist geheilt. Die Genesungswünsche kommen weiter. Nicht nur für ihn, sondern auch für Craig Sheford, Craig Shelford, Greg Sherold, Craig Shirgold, Craig Shepherd, Greg Sherwood, John Craig und Craig John, alle wohnhaft an seiner Adresse. Im März 1991 ist die Zahl der Briefe auf über 33 Millionen gestiegen. Jemand hat Craigs Wunsch zu einem Kettenbrief umgeschrieben, der sich besonders schnell auf einem neuen Weg verbreitet: dem Internet. Jetzt wird das Wunder eine Epidemie.
1993 berechnet die Post, 100 Millionen Sendungen zugestellt zu haben. Guinness streicht den Rekord und die Kategorie der meisten Postkarten gleich mit. Die Shergolds treten im Fernsehen auf und flehen, keine Karten mehr zu schicken. Vergebens. Längst ist Craig Shergold eine Legende des Internets – er ist der »cancer boy«, der kleine Bub mit Krebs. Craigs Geschichte wird zum Muster der Tränendrüsen-Mails, die um Hilfe für ein krebskrankes Baby oder ein Mädchen mit Leukämie betteln.
Ende der 1990er-Jahre, Craig ist 20, wird die Gesamtzahl der Karten auf 250 Millionen geschätzt. »Wir sind schrecklich dankbar für die Briefe«, erklärt Marion Shergold. »Aber wir wollen unser normales Leben zurück.« Die letzte bekannte Schätzung ihrer Menge stammt von 2007 und liegt bei über 350 Millionen Karten. Sie erreichen ihren Adressaten schon lange nicht mehr. Craig Shergold, 33, zuletzt wohnhaft in der Selby Road, Carshalton, SM5 Greater London, ist unbekannt verzogen.
Foto: Markus Burke